Von Alexander Wallasch
Dr. Sarajuddin Rasuly gilt als profunder Kenner Afghanistans und des Orients. Rasuly ist Sachverständiger für die aktuelle politische Lage. Und er hält sich nicht zurück mit Aussagen über seine früheren Landsleute. Rasuly ist in Afghanistan geboren, lebt aber seit vierzig Jahren zunächst in Deutschland und dann in Österreich und ist dort mittlerweile eingebürgert.
Dr. Rasuly spricht die afghanischen Landessprachen Dari, Farsi, Paschtu und Usbekisch fließend. Zuletzt gab er österreichischen Zeitungen Interviews, die über die Grenzen des Landes hinaus für Aufmerksamkeit sorgten.
Sarajuddin Rasuly spricht exklusiv mit reitschuster.de in der Tradition eines Peter Scholl-Latour. Er beschäftigt sich ausführlich mit den großen Zusammenhängen und darf somit als einflussreicher Welterklärer Österreichs verstanden werden.
So scheinbar mühelos, wie er über viele Generationen hinweg auf die Geschicke Afghanistans zurückschaut, so kühn wagt er mit seinen Analysen den Blick in die Zukunft. Dr. Rasuly scheut dabei kaum eine Kontroverse, wenn er seine Sicht der Dinge erzählt.
Dr. Sarajuddin Rasuly im Gespräch
Fragen wurden nicht mit abgebildet.
„Als Afghanistankenner und Politologe war mir bekannt, dass die Taliban kommen werden. Es geht bei den Taliban nicht um Al-Qaida, sondern hier zunächst um die Interessen einer Stammesgesellschaft. Einer Gesellschaft, die in 45 Jahren Kriegsgeschichte ihre Vormachtstellung verloren hat.
Die Taliban sind großteils aus Afghanistan. Auch die Anführer sind Paschtunen. Sie werden vom pakistanischen Geheimdienst geleitet, die ebenfalls Paschtun sprechen.
Im Süden und Südwesten Afghanistans wird Opium angebaut. Damit können sich die Taliban sehr gut finanzieren. Aber diese Finanzierung ist nicht wichtig, nicht erheblich. Wichtig war die Finanzierung der Maschinerie der Taliban durch die Pakistani.
Man darf nicht vergessen: Pakistan gilt immer noch als Verbündeter der Amerikaner. Oder präziser: Ein Verbündeter der westlichen Interessen, der Amerikaner und der Engländer. Gleichzeitig haben die Pakistani als regionale Macht, als Atommacht in der Region ihre ureigenen Interessen.
Pakistan ist für die Amerikaner wichtiger als Afghanistan. Von daher muss der Westen pakistanische Interessen sehr ernst nehmen. Und zu den wichtigen Interessen Pakistans gehört es, Afghanistan unter seine „Fuchtel“ zu bekommen, wie man hier in Österreich sagen würde.
Afghanistan soll keine gegen Pakistan gerichtete Politik betreiben. Es darf hier aus Sicht der Pakistani keine Zusammenarbeit mit Indien oder mit anderen Mächten geben, die gegen Pakistan gerichtet sind. Als Atommacht wollen die Pakistani sich ausweiten. Und sie können hier nur über Afghanistan ihren Einfluss erweitern, nicht etwa über China oder Indien. Das ist der Raum, den Pakistan gebraucht hat. Afghanistan ist ein geopolitisch sehr wichtiges Land. Im früheren Ost-West-Konflikt wurde deshalb immer über Afghanistan gestritten.
Zur aktuellen Lage in Kabul und Afghanistan: Es gab keine viele hunderttausend reguläre Soldaten in der afghanischen Armee, wie in den letzten Tagen vielfach behauptet wurde – nicht einmal 50.000. Der Rest waren alles Verwandte der ehemaligen Kommandanten, der Minister, des Präsidenten, ihre Chauffeure, ihrer Bodyguards und ihre Angestellten im Allgemeinen.
Alle waren registriert als Soldaten. Das gesamte Budget für die Armee wurde von den Kommandanten, Ministern und Präsidenten verbraucht. Das ist ein gigantischer Korruptionsfall im Sicherheitsapparat im Namen der Sicherheit. Das betrifft Armee, Staatssicherheitsdienst, paramilitärische Gruppen und Polizei. Da gibt es auch welche, die haben Tausende unter Waffen, die waren alle registriert in der Armee als Armeeteil. Aber sie standen gar nicht im Dienste des Staates. Die Amerikaner und diejenigen, die die Armee usw. ausbilden, haben das natürlich alles gewusst.
Dass der Westen jetzt die Helfer mitnehmen will, basiert auf einer Erfahrung aus der jüngeren Vergangenheit. Als die Deutschen und die Amerikaner zuletzt abgerückt sind, haben die zurückgebliebenen Helfer Probleme gehabt. Als die Taliban ab 2007 etwa wieder aktiv geworden sind, haben sie Leute angegriffen, die für die Amerikaner oder beispielsweise die Deutschen gearbeitet haben.
Da gab es aber einen Unterschied zwischen Leuten, die wirklich für die Amerikaner gearbeitet haben als Dolmetscher oder Bürodienst oder gar Agententätigkeit, und einem einfachen Koch. Das ist ein Unterschied. Heute nun sind die Amerikaner und die Verbündeten der Meinung, alle, die mit ihnen zu tun hatten, würden von den Taliban verfolgt werden. Die heutigen Taliban erklärten offiziell allerdings ständig, es gäbe eine Amnestie für alle.
Die Flüchtlingsströme haben übrigens mit den Taliban weniger zu tun. Der Flüchtlingsstrom hat zwei Gesichter. Das eine ist die tatsächliche Gefahr für die Menschen, die dann das Land verlassen. Oder, dass sie fürchten, selbst wenn es nicht begründet ist, dass sie verfolgt werden würden.
Zum anderen aber sind fünfzig Prozent der Flüchtlinge jene, die einfach die Situation nutzen, in ein Land zu kommen, wo sie für immer in Sicherheit sind, sich wirtschaftlich verbessern können und ihre Kinder Bildung bekommen, also Zukunft haben.
Es sind seit dem letzten Krieg schon Millionen von Afghanen nach Pakistan und in den Iran gekommen. Das bedeutet nicht, dass diese Menschen alle nach Europa kommen. Dass drei Millionen Afghanen aus Afghanistan kommen sollen, wie es in den Medien neuerdings heißt, das ist Quatsch. Aber es kommt darauf an: Wenn der Iran und Türkei mit der EU im Clinch liegen würden, dann werden die ihre Tore womöglich weit aufmachen.
Griechenland und Türkei sind traditionell Erzfeinde. Es kann heute keine Fliege über das Meer fliegen, ohne das die Türkei davon weiß. Da kann die Türkei in kürzester Zeit tausende Boote freigeben. Sie machen es dann einfach. Die Taliban wären dann gar nicht der Auslöser. Es geht um die Afghanen und andere, die sich schon längst in der Türkei und im Iran aufhalten. Wenn welche in großer Zahl nach Europa kämen, dann zuerst von hier.
Ich bin für die Zukunft in Afghanistan dennoch zuversichtlich. Die Taliban sind nach Verhandlungen mit den Amerikanern nach Afghanistan zurückgekehrt. Sie haben den Amerikanern das Versprechen abgegeben, das kein Terror von Afghanistan in die Welt geht oder etwa die amerikanischen Interessen gefährdet werden in der Gegend.
Die Panik geht hier zunächst einmal von der einfachen Bevölkerung aus, die Soldaten oder als Offizielle tätig waren. Das speist sich aus der Erfahrung der letzten Jahre, wo viele vor ihren Augen in die Luft gejagt worden sind. Heute aber kommen die Taliban nach einer bestimmten ausgehandelten Abmachung nach Afghanistan zurück.
Ich bin der Meinung, dass sich diese panische Stimmung wieder beruhigen wird. Denn diese Taliban, die hier wiedergekommen sind, kamen nach einer Abmachung zwischen Pakistan und den USA. Das wurde in Doha/Katar mit den Taliban alles abgehandelt über eineinhalb Jahre hinweg. Die Taliban saßen die ganze Zeit mit am Tisch, mit nur kurzen Unterbrechungen, als Präsident Trump einmal nicht mehr verhandeln wollte nach neuerlichen Anschlägen auf Amerikaner. Aber die Idee der Verhandlungen mit den Taliban war eine Idee von Trump.
Ich telefoniere im Moment jeden Tag mit Leuten in Afghanistan, die zu Hause sitzen und warten. Man hört von ihnen keine panischen Reaktionen oder Angst. Sie sagen: Unter unseren Fenstern gehen Taliban mit langen Haaren und langen Bärten usw. entlang, die laufen da herum. Ich habe Mitglieder meiner Familie gefragt, warum sie nicht zu den Botschaften gehen und fragen, ob sie mitgenommen werden – aber die haben daraufhin gar keine Reaktion gezeigt.
Aber vieles ist heute auch noch nicht geklärt – auch wenn es so ausschaut im Moment, aber der Westen wird Afghanistan nicht so einfach verlassen. Der deutsche Außenminister Heiko Maas wird seine Konsularabteilung dort behalten. Es ist also nicht so, dass es die Deutsche Botschaft dann einfach nicht mehr gibt. Das war zwar früher schon mal so, dass das Personal für eine Weile vorsichtshalber ins Ausland gebracht wurde. Aber dann kamen sie immer wieder zurück.
Ich habe immer empfohlen, soweit es geht: Macht die Botschaften auf, damit ihr eine Beobachtungsrolle bekommt, was die Taliban dort machen. Wenn ihr das nicht macht, dann werden die Taliban schon zum Trotz und erst recht sehr viel Unsinn machen.
Was in den letzten Tagen passiert ist, habe ich in der Intensität auch nicht erwartet. Dass die Taliban kommen, daran bestand aber kein Zweifel. Aber dass sie in ein paar Tagen ganz Afghanistan in eindrucksvoller Weise einnehmen, das war nicht vorauszusehen.
Die Taliban sind zuerst in Nordafghanistan einmarschiert, in den Provinzen. Dort haben nordafghanische Kommandanten Widerstand geleistet, weil sie der afghanischen Armee vertraut haben, dass sie Unterstützung bekommen werden und Ausrüstungen. Aber im Gegenteil: Der afghanische Präsident Ashraf Ghani hat, als die Taliban dort einmarschiert sind, den Befehl gegeben, dass sich seine Armee zurückziehen soll.
Und als im Norden wieder ein Widerstand formiert werden sollte, hat der General des afghanischen Armeecorps zugesichert, dass es eine Zusammenarbeit geben wird. Die haben zusammengearbeitet bei der Planung. Aber am Abend um 21 Uhr hat er den Befehl von Ashraf Ghani bekommen, diese Gegenwehr nicht zu unterstützen.
Diese wirklich „komische“ Rolle von Ashraf Ghani ist interessant für die Analyse, warum der Präsident seine Armee nicht mehr in den Dienst des Widerstands stellte und einem seiner Militärs nach dem anderen befohlen hat, sich zurückzuziehen.
Meine Erklärung dafür: Die Amerikaner könnten gesagt haben, dass in Doha beschlossen wurde, dass die Taliban kommen, dass der Widerstand also nicht stattfinden darf.
Der Vertreter von Trump in Doha wurde von Biden übernommen. Der afghanischstämmige Amerikaner war zuvor schon Botschafter in Afghanistan, im Irak, war UN-Botschafter und hat auch schon im Pentagon gearbeitet. Dieser Mann hat sogar mit Ashraf Ghani gemeinsam studiert. Das ist eine Elite, die von den Amerikanern in Beirut erzogen worden ist.
Angela Merkel – wer auch immer – sie lügen alle. Die Vertreter waren alle in Doha, die Amerikaner, Russen, Chinesen, Deutsche, Saudi-Araber, Pakistani, Iraner und Türken. Sie wussten um den Vormarsch der Taliban, es war verabredet. Alle Großmächte und regionalen Mächte waren dort. Sie haben das alle gemeinsam entschieden. Anschließend erklären sie alle, einschließlich der Amerikaner, sie hätten damit nichts zu tun, dass die Taliban nach Afghanistan gegangen sind. Aber sie haben dort mit der Führung der Taliban verhandelt.
Das die Taliban in dieser Art und Weise, in dieser rasanten Geschwindigkeit nach Afghanistan gekommen sind ohne Blutvergießen – das ist eine gemeinsame Entscheidung der Weltpolitik. Eine Verabredung. Ein Deal.
Die Amerikaner werden ihren Einfluss in Afghanistan auch nicht aufgeben. In den letzten Jahrzehnten haben die Amerikaner viele Afghanen „produziert“, die pro-amerikanisch sind. Sogar solche, die bei den Taliban involviert sind. Die Taliban vertreten hier im Prinzip zwei Interessen, die der Pakistani und die ihrer paschtunischen Stämme – und das machen sie im Namen des Islam.
Die USA wollten damals den Schah von Persien stürzen, der ist ihnen über den Kopf gewachsen. Viel hat man überlegt, die beste Idee fand man dann, ihn über den Islam zu stürzen – also hat man Khomeini gebracht. Über die Religion kann man ein Regime am besten stürzen, aber auch am besten führen.
Der Talibansprecher Suhail Shaheen hat jetzt Mädchen und Frauen Schulen und Universitäten zugesagt. Sogar in der Regierung sollen sie sitzen und eine Rolle spielen. Aber eben mit Hijab, mit dem Kopftuch usw.
Wir müssen jetzt abwarten. Man kann so eine islamische Bewegung nicht für ewig verdammen. Es kann sein, dass diese islamische Bewegung mit der Zeit reformiert werden kann. Nicht vergessen: Die heutigen Taliban sind ein Kompromiss der internationalen Gemeinschaft, wie es in Doha beschlossen wurde.
Der Westen wird jetzt aus propagandistischen Gründen tausende Leute mitnehmen aus Afghanistan. Warum? Nur, damit sie ihr Image in diesen Ländern nicht verlieren. Es soll klar sein, dass der Westen seine Helfer nicht im Stich lässt. Diesen Eindruck will man nicht hinterlassen.
Und was die möglicherweise vielen hunderttausend Migranten angeht, da kommt es darauf an, wie die EU beispielsweise mit dem Iran und der Türkei zusammenarbeitet. Hier kommt insbesondere der Türkei eine große Bedeutung zu. Die Türken könnten den Zuzug weiterer Afghanen in die EU verhindern und sie haben in den letzten Jahren schon einhunderttausend Afghanen wieder zurückgeschickt.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger und betreibt den Blog alexander-wallasch.de. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann) schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“ Seit August ist Wallasch Mitglied im „Team Reitschuster“.
Bild: Jono Photography/ShutterstockText: wal