Ein besonderes Merkmal des Systems Putin ist ein Zynismus, wie ihn sich zumindest wir im Westen Sozialisierten in der Regel kaum vorstellen können – sehr gut hingegen diejenigen, die den real existierenden Sozialismus erlebt haben: Das „D“ in „DDR“ stand ja für „demokratisch“, die Mauer war der „antifaschistische Schutzwall“, und die DDR-Verfassung garantierte alles, was zur Demokratie gehört. Nur war es eine Verhöhnung. Wladimir Putin, der genauso wie Angela Merkel sein politisches Handwerk in einer kommunistischen Kaderorganisation erlernt hat, hat diesen Zynismus verinnerlicht. Nach der Tragödie des Atom-U-Bootes Kursk, das im August 2000 mit 118 Mann an Bord sank und für diese zum Grab wurde, lehnte Putin nicht nur schnelle ausländische Hilfe ab. Auf die Frage eines US-Journalisten, was mit dem Boot passiert sei, antwortete er lakonisch: „Es ist untergegangen.“
Legendär ist, wie Wladimir Putin im Gespräch mit einer israelischen Delegation in höchsten Tönen schwärmte, dass der damalige israelische Präsident Mosche Katzav der Vergewaltigung mehrerer Frauen beschuldigt (und später auch schuldig gesprochen) wurde: „Was für ein starker Kerl! Zehn Frauen hat er vergewaltigt. Grüßen Sie Ihren Präsidenten. Das hätte ich ihm nicht zugetraut. Er hat uns alle überrascht. Wir beneiden ihn alle.“
Ebenso legendär, wie Putin auf die Ermordung seines Intimfeindes Boris Nemzow 2015 reagierte. Damals geriet schnell Putin-Intimus Ramsan Kadyrow als Drahtzieher unter Verdacht (Spitzname: Der Schlächter von Grozny). Putin reagierte prompt – und zeichnete kurz nach der Tat sowohl Kadyrow als auch Andrej Lugowoj mit höchsten Orden aus. Lugowoj ist der Geheimdienst-Agent, der nach Befund eines britischen Richters einen weiteren Putin-Intimfeind, Alexander Litwinenko, 2006 mitten in London mit hochradioaktivem Polonium vergiftete und dabei dafür sorgte, dass Tausende nichts ahnender Menschen radioaktiver Gefahr ausgesetzt waren. Dafür gab es nun also auch noch einen Orden – nicht genug, dass Lugowoj auch ins Parlament gewählt wurde. Für all diejenigen, die Putins Verbrechen relativieren und sie für Erfindungen des Westens halten, sei hier noch erwähnt, dass der britische Staat fieberhaft versuchte, die Ermittlungen im Polonium-Mord unter den Teppich zu kehren, um die guten Beziehungen mit Russland nicht zu gefährden. Litwinenkos Witwe verklagte den britischen Staat darauf, weiter zu ermitteln, und gewann – sonst hätte es den Richterspruch nie gegeben (es war auch nur eine richterliche Entscheidung, und formal kein Urteil).
„Putin macht es sogar ‚Russlandverstehern‘ alles andere als einfach, selbst ein Mindestmaß an Verständnis oder Sympathie für die russische Sache zu erwecken“, schreibt Professor Dr. David Engels vom Instytut Zachodni im polnischen Poznań auf Tichys Einblick. „Ob es nun um das offen eingestandene Kriegsziel einer völligen Annektion der Ukraine geht, die Ankündigung von blutigen Säuberungen und generationenlanger politischer Umerziehung, die bedenkliche Idealisierung des Stalinismus, die Massaker und Plünderungen in den besetzten Gebieten oder das brutale Drohen mit Atomwaffen – seit Beginn des Einfalls in die Ukraine scheint es, als würden der russische Staatschef und seine Mitarbeiter alles in ihrer Macht Stehende tun, um die ihnen entgegengebrachten Vorurteile nicht etwa zu entkräften, sondern zu bestätigen, ja gar noch zu übertreffen.“
All das wollte ich vorausschicken, bevor ich den kurzen Text meines Freundes und Kollegen Klaus Kelle veröffentliche, der von einem neuen, ungeheuerlichen Fall von Putins Zynismus berichtet – denn man muss eben wissen, dass es kein Einzelfall ist, sondern nur eine Spitze des Eisbergs:
Die ukrainische Kleinstadt Butscha ist auf der ganzen Welt bekannt, durch Berichte in Zeitungen und im Fernsehen. Sie ist bekannt durch Drohnenaufnahmen von einer Straße, auf der alle paar Meter tote Menschen liegen. Keine Uniformierten, sondern Zivilisten. Sie ist bekannt durch Zeugenaussagen derjenigen, die das Massaker überlebten und durch das Video, auf dem ein Radfahrer einfach so von russischen Soldaten vom Sattel geschossen wird. Jeder hat das gesehen. Jeder weiß, was in Butscha passiert ist. Jeder weiß von den mehr als 400 Leichen, viele mit auf dem Rücken zusammengebunden Händen. Jeder weiß von den vergewaltigten Frauen in Butscha.
Der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, hat die dort unmittelbar vor dem Massaker eingesetzten Soldaten der 64. Motorschützenbrigade gestern in Moskau persönlich für „besondere Verdienste, Heldentum und Tapferkeit“ (O-Ton Kreml) ausgezeichnet.
Putin lobte am Montag nach Angaben des Kremls «versierte und entschlossene Handlungen» der Soldaten im Zuge der «militärischen Spezial-Operation». Seine Soldaten hätten «auf vorbildliche Weise Mut und hohen Professionalismus gezeigt». Präsident Putin wird vom Kreml mit dem Satz zitiert: «Ich bin überzeugt, dass ihr Soldaten und Offiziere Gardisten seid, weiter dem Eid die Treue halten werdet, der Heimat mit Ehre dient und verlässlich die Sicherheit und das friedliche Leben unserer Bürger schützt.»
Klaus Kelle, Jahrgang 1959, gehört laut Focus-online zu den „meinungsstärksten Konservativen in Deutschland“. Der gelernte Journalist ist jedoch kein Freund von Schubladen, sieht sich in manchen Themen eher als in der Wolle gefärbten Liberalen, dem vor allem die Unantastbarkeit der freien Meinungsäußerung und ein Zurückdrängen des Staates aus dem Alltag der Deutschen am Herzen liegt. Kelle absolvierte seine Ausbildung zum Redakteur beim „Westfalen-Blatt“ in Bielefeld. Seine inzwischen 30-jährige Karriere führte ihn zu Stationen wie den Medienhäusern Gruner & Jahr, Holtzbrinck, Schibsted (Norwegen) und Axel Springer. Seit 2007 arbeitet er als Medienunternehmer und Publizist und schreibt Beiträge für vielgelesene Zeitungen und Internet-Blogs. Dieser Beitrag ist zuerst auf „the-germanz.de“ erschienen.
Bild: Oleksandr RatushnyakText: Gast/br
Mehr von Klaus Kelle auf reitschuster.de