Von Gregor Amelung
Obwohl die Politik bei ihrem teils aggressiven Werben um »Impfunwillige« den Eindruck vermittelt, dass nur Ungeimpfte im kommenden Herbst/Winter mit Einschränkungen zu rechnen haben, liest sich ein Strategie-Papier des Robert Koch-Instituts völlig anders.
Das Dokument mit dem unverfänglichen Dokumenten-Namen »Vorbereitung-Herbst-Winter.pdf« vom 22. Juli 2021 trägt die Überschrift »Vorbereitung auf den Herbst/Winter 2021/22«. Kern des 10-seitigen Papiers ist eine Modellierung der sogenannten »Vierten Welle«. Um deren Verlauf nicht falsch zu verstehen, betont das RKI vorsorglich auf Seite 1: »Die Szenarien in den Modellrechnungen sollten nicht als Vorhersage interpretiert werden, sondern dienen der Illustration möglicher Szenarien, die verdeutlichen, warum eine Vorbereitung auf den Herbst und Winter 2021/22 nötig ist.«
Das klingt erstmal einleuchtend, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung aber als semantischer Hütchentrick. Denn die »Szenarien« sind vom RKI als »Impfquote: 75 Prozent«, »Impfquote: 85 Prozent« und »Impfquote: 95 Prozent« präzise ausgewiesen. Und da sie auf dem Datenmaterial des RKIs basieren, darf man sie – ähnlich wie an einem Wahlabend – schon als »Prognose« begreifen. Alles andere würde ja im Umkehrschluss bedeuten, dass das RKI, dessen Kernkompetenz die Überwachung von Corona ist, entweder nicht die Kompetenz hat oder nicht über die nötigen Daten verfügt, um eine ernstzunehmende Vorhersage treffen zu können.
Inzidenz-Wert von über 400 im Dezember 2021
In der »Modellierung« für die kommenden Monate kommt das RKI zu dem Ergebnis, dass bei einer Impfquote von 75 Prozent die 100er-Messlatte der 7-Tage-Inzidenz von Ende Oktober 2021 bis Anfang Februar 2022 deutlich gerissen wird. Der Peak wird im Dezember 2021 mit einer Inzidenz von über 400 erreicht. Zeitlich leicht versetzt würde es für etwa 6 Wochen zu über 20.000 COVID-19-Hospitalisierungen kommen. Rund 11.000 mehr als im vergangenen Winter. Von den stationär Versorgten müssten knapp 7.000 intensiv-medizinisch betreut werden. Über 1.000 mehr als in der Spitze im vorigen Winter.
All das würde unter folgenden Basisvoraussetzungen geschehen: Das »prä-pandemische Kontaktverhalten« der Bevölkerung, also unser früheres »Normal« definiert das RKI mit »15,5 Kontakten pro Person pro Tag«. Am 1. August 2021, also ganz aktuell, liegt unser »Kontaktverhalten« laut der Modellrechnung bei 75 Prozent des früheren »Normal«. Es ist also bei den zuvor beschriebenen Spitzen Mitte Dezember 2021 (bzw. zwei Monate nach Beginn der »Vierten Welle«) bereits um ein Viertel reduziert.
Empfohlene Basismaßnahme AHA + A + L
Entsprechend heißt es auch unter Punkt 3.3.1: »Das RKI empfiehlt grundsätzlich, dass die Basismaßnahmen bis zum nächsten Frühjahr eingehalten werden (…) Insbesondere wenn suszeptible [= empfängliche, nicht-resistente] Personen anwesend sind, sollte in Innenräumen AHA+A+L (bsp. bei Veranstaltungen, ÖPNV) eingehalten werden.« Und das gilt für alle. Sowohl für Geimpfte als auch für Ungeimpfte.
Selbst unter dieser Voraussetzung und einer für Impfstrategen geradezu traumhaften Quote von 95 Prozent beträgt der prognostizierte Inzidenzwert in der Spitze immer noch über 200 und sein Kurvenverlauf ist in etwa mit dem aus dem vergangenen Winter 2020/21 identisch. Damals wurde am 24. Dezember 2020 der Höchstwert von 217 gemessen. Auch auf die Kurve der stationär versorgten COVID-19-Patienten wirkt sich eine 95-prozentige Impfquote nahezu nicht aus. Lediglich in der Intensiv-Medizin würde eine zu 95 Prozent durchgeimpfte Bevölkerung zu einer Entspannung führen, da der Peak der Intensiv-Betten-Belegung von 5.745 Patienten am 3. Januar 2021 auf knapp die Hälfte gedrückt würde.
