Denkmal für Stepan Bandera in der Ukrainischen Stadt Zdolbuniv.
Ich würde den Rechtsextremismus in der Ukraine zu wenig beleuchten, warf mir eine Leserin vor. Ich habe daraufhin Jerzy Maćków, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Regensburg und gebürtiger Pole, um einen Artikel dazu gebeten. Sein polnischer Großvater wurde von Anhängern des ukrainischen Nationalisten Bandera, den manche Ukrainer heute noch verehren, im Rahmen von ethnischen Säuberungen umgebracht – ebenso wie 100.000 andere Polen. Hier sein Beitrag (und in Kürze ein weiterer von einer ukrainischen Journalistin, die ich ebenfalls um eine Einschätzung gebeten habe).
Dass der russische Angriff keineswegs zum schnellen Zusammenbruch der Ukraine führen wird, war abzusehen. Jeder, der eine vage Ahnung vom russisch-ukrainischen Kräfteverhältnis hatte, konnte davon nicht überrascht sein, was am 25. Februar, dem zweiten Tag des Krieges, offensichtlich wurde: Die Russen haben am ersten Kriegstag viel Lärm gemacht, erreicht haben sie nichts. Bis heute kämpfen die Ukrainer intelligenter und tapferer als die Rote Armee. Am meisten enttäuscht davon sein müssen ein Bundeswehr-General, der am Abend des 24. Februar im ZDF feststellte, dass die Russen bereits Kiew erreicht haben, und die selbsternannten Militärexperten von ARD und ZDF, die die deutsche Öffentlichkeit (und offenbar auch den besagten General) wochenlang mit Tabellen, die die Diskrepanz der militärischen Stärke der künftigen Kriegsparteien zeigten, auf eine schnelle Niederlage der Ukraine vorbereiteten.
Indem sie die ukrainischen und russischen Zahlen der Soldaten, Panzer, Flugzeuge usw. gegenüberstellten, vermittelten sie den Eindruck, dass die Ukraine mit ihrer ca. 200.000 Mann starken Armee gegenüber dem 800.000-Mann-Heer Russlands chancenlos ist. Die gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen „Militärexperten“ übersahen dabei die Tatsache, dass Russland an den Grenzen der Ukraine doch nur circa 150 000 Soldaten aufgestellt hatte. Heute sehen wir, dass es offenbar keine einsatzfähigen Reserven mehr hat und krampfhaft nach Söldnern im Ausland sucht.
Was lehrt uns das? Die erste Lehre ist banal: Die Rote Armee ist schwach, wenngleich äußerst brutal, sie verfügt über veraltetes Schrottgerät und zeichnet sich durch antiquierte Kriegsführung aus. Ihre Soldaten sind schlecht ausgebildet und wenig motiviert. Die zweite Lehre ist interessanter: Man kann die Deutschen vollkommen irreführen, wenn man die Macht hat, die Narrative der Öffentlichkeit zu bestimmen. Diese zweite Erkenntnis wird sich in Deutschland nicht durchsetzen, solange unsere Medien ihren schrecklich didaktischen, obrigkeitshörigen Charakter beibehalten. Der Kreml hingegen beherzigt diese Wahrheit von jeher. Russland ist deshalb das Land, in dem fast alles, was die Russen über Politik so glauben, dem entspricht, was das kriminelle Regime sie glauben machen will. So glauben sowohl die in Russland als auch die in Deutschland lebenden Russen das, was mit der Wirklichkeit wenig oder gar nichts zu tun hat.
Der Kreml will die Russen glauben lassen, dass ihre Soldaten in der Ukraine gegen „Nazis“ kämpfen. Obwohl es in Russland Menschen gibt, die gegen diese wahnwitzige Interpretation des brutalen Angriffskrieges protestieren, folgen die meisten Untertanen Putins der dreisten Propaganda. Dieser Sieg der Lüge über den gesunden Menschenverstand wäre bloß ein russisches Problem, wenn sie nicht auch unter einigen Deutschen Gehör finden würde. Selbsternannte Internet-Experten schwadronieren in Goethes Sprache über „Banderisten“, „ukrainische Faschisten“ und „Rechtsradikale“, die die Ukraine in einen faschistischen Staat umgewandelt hätten. Das soll geschehen sein, nachdem der Präsidentendieb Wiktor Janukowytsch im Jahre 2014 nach Russland geflohen ist. Der Anführer der ukrainischen Faschisten heute soll der in freien Wahlen zum Präsidenten gewählte Wolodymyr Selenskyi sein, und zwar ungeachtet seiner jüdischen Abstammung. Kein Mensch, der Gehirn hat, will sich mit dieser blödsinnigen Behauptung auseinandersetzen. Es lohnt freilich zu erklären, wer „Banderisten“ sind. Denn die deutsche Ignoranz in dieser Sache macht die Ausbreitung der Kreml-Propaganda möglich.
