Das Drama der politischen Persönlichkeit im Parteienstaat Richard von Weizsäcker hat vor dreißig Jahren unser aktuelles Problem formuliert

Von Sönke Paulsen

„Die Parteien haben sich zu einem ungeschriebenen sechsten Verfassungsorgan entwickelt, das auf die anderen fünf einen immer weitergehenden, zum Teil völlig beherrschenden Einfluss ausübt. […] Nach meiner Überzeugung ist unser Parteienstaat von beidem zugleich geprägt, nämlich machtversessen auf den Wahlsieg und machtvergessen bei der Wahrnehmung der inhaltlichen und konzeptionellen Führungsaufgabe.“

Richard von Weizsäcker

Der ehemalige Bundespräsident war nicht zimperlich, wenn es um Kritik ging. Von ihm stammt auch der Satz: „Die Parteien haben sich den Staat zur Beute gemacht“, den er aber auch erst gegen Ende seiner zweiten Amtszeit prägte.

Richard von Weizsäcker war eine politische Persönlichkeit, wenn man diesen Ausdruck als Wertschätzung oder gar als Ehre verstehen möchte. Heute spricht man von politischen Persönlichkeiten in sehr nivellierter Form und meint damit nicht mehr, als dass es jemand in der Politik zu einer bestimmten Strahlkraft, neudeutsch „Salience“ gebracht hat. Über die Charakterfestigkeit eines Politikers sagt der Begriff nichts mehr aus.

Die Diskussion, die Weizsäcker damals mit mäßigem Erfolg angestoßen hatte, wurde zum unterschwelligen Dauerbrenner, der immer mal wieder an der Oberfläche auftauchte, obwohl seine Nachfolger, wie Joachim Gauck, sich von der Sichtweise des Vorgängers auf die politischen Parteien überdeutlich und explizit distanzierten. Das verwundert nicht. Denn auch heute bleiben kritische Beiträge zum Thema Parteienstaat vergleichsweise einsam.

Sie flackern immer wieder auf, meist wenn Persönlichkeiten in ihren Parteien zum Abschuss freigegeben werden, wie Oskar Lafontaine als „Verräter der Sozialdemokraten“, Sahra Wagenknecht als „falsche Ikone“ der Linken, die ständig von der Parteilinie abweicht, aktuell auch Boris Palmer, der für den Geschmack der Grünen entschieden zu viel politische Eigenständigkeit besitzt, und Männer wie Hans-Georg Maaßen und Thilo Sarrazin, die in ihren Parteien wagten, Tabuthemen anzusprechen und den Scheinwerfer auf ihre dunklen Flecke richteten.

Wie man an dieser kleinen und relativ aktuellen Aufzählung erkennen kann, wurden alle diese zu Recht als politische Persönlichkeiten zu bezeichnenden Leute ins Abseits gestellt oder haben, wie Lafontaine, selbst die Konsequenzen gezogen.

Man kann nun sagen, dass es ein gesunder demokratischer Reflex sei, Spitzenpersönlichkeiten, die nicht die allgemeine Parteilinie mittragen, zu entmachten. Aber darum geht es in diesen Fällen kaum. Meist geht es darum, dass Persönlichkeiten etwas sagen, was nicht gesagt werden darf, also die innerparteiliche Meinungsfreiheit in Anspruch nehmen und daran scheitern.

Das hat nur oberflächlich betrachtet etwas mit politischen Macht- und Richtungskämpfen zu tun, die in den Parteien ausgefochten werden. Etwas tiefergehend stellt man schnell fest, dass alle diese Politiker die Parteilinie eigentlich mitgetragen haben, jedoch neue Meinungsbildungsprozesse zu brisanten Themen anstoßen wollten. Sie wollten von Wagenknecht bis Palmer, von Sarrazin bis Maaßen auf Probleme hinweisen, die nicht hinreichend diskutiert werden. Man kann auch sagen, dass sie sich, im demokratischen Sinne, ehrlich machen wollten.

Genau das hat ihnen die erbitterte Feindschaft der eigenen Partei eingetragen! Interessant ist, dass derart geschasste Persönlichkeiten auch über die Parteiengrenzen hinweg erledigt sind. Sie können dann nur noch in eine „ausgestoßene Partei“ wechseln und dort Gehör finden, wenn sie Glück haben. Vielleicht liegt es daran, dass die Parteien festgestellt haben, dass sie gemeinsam mehr Macht entwickeln können, als im freien Spiel der Kräfte gegeneinander. Der „Kampf gegen rechts“ und die „Corona-Diktatur“ sind Beispiele dafür.

Gleichzeitig haben die politischen Parteien ihr „Parteienprivileg“ bis über die Grenze des Möglichen ausgedehnt, was ebenfalls schon von Richard von Weizsäcker kritisiert wurde.

Das wirkt sich heute aus, wo wir plötzlich und unerwartet Diktaturerfahrungen im eigenen Land machen mussten. Die demokratische Korrektur fiel praktisch aus und es sieht ganz danach aus, als ob es bei diesem korrekturunfähigen Politikbetrieb bleibt.

Der „Fernsehphilosoph“ Precht hat das kürzlich so ausgedrückt, dass man nach einer einmal getroffenen Entscheidung jetzt immer weitermachen müsse.

In Bezug auf die „Null-Corona-Politik“ bedeutet das, dass fast diskussionslos dieselben Maßnahmen weiterlaufen, die sich schon als unwirksam erwiesen haben. Die vierte Welle der Pandemie ist eben auch eine Welle der Geimpften. Die Diskussion darüber ist praktisch verboten und wird in den regierenden und regierungsnahen Parteien konsequent unterdrückt.