Überraschende Neubewertung der Impfstoffwirksamkeit
Hieraus lässt sich einmal eine Neubewertung der Wirksamkeit der Corona-Impfstoffe ableiten, die überraschend ist. In den Monaten November 2020 bis Februar 2021 hatte beispielsweise Tagesschau.de die Wirksamkeit des BioNTech-Vakzins von Pfizer mit 95 Prozent angegeben. Noch weiter als die ARD ging das ZDF. Dort hieß es am 20. Februar 2021: »BioNTech-Impfstoff zu 96 Prozent wirksam«.
Wer damals nur die Überschriften gelesen hatte, musste annehmen, dass sich das – ganz oder teilweise – auch auf die Wirksamkeit bei Ansteckungen, Viruslast-Reproduktion und Übertragung beziehen würde. Zumal das Bundesgesundheitsministerium die Corona-Impfungen recht eindeutig bewarb. Zum Beispiel mit Uschi Glas: »Corona – Das ganze Leben verschwindet. Meinen Enkel habe ich seit über einem Jahr nicht im Arm gehabt. Deshalb lass’ ich mich impfen. Mit einem kleinen Pieks holen wir unser Leben zurück.«
»Mit einem kleinen Pieks holen wir unser Leben zurück«
Hier war die Information eigentlich eindeutig, denn die Schauspielerin stand in dem Werbespot in einem leeren Theater ohne Zuschauer; somit musste man unter »unser Leben zurückholen« ganz automatisch verstehen, dass nach dem »kleinen Pieks« eben dieses Theater wieder genauso gefüllt sein würde wie vor der Pandemie. Und damit folgerichtig auch Fußballstadien, Diskotheken und Konzerte. Alle gefüllt und frei zugänglich ohne Hygiene-Regeln, ohne Abstands-Gebot und ohne Maske. Das war die Aussage hinter dem »Impfangebot« von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.
Der Deal war nicht, sich lediglich gegen schwere COVID-Verläufe und den Aufenthalt auf einer Intensivstation zu schützen, sondern der Deal war: Wir holen uns »unser Leben zurück«. Und darunter waren nicht 75 Prozent des »prä-pandemischen Kontaktverhalten« zu verstehen, sonst hätte man Spahns Werbespots eine entsprechende Tafel mit dem Kleingedruckten wie beim Leasing eines Autos anhängen müssen. Was nicht geschehen war.
»COVID-Impfstoff nur zu 39 Prozent wirksam«
Trotzdem waren die Wirksamkeitsangaben zu den Corona-Impfstoffen bereits damals – eher heimlich, still und leise – in den Keller gerauscht, wie Reitschuster.de berichtete. So las man etwa am 23. April 2021 bei Tagesschau.de: »Unabhängig vom Impfstoff – BioNTech/Pfizer oder AstraZeneca – sank das Risiko für eine Coronavirus-Infektion drei Wochen nach der Impfung… um 65 Prozent, wie die Universität [Oxford] mitteilte.« Drei Wochen später erklärte dann der BR-Faktenfuchs (12.05.): »Laut einer israelischen Studie ist das Risiko, sich zu infizieren, zwei bis drei Wochen nach der Erstimpfung mit dem Biontech/Pfizer-Impfstoff um 46 Prozent geringer.« Das waren mal eben minus 19 Prozent in nur 19 Tagen.
Ende vergangener Woche (23.07.) titelte der US-Nachrichtensender CNBC: »Daten aus Israel: Wenn sich Delta ausbreitet, ist der Pfizer-COVID-Impfstoff nur zu 39 Prozent wirksam. Dennoch verhindert der Impfstoff schwere Erkrankungen.« Die Nachricht kam zwar noch am selben Tag auf Spiegel.online, hat sich aber bis heute nicht bis zu ARD und ZDF rumgesprochen.
RKI korrigiert sich im neuen Papier selbst
Auch das RKI gibt unter »COVID-Impfen / FAQ« immer noch an: »In der Summe ist… das Risiko einer Virusübertragung stark vermindert. Es muss jedoch davon ausgegangen werden, dass einige Menschen nach Kontakt mit SARS-CoV-2 trotz Impfung (asymptomatisch) PCR-positiv werden und dabei auch infektiöse Viren ausscheiden.«
Im starken Kontrast zu dieser RKI-Antwort stehen die Zahlen der Modellierer. Denn sie kommen für den Winter 2021/22 bei einer Impfquote von 95 Prozent nicht etwa auf »einige Menschen«, sondern in der Spitze auf über 3.000 COVID-19-Fälle in intensiv-medizinischer und rund 10.000 in stationärer Behandlung. Insofern ist die deutlich geringere Wirksamkeit der Corona-Impfstoffe bei der Transmission des Virus nun auch offiziell im RKI ankommen. Die bittere Erkenntnis auf die immer noch nicht geimpften restlichen 5 Prozent der Bevölkerung und die ungeimpften Kinder unter 12 Jahren, die etwa 11,8 Prozent der Bevölkerung ausmachen, argumentativ abzuwälzen, taugt lediglich für Talkshows mit Karl Lauterbach als Gast.