Ukrainischer Vorkriegsfaschist
Stepan Bandera war ein ukrainischer Vorkriegsfaschist (milde wird er auch „integraler Nationalist“ genannt), der für die Beteiligung am terroristischen Mord am polnischen Innenminister ins Gefängnis geschickt wurde. Nach den deutschen Überfällen auf Polen (1939) und die Sowjetunion (1941) versuchte er, den ukrainischen Staat von Hitlers Gnaden auszurufen, ohne aber Hitler von seiner Absicht informiert zu haben. Dafür landete er als sogenannter Ehrenhäftling (gut zu behandelnder Häftling) im KZ Sachsenhausen. Seine Anhänger in der heutigen Westukraine, die seit 1941 mit den Deutschen nicht zuletzt bei Judenverfolgung zusammengearbeitet hatten, setzten sich 1943 von Deutschland ab und bildeten die UPA – die Ukrainische Untergrundarmee. Dieser wilde Haufen schlachtete in den Jahren 1943 – 1944 rund 100.000 Polen ab, fast alle Bauern, weil die UPA eine ethnisch saubere Ukraine haben wollte.
Damals ist auch mein Großvater umgebracht worden (ihm haben die UPA-„Soldaten“ die Augen ausgestochen, bevor sie ihn mit gut zwanzig Kugeln durchsiebten – und das war noch eine milde Art, einen Polen umzubringen). Nach dem Einmarsch der Roten Armee kämpfte die UPA gegen die Sowjets. Bandera lebte übrigens nach dem Krieg zusammen mit unzähligen deutschen Nazis unbehelligt in München, bis er dort 1959 von einem KGB-Agenten umgebracht wurde.
Dieser Tod und die Tatsache, dass die letzten Einheiten der UPA erst in den fünfziger Jahren in der sowjetischen Ukraine vernichtet wurden, führt dazu, dass sich heute in der Westukraine ein regelrechter, im Land freilich umstrittener Kult um Stepan Bandera breit gemacht hat. Der Bandera-Mythos basiert letztlich auf der gleichen Geschichtsignoranz, die jene Deutsche manifestieren, die vergessen, dass sie einen zum Held erklärten von Stauffenberg haben, der im September 1939 schlimmste Sachen über die Polen schrieb, um heute verehrt zu werden, weil er ohne jeden Zweifel vom Hitler-Regime (das er lange unterstützt hatte) umgebracht wurde.
Herzlich und aufopferungsbereit
Trotz des Völkermords an polnischen Menschen stehen der Staat Polen und die polnische Nation heute fest zur Ukraine. Niemals in der modernen Geschichte wurden so viele Flüchtlinge so herzlich und aufopferungsbereit aufgenommen wie heute von den Polen. Diese wissen nämlich, dass der Überfall auf ein Land und das Ermorden von Zivilisten nicht damit gerechtfertigt werden können, dass es unter den Überfallenen auch ignorante Rechtsextreme gibt.
Aber diejenigen unter den Deutschen, die den Ukrainern ausgerechnet in dieser Stunde Bandera, „Banderisten“ und „die Nazis“ vorhalten, haben bekanntlich höhere moralische Maßstäbe als alle Polen. Zuerst blenden sie die Tatsache aus, dass ihre Vorfahren sowohl die Ukrainer als auch die Polen 1939 und 1941 in eine Lage brachten, in der das besagte Massaker an den Polen erst möglich wurde. Dann sprechen sie sich für eine friedliche Zusammenarbeit mit Russland aus (oh, wie schön sind die Friedenstauben!), ohne zu erwähnen, dass sie an dessen Gasexporten auf Kosten der Ukraine verdienen. Es wäre so schön, wenn die guten alten Zeiten wiederkommen würden, nicht wahr? Das wäre ja nur dann möglich, wenn die „Banderisten“ aus Kiew vertrieben würden.
PS: Der „Kongress Ukrainischer Nationalisten“, der sich als Nachfolger von Banderas „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ sieht, erhielt dei der Parlamentswahl in der Ukraine 2014 8976 Wählerstimmen. Das entsprach 0,05 Prozent der Wähler in der Ukraine.Das Leid in der Ukraine ist unermesslich. Es trifft auch viele Freunde von mir, weswegen es mich ganz besonders bewegt. Bitte helfen Sie den Menschen dort – hier finden Sie eine Übersicht, wie Sie helfen können.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können
Jerzy Maćków, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Regensburg. Seinen Blog finden Sie hier. seine Gruppe Multiplikatorenhier.! Er betreibt auch einen Video-Kanal, in dem er über die Ukraine informiert (zu finden hier).
Bild: weha/Shutterstock
Text: Gast
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