Von reitschuster.de
Das Synchronschwimmen fristet in Deutschland ein Schattendasein, Live-Übertragungen im TV sind hierzulande allenfalls während der Olympischen Spiele denkbar. Und so haben die meisten Bundesbürger auch erst im Nachhinein von dem Drama um die Synchronschwimmerin Anita Alvarez erfahren, das sich am vergangenen Mittwoch bei der WM in Budapest zugetragen hat. Die 25-jährige Amerikanerin ist unmittelbar im Anschluss an ihre Kür noch im Becken kollabiert und drohte zu ertrinken. Nur das geistesgegenwärtige Handeln ihrer Trainerin Andrea Fuentes, die in voller Montur ins Wasser sprang und ihrem Schützling zu Hilfe eilte, hat wohl Schlimmeres verhindert. Doch mit dem Happy End ist die Geschichte keineswegs abgeschlossen, denn der Vorfall hinterlässt viele offene Fragen.
Die drängendste Frage richtet sich dabei an das Handeln bzw. Nicht-Handeln der Rettungsschwimmer, die während des Wettkampfes zwar physisch anwesend waren, aber trotz der offensichtlichen Notlage nicht eingegriffen haben. Warum blieb es der Trainerin vorbehalten, ihre Schwimmerin vor dem Tod durch Ertrinken zu bewahren? Die Erklärung wirkt ebenso schockierend wie verstörend. Das Regelwerk des Weltverbands FINA gestattet ein Eingreifen von außen nur nach ausdrücklicher Erlaubnis durch das Schiedsgericht, was offenbar auch für die Rettungsschwimmer gilt. Die Choreografie soll zu keinem Zeitpunkt gestört werden, so die bemerkenswerte Begründung. Weil die Punktrichter in diesem Moment aber ganz darauf konzentriert waren, die soeben dargebotene Kür zu beurteilen, drehten die Rettungsschwimmer Däumchen, während Alvarez regungslos im Wasser trieb.
Atemstillstand und Puls von 180
Selbst nachdem Fuentes ins Becken gehechtet war und ihre bewusstlose Schwimmerin wieder an die Wasseroberfläche gebracht hatte, dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis ihr ein (!) Rettungsschwimmer dabei half, Alvarez an den Beckenrand zu bringen. Dort wurde die Sportlerin von inzwischen herbeigeeilten Sanitätern in Empfang genommen und nachdem sie das Wasser aus ihren Lungen erbrochen hatte, erlangte Alvarez auch das Bewusstsein wieder.
Wie sie die dramatischen Minuten erlebt hat, schilderte die Trainerin unter anderem in der spanischen Sportzeitung As: „Als ich sie untergehen sah, schaute ich zu den Rettungsschwimmern hinüber, die sich aber nur gegenseitig angeschaut und keinerlei Reaktion gezeigt haben. Also habe ich instinktiv reagiert und bin hineingesprungen. Es war wohl das verrückteste und längste Freitauchen meiner Karriere. Ich hob sie hoch und habe sie zurück an die Wasseroberfläche gebracht, was aber nicht einfach war. […] Ein Rettungsschwimmer kam dazu, aber ehrlich gesagt, war das keine große Hilfe. Er wollte sie auf den Rücken legen, obwohl sie in die Seitenlage gebracht werden musste, um kein Wasser zu schlucken und wieder mit dem Atmen beginnen zu können. Er hat auch kein Englisch gesprochen und mich nicht verstanden, aber schließlich haben wir sie aus dem Wasser bekommen.“
Alvarez habe einen Puls von 180 gehabt und ihre Atmung habe etwa zwei Minuten ausgesetzt, schätzte Fuentes. Es sei auch nicht das erste Mal gewesen, dass sie so etwas miterlebt habe. Vor ziemlich genau einem Jahr sei Alvarez bei einem vor-olympischen Wettkampf in Barcelona ebenfalls im Wasser kollabiert. Und aus ihrer aktiven Zeit erinnerte sich Fuentes, die zu Spaniens erfolgreichsten Olympioniken überhaupt zählt, an einen Vorfall bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking. Damals sei eine japanische Synchronschwimmerin im Training kollabiert, wie die Trainerin berichtete.
Körperliche Belastung beim Synchronschwimmen extrem hoch
Fuentes wies darauf hin, dass es zum Beispiel auch Leichtathleten und Radfahrer gebe, die sich im Ziel übergeben und Minuten lang mehr oder weniger regungslos auf dem Boden liegen, um wieder zu Kräften zu kommen. Das Problem beim Synchronschwimmen sei eben, dass sich die Sportler dabei naturgemäß im Wasser befinden und ein eventueller Kollaps dann zwangsläufig lebensgefährlich werden könne. Ihren Schützling Anita Alvarez beschrieb Fuentes als eine Sportlerin, die „gerne ans Limit“ geht.
Oder darüber hinaus, wie die Vorfälle in Barcelona vor einem Jahr und jetzt in Budapest gezeigt haben. Am Tag nach der dramatischen Rettungsaktion teilte der US-Schwimmverband tatsächlich mit, dass Alvarez an einen Start im Mannschaftswettbewerb denke. „Das entscheiden letztendlich Anita und die Ärzte“, hieß es in der Mitteilung. Dazu kam es jedoch nicht, wohl auch, weil es die FINA mit Sicherheit in arge Erklärungsnot gebracht hätte. Die extremen Anforderungen, die beim Synchronschwimmen an die Sportlerinnen gestellt werden, stehen schon länger in der Kritik. Im Kampf um mehr mediale Aufmerksamkeit wurden insbesondere die Kürprogramme in den letzten Jahren immer aufwendiger und die während der Wettkämpfe infolge der mitunter langen Tauchphasen bei gleichzeitig großer körperlicher Anstrengung eingegangene Sauerstoffschuld immer höher. Der „Fall Anita Alvarez“ bei der Schwimm-WM in Budapest hat jetzt einmal mehr auf dramatische Art und Weise gezeigt, dass die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit nicht beliebig neu definiert werden können.
Bild: ShutterstockText: reitschuster.de
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