Reduktion des »Kontaktverhaltens« gefordert
Damit die Berechnung nicht Realität wird, empfiehlt das Strategie-Papier des RKI ab dem 1. Oktober 2021 (bzw. zum Beginn der »Vierten Welle«) eine »Reduktion des Kontaktverhaltens« um 10 Prozent. Gefolgt von einer weiteren Reduktion einen Monat später um 30 Prozent. Denn »schon eine Verhaltensänderung der Bevölkerung« – also aller, der Geimpften und der Ungeimpften – »über eine Kontaktreduktion von 10 Prozent am 01.10. sowie von 30 Prozent Reduktion am 01.11. hat im Modell eine erhebliche Auswirkung auf die ITS-Auslastung [ITS = Intensiv-Therapie-Station]«.
Präsentiert wird die wegweisende Modellrechnung in drei Kurven für die zu erwartende 7-Tage-Inzidenz, die stationär und die intensiv-medizinisch versorgten COVID-19-Fälle. Dabei stehen die unterschiedlich blauen Kurven für die Impfquoten 75 Prozent, 85 Prozent und 95 Prozent in der Altergruppe 12 – 59. Die Impfquote der Gruppe 60+ liegt im RKI-Modell bei fixen 90 Prozent genauso wie die der vorerkrankten Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren.
Die durchgezogenen blauen Kurven stellen den Verlauf bei Kontaktreduzierung ab dem 1. Oktober 2021 dar, die punktierten den Verlauf ohne Kontaktreduzierung. Die orangen Kurven wurden vom Autor hinzugefügt. Sie geben den jeweils identischen Verlauf im vergangenen Herbst – Winter 2020/21 wieder (weitere Details sowie die Quellen hierzu siehe weiter unten).
Obwohl das Papier lediglich von einer »Reduktion des Kontaktverhaltens« spricht, handelt es sich hierbei um nichts anderes als einen Lockdown. Denn eine Person hat Kontakte, die sie nur schwer oder gar nicht weiter einschränken kann. Beispielsweise haben die Angehörigen einer vierköpfigen Familie ganz automatisch »pro Tag und Person« 3 Kontakte plus die, die beim Einkaufen von Lebensmitteln und einer Arbeit entstehen, die nicht im Homeoffice erledigt werden kann. Je näher die Pandemie-Strategen also mit ihren Maßnahmen an eben diese Grundkontakte gelangen, desto kleiner ist die reduzierende Wirkung der Maßnahmen – selbst dann, wenn sie der Einzelne als drastisch empfindet.
Bevölkerung »frühzeitig informieren«
Auch die sogenannte »Notbremse« ist das Teil des Werkzeugkastens für den kommenden Herbst/Winter. Man findet sie auf Seite 7 unter Methodik, wo die Nicht-pharmazeutischen Maßnahmen (NPIs = non pharmaceutical interventions) aufgezählt werden. Dort heißt es »Kontaktreduktion (beispielsweise Lockdown, Ferien, Notbremse)«.
Und weil uns ein neuer Lockdown bevorsteht, soll »die Bevölkerung… frühzeitig darüber informiert werden, dass es im Winter wieder zu einer starken Belastung des Gesundheitswesens und möglicherweise regionalen / lokalen Überlastung… kommen kann«, so das Papier, das man laut RKI nicht als Vorhersage begreifen soll.
Anmerkung:
Die Grafiken stammen aus dem RKI-Papier »Vorbereitung auf den Herbst/Winter 2021/22« vom 22. Juli 2021. Sie wurden in der Horizontale leicht gestaucht, um die Skalenbreite auf eine einheitliche Länge zu bringen. In der Vertikalen wurden die Grafiken um das Doppelt auseinandergezogen, um den Kurvenverlauf besser sichtbar zu machen. Zusätzlich wurden teilweise Werte auf der Y-Skala eingetragen sowie die Maßnahmen 2020/21 und 2021/22 oben rechts usw. eingetragen und die entsprechenden Kurven aus dem Jahr 2020/21 eingefügt. Hier wurden die folgenden Quellen benutzt: 7-Tage-Inzidenz ZDF (Quelle hier: Risklayer/CEDIM (KIT), eigene Berechnung), hospitalisierte bzw. stationär aufgenommene COVID-19-Patienten Statista (Quelle hier: RKI), intensiv-medizinisch behandelte Personen Statista (Quelle hier: DIVI Intensivregister).
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Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: Shutterstock
Text: Gast
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