Die Nachricht ging groß durch die Medien: „Übersterblichkeit im November erkennbar“, titelte das ZDF dieser Tage: „In der zweiten Novemberwoche sind rund acht Prozent mehr Menschen gestorben als im Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019.“ In Zeiten, in denen statt einer sachlichen Diskussion um Corona immer mehr eine Art Glaubensstreit vorherrscht, ein wichtiges Argument für diejenigen, die auf der restriktiven Linie der Regierung sind. Die Botschaft rauschte so laut durch den Blätterwald, dass sie wohl bei sehr vielen Menschen hängenblieb.
Wenn man dann allerdings über die Schlagzeilen hinaus weiter in die entsprechenden Meldungen hineinsah – was heute viele eilige Leser nicht mehr tun – und etwas zwischen den Zeilen las, relativierte sich die Meldung etwas. Dort heißt es: „Bundesweit starben zwischen 9. und 15. November in Deutschland mindestens 19.161 Menschen, wie das Amt in Wiesbaden mitteilte. Das Mittel der Jahre 2016 bis 2019 lag bei 17.817 Toten.“
Interessant ist, dass es diverse Stimmen gibt, denen zufolge die große Meldung irreführend ist. Und zwar nicht nur von bekannten Kritikern der Corona-Politik – was wenig überraschend wäre. Sondern auch von Wissenschaftlern. Aber der Reihe nach.
Stefan Homburg, Professor für Öffentliche Finanzen und Direktor des Instituts für Öffentliche Finanzen der Leibniz Universität Hannover und bekannter Kritiker der Corona-Politik, kommentierte die Schlagzeilen wie folgt: „Das Statistische Bundesamt schreibt, es habe in einzelnen Monaten und Wochen Übersterblichkeit gegeben. Das stimmt und ist jedes Jahr so, da die Zahlen stark schwanken.“ Homburg präsentiert auf Twitter als Gegenargument die folgende Graphik aus dem aktuellen EUROMOMO, an dem in Deutschland nur Berlin und Hessen teilnehmen:
Homburgs Fazit: „Selbst im Dezember (49. Kalenderwoche) bestehe in Berlin und Hessen eine UNTERsterblichkeit. Wird die neue Losung ‘Nicht mehr leben, um niemals zu sterben‘ aufgehen? Nein, vermutlich sehen wir nächstes Jahr einen Nachholeffekt. Egal, ob mit Corona oder ohne.“
Ebenfalls zeigt Homburg eine weitere Graphik mit den aktuellsten Sterbezahlen bis 8. November bundesweit vom Statistischen Bundesamt (dessen Daten anders als die von EUROMOMO für Berlin und Hessen noch nicht bis Dezember reichen):
Der Kommentar von Homburg: „Wichtig: Die grüne Coronakurve ist in der blauen Gesamtkurve 2020 enthalten. Auffällig: Influenzawelle 2018 und Hitzewellen 2018-2020. Gesamtsterbefälle 2020 liegen zwischen 2018 und 2019. Also sind Panik und