Nadeschda Suchorukowa ist eine Kollegin aus der von russischen Truppen belagerten ukrainischen Stadt Mariupol. Ein Leser schickte mir diesen bewegenden Text von ihr, den sie auf Facebook veröffentlicht hat. Selten hat mich ein Text so bewegt. Freundlicherweise hat sie den Abdruck genehmigt, und wir können den Text hier veröffentlichen.
Ein Gastbeitrag von Nadeschda Suchorukowa
Ich hoffe, dass ich zwischen den Bombenangriffen rausgehen kann. Ich muss meinen Hund ausführen. Er jammert ständig, zittert und versteckt sich hinter meinen Beinen. Ich fühle mich die ganze Zeit schläfrig. Mein Hof, der von Hochhäusern umgeben ist, ist ruhig und tot. Ich habe keine Angst mehr, mich umzusehen.
Gegenüber brennt der Eingang des Hauses 115 ab. Die Flammen haben sich durch fünf Stockwerke gefressen und fressen sich langsam durch das sechste. Im Zimmer brennt das Feuer ordentlich, wie in einem Kamin. Schwarz verkohlte Fenster sind ohne Glas. Aus ihnen quellen wie Zungen die von den Flammen angeknabberten Vorhänge hervor. Ich starre sie ruhig und hoffnungslos an.
Ich bin sicher, dass ich bald sterben werde. Es ist nur eine Frage von Tagen. Jeder in dieser Stadt wartet auf seinen Tod. Ich wünschte nur, der Tod wäre nicht so schrecklich. Vor drei Tagen kam ein Freund von meinem ältesten Neffen und erzählte uns, dass die Feuerwache voll getroffen wurde. Einige Feuerwehrmänner wurden getötet. Einer Frau wurden Arm, Bein und Kopf weggesprengt. Ich wünschte, meine Körperteile wären noch an ihrem Platz, selbst wenn eine Fliegerbombe explodiert wäre.
Ich weiß nicht, warum, aber es scheint mir wichtig zu sein. Andererseits wird man mich während der Kampfeinsätze sowieso nicht begraben können. Das sagten uns die Polizisten, als wir sie auf der Straße trafen und fragten, was wir mit der toten Großmutter eines Bekannten machen sollten. Sie rieten uns, ihre Leiche auf den Balkon zu legen. Ich frage mich, auf wie viel Balkonen schon getötete Großmütter liegen?
Unser Haus auf dem Mir-Prospekt (Prospekt des Friedens) ist das einzige, das nicht direkt getroffen wurde. Es wurde zwar zweimal von Bomben nur leicht von der Seite getroffen und die Fenster von einigen Wohnungen wurden herausgesprengt, aber es blieb fast unbeschädigt und hatte im Vergleich zu anderen Häusern viel Glück.
Mariupol. pic.twitter.com/AbwcBDsDI1
— Rob Lee (@RALee85) March 26, 2022
Der gesamte Innenhof ist mit vielen Schichten von Asche, Glas, Plastik und Metallsplittern bedeckt. Ich versuche, das blöde Metallstück, das auf den Spielplatz geflogen ist, nicht anzusehen. Ich glaube, es ist eine Rakete oder vielleicht eine Landmine. Das ist mir egal, es ist nur unangenehm. In einem Fenster des dritten Stocks sehe ich ein Gesicht und erschaudere. Vielleicht habe ich schon Angst vor lebendigen Menschen.
Mein Hund fängt an zu heulen, es wird mir klar, dass sie gleich wieder schießen werden. Ich stehe an einem Tag draußen, und um mich herum herrscht Friedhofsstille. Es gibt keine Autos, keine Stimmen, keine Kinder, keine Omas auf den Bänken. Sogar der Wind ist tot. Ein paar Leute sind aber hier. Sie liegen neben dem Haus und auf dem Parkplatz, bedeckt mit Oberkleidung. Ich möchte sie nicht ansehen. Ich habe Angst, dass ich jemanden erkenne.
Das ganze Leben in meiner Stadt schwelt jetzt in den Kellern. Es ist wie eine Kerze in unserer Ecke im Keller. Man kann sie glattweg löschen. Eine kleine Vibration oder ein Windhauch und es wird dunkel. Ich versuche zu weinen, aber ich kann es nicht. Ich habe Mitleid mit mir selbst, meiner Familie, meinem Mann, meinen Nachbarn, meinen Freunden. Ich gehe zurück in den Keller und höre das grässliche Schaben von Eisen. Zwei Wochen sind vergangen, und ich glaube nicht, dass es jemals ein anderes Leben gab.
In Mariupol sitzen Menschen weiterhin im Keller. Jeden Tag wird es für sie schwerer zu überleben. Sie haben kein Wasser, kein Essen, kein Licht und können wegen des ständigen Beschusses nicht einmal nach draußen gehen. Die Menschen in Mariupol müssen leben. Helfen Sie ihnen. Verbreiten Sie die Nachricht. Lassen Sie alle wissen, dass weiterhin Zivilisten getötet werden.
Der Beitrag erschien hier auf der Facebook-Seite von Nadezda Suchorukowa.
Anmerkung von Ekaterina Quehl, die diesen Text mit übersetzte und einstellte (und selbst Russin ist):
Als ich diesen Text ins System eingestellt habe, habe ich geweint. Viele der Kommentare, die jetzt da stehen, kann ich einfach nicht lesen. Wie kann man angesichts von solchem menschlichem Leid solche Sachen schreiben? Ich muss mich mäßigen, um nicht zu schreiben, was ich über solche Kommentare denke. Die einzige Hoffnung ist, dass es sich um eine Troll-Attacke der üblichen Verdächtigen handelt.
Dabei fehlt es an der Logik: Die ganzen bösen ukrainischen Rechtsextreme, die da ständig in den Raum gestellt werden, haben all die Jahre über ihre Städte nicht bombardiert und die friedliche Bevölkerung nicht getötet. Erst als die russische Armee kam, haben sie angefangen, ihre Städte zu einem zweiten Aleppo zu machen. Dass hier etwas nicht stimmig ist in der Argumentation von einigen, fällt doch schon etwas auf.
Der Hinweis, im Donbas sei es auch so, verfängt nicht. Allen Behauptungen der russischen Propaganda zum Trotz gab es dort nie Szenen wie in Mariupol und Charkiw; wie in Georgien oder Moldawien hat dort der Kreml einen bewaffneten Konflikt in seiner Nachbarschaft angezettelt und beheizt. Wären die Ukrainer in Donezk oder Luhansk so blutig gegen die von Russland finanzierten und bewaffneten „Aufständigen“ vorgegangen wie Putin in der russischen Teilrepublik Tschetschenien, wären diese Städte dem Erdboden gleich gemacht worden. Moskaus Propaganda spricht von 13.000 getöteten Zivilisten in der Ostukraine. Doch das ist eine Manipulation: Laut UNO sind von April 2014 bis Ende 2018 dort zwischen 12.800 und 13.000 Menschen getötet worden. Etwa 3.300 von ihnen waren Zivilisten, 4.000 waren Soldaten der ukrainischen Armee und 5.500 russische „Rebellen“. Die zivilen Opfer lassen sich nicht eindeutig einer der Konfliktparteien zuordnen – wie meistens in solchen Konflikten. Fakt ist: Hätte Moskau den bewaffneten Aufstand im Nachbarland nicht angezettelt – wie Whistleblower später selbst zugaben – würden wohl fast alle der 13.000 Opfer noch leben.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Text: Gast
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