Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Rießinger
In ihrem Leserbrief „,Spaziergänge‘ sind eine Zumutung“ in der Zeitung „Bergsträßer Anzeiger“ hat sich am 5. März eine Leserin, die 2011 bei der Ortsbeiratswahl für die CDU angetreten ist, nach einer Respektbezeugung für die Fastnachter in Lorsch – einer Nachbarstadt meines Wohnortes – und deren Friedensmärsche für die Ukraine zu den derzeit regelmäßig stattfindenden Spaziergängen geäußert. Ihre etwas befremdlichen Auffassungen haben mich zu einem ausführlichen Antwortbrief bewogen, der aber nur in einer gekürzten Fassung abgedruckt werden konnte. Der Zeitung kann ich das nicht vorwerfen: Aus der Sicht der Redaktion war der ursprüngliche Text eindeutig zu lang. Was lag daher näher, als nun die Gedankengänge der Briefautorin und meine detaillierte Antwort einem größeren Publikum zugänglich zu machen? Sehen wir also zu, wie man heute in manchen Kreisen zu denken pflegt.
„Die ,Spaziergänge‘ schwafeln von Einschränkungen und Freiheit“, so schreibt die Autorin, und: „Das ist an Zynismus nicht zu überbieten.“ Man muss nicht unbedingt der Frage nachgehen, wie „Spaziergänge“ wohl schwafeln sollen, denn üblicherweise kann ein Spaziergang nicht reden. Vermutlich meint sie ja die Spaziergänger und schafft es auf diese Weise, nicht nur die in Lorsch Versammelten zu beleidigen, sondern auch gleich noch Hunderttausende im ganzen Bundesgebiet, die auf solchen Spaziergängen unterwegs waren und sind. Dort wird allerdings keineswegs geschwafelt, sondern Protest gegen staatlich angeordnete Freiheitsbeschränkungen und vor allem gegen eine Impfpflicht zum Ausdruck gebracht, den unsere Briefautorin offenbar nicht schätzt.
Das ist ihr gutes Recht. Sie muss ja nicht zur Kenntnis nehmen, dass seit zwei Jahren die Grundrechte der Bürger mit stets wechselnden Begründungen eingeschränkt werden, sie muss nicht zur Kenntnis nehmen, dass die freiheitsentziehenden Maßnahmen keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhalten, sie muss auch nicht zur Kenntnis nehmen, dass eine Impfpflicht stets einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstellt, der bei noch immer experimentellen Impfstoffen nicht zu rechtfertigen ist, und sie muss auch nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Impfungen alles andere als nebenwirkungsfrei sind, auch wenn der Bundesgesundheitsminister das oft und gern behauptet.
Warum es aber zynisch sein soll, sich mithilfe eines Spaziergangs gegen die vorliegenden Freiheitseinschränkungen auszusprechen, bleibt ihr Geheimnis. Sind nur Proteste, die ihr inhaltlich in den Kram passen, akzeptabel? Ist eine kriegerische Aggression tatsächlich ein Grund, nicht mehr gegen Missstände zu protestieren, die sich vor der eigenen Haustür abspielen? Immerhin wäre es ja möglich, sich sowohl für den Frieden in der Ukraine auszusprechen als auch gegen die eigenartigen Maßnahmen der hiesigen Politik. Dass sie das nicht versteht, ist allerdings ihr Problem und nicht das der Spaziergänger.
Richtig interessant wird es aber erst in den nächsten beiden Sätzen der Leserbriefautorin. Da lesen wir: „Verjagt sie, nicht diskutieren, bringt sie in die Ukraine, damit sie sehen, wie es ist, wenn die Diktatur kommt. Diese Menschen sind eine Zumutung für eine Demokratie und eine Demokratie muss geschützt werden.“ Nun sehen wir, was sie wirklich denkt. Es sind sicher nicht weniger als hunderttausend Menschen und vermutlich deutlich mehr, die sie offenbar in die Ukraine deportieren lassen will – denn es ist eine Deportation, die sie vorschlägt, eine Verschickung und Verschleppung von Andersdenkenden und politischen Gegnern mit staatlicher Gewalt in weit entlegene Gebiete; wie sollte man das wohl sonst nennen?
Ähnliche Deportationspläne für größere Bevölkerungsgruppen hat man in Deutschland lange nicht gehegt, ein Beispiel ist der Madagaskarplan des Reichssicherheitshauptamtes aus dem Jahr 1940, in dem es allerdings nicht um Spaziergänger ging, aber das Prinzip war doch recht ähnlich: Wen man nicht mehr haben will, den deportiert man eben, und wie es den Deportierten am Zielort geht, ist ihre Sache. Im Sinne der Unschuldsvermutung will ich gerne davon ausgehen, dass sich die Leserbriefautorin mit ihrem Vorschlag nicht an solchen Vorbildern orientiert hat, sondern einfach nicht weiß, wovon sie spricht. Auch das ist schon schlimm genug.
Und auch die Aufforderung, erst gar nicht mehr zu diskutieren, sondern gleich alle außer Landes zu schaffen, zeigt eine etwas außergewöhnliche Vorstellung von Demokratie, denn die lebt von der Diskussion, die lebt von der Kontroverse. Nicht die Spaziergänger sind eine „Zumutung für eine Demokratie“, sondern Leute, die jede Diskussion mit Andersdenkenden ablehnen und sie stattdessen lieber aus dem Land jagen wollen. Es stimmt schon, wenn die Briefautorin sagt: „Eine Demokratie muss geschützt werden.“ Es fragt sich nur, vor wem.
In § 130 des Strafgesetzbuches wird der Tatbestand der Volksverhetzung abgehandelt. Es heißt dort in Absatz 1:
„Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören,
1. gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder
2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet,
wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“
Der Aufruf, Hunderttausende von Menschen zu verjagen, dürfte geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören, und in dem zitierten Brief wird ohne Frage zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen Teile der Bevölkerung aufgerufen, sofern man nicht der Auffassung ist, Verjagen und Deportieren seien völlig normale Vorgänge. Und um auch das nicht unerwähnt zu lassen: Volksverhetzung ist ein Offizialdelikt, also ein Vergehen, das von Amts wegen zu verfolgen ist, falls sich jemand dafür interessieren sollte.
Es war nur ein kurzer Leserbrief in einer Regionalzeitung, nichts weiter, doch er zeigt, wie weit wir gekommen sind. Der Publizist Henryk M. Broder hat das Problem vor Kurzem sehr deutlich auf den Punkt gebracht: „Wenn ihr euch fragt, wie das damals passieren konnte: weil sie damals so waren, wie ihr heute seid.“
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Text: Gast
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