Diese Situation illustriert aber auch andere Aspekte des Umgangs mit echten politischen Persönlichkeiten in den Parteien, den Medien und der Zivilgesellschaft. Denn die Parteien haben ein überbordendes Stiftungswesen geschaffen und sich in parteinahen NGO-Agglomeraten praktisch eingeigelt, um ihre Weltsicht möglichst diskussionslos zu perpetuieren. Sie schaffen sich dadurch Sicherheit. Denn daran hängen Posten, Mandate und Einkünfte. Gleichwohl sinkt die Glaubwürdigkeit der politischen Parteien in diesem regressiven Prozess immer weiter ab.

Politiker, die hier öffentlich abweichen, werden dabei nicht immer von der eigenen Partei bekämpft, sondern alternativ von der Öffentlichkeit als vollkommen wirkungslos diskreditiert. Dem FDP-Politiker Wolfgang Kubicki geht das des Öfteren so, aber auch dem Unionspolitiker Wolfgang Schäuble, der die Corona-Politik der Bundesregierung, teilweise kaum bemerkt von den Medien, fast schon bissig kritisiert hat. Schäuble war auch einer, der es vor einiger Zeit gewagt hat, auf unsere fragwürdige nationale Souveränität und die Vorläufigkeit des Grundgesetzes hinzuweisen.

Viele Kommentatoren fassen solche kritischen Äußerungen als unglaubwürdig auf, als „Budenzauber“, der die Öffentlichkeit davon ablenken soll, was diese Leute wirklich tun. Das ist oft sehr unfair!

Wir haben uns scheinbar schon so sehr daran gewöhnt, dass freie und selbstbestimmte Meinungsäußerungen in den Parteienlagern nicht mehr möglich sind, dass wir die Leute, die es dennoch tun, auch nicht mehr ernst nehmen.

Vielleicht ein Zeichen dafür, wie sehr der Parteienstaat unsere Demokratie schon angegriffen hat. Das ist sicher keine Einbildung. Denn vom Rundfunk- und Fernsehrat bis zum Bundesverfassungsgericht teilen die politischen Parteien überall die Macht unter sich auf. Keine Behörde, keine öffentlich-rechtliche Institution, in der nicht auf das Parteibuch geachtet wird!

Man hat den Eindruck, dass nicht ein gewähltes Parlament, sondern eine Handvoll von Parteien mit einer fragwürdigen internen Willensbildung und einer hohen Tendenz, sich gegenüber Außenstehenden abzuschotten, bestimmt, was in unserem Land geschieht.

Mutige politische Persönlichkeiten wären hier wichtige Gegengewichte. Allein, sie werden mit allen Mitteln und äußerster Erbitterung bekämpft.

Es ist verständlich, wenn Politiker, die einen eigenständigen Geist und Charakterfestigkeit nur vortäuschen, um Wähler für sich zu gewinnen, nicht ernst genommen werden. Sicherlich ist Markus Söder hier ein Beispiel, der innerhalb einer vollkommen rückgratlosen Union agiert und dabei widersprüchliche Standpunkte im Brustton der Überzeugung vorträgt.

Fast wirkt es aber gesamtgesellschaftlich so, als hätten wir verlernt, kluge Köpfe, die eigenständige Meinungen äußern, zu würdigen. Seit der Pandemie hat diese Tendenz, Persönlichkeiten zu unterdrücken, zu diskreditieren und für nichtig zu erklären, noch einmal deutlich zugenommen.
Die Medien spielen hier eine unselige Rolle als Kollaborateure des Parteienstaates.

Das Drama der politischen Persönlichkeit spiegelt eben das Drama unserer Gesellschaft, die gerade dabei ist, sich von ihren liberalen Grundprinzipien zu verabschieden und mit Volldampf Kurs auf eine intolerante und autoritäre Staatsform nimmt, von der wir noch nicht wissen, wie wir sie dann nennen sollen.

„Eingeschränkte Demokratie“ wäre vielleicht ein passender Begriff, um sich von der ehemals gelenkten und nun fassadenhaften Demokratie Russlands und wohl auch der Türkei abzugrenzen.

Vielleicht aber können wir uns diese ganze Hermeneutik sparen und es geht tatsächlich Richtung Diktatur. Mutige Persönlichkeiten sind in einer solchen Gefahrenlage die einzige Hoffnung. Ein massenhaftes Aufbegehren gegen den Parteienstaat wird es vermutlich nicht geben.
Einzelne Parteien, die versuchen, deutliche Gegenakzente zu setzen, wie die AfD, werden als gefährliche Radikale diffamiert und ihnen wird die öffentliche Plattform entzogen.

Die Menschen in unserem Land sind durch jahrelange politische Bevormundung, Einschüchterung und gezielte Entmutigung schon viel zu sehr geschwächt, um sich gegen die Macht der Parteien zur Wehr zu setzen.

Vergessen wir aber eines nicht. Wo einzelne Parteien den Staat beherrschen, haben wir es in der Regel mit Diktaturen zu tun. Das prominenteste Beispiel ist derzeit China. Richard von Weizsäcker hatte seine Kritik am Parteienstaat aber kurz nach dem Mauerfall auf die damalige BRD bezogen. Vielleicht hat er damals besonders deutlich gesehen, was übermächtige Parteien in einer Gesellschaft anrichten können. Am damals aktuellen Beispiel der DDR, natürlich. Aber eben nicht nur.

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Sönke Paulsen ist freier Blogger und Publizist. Er schreibt auch in seiner eigenen Zeitschrift „Heralt“. Hier finden Sie seine Fortsetzungsgeschichte „Angriff auf die Welt“ – der „wahre“ Bond.

Bild: Shutterstock
Text: Gast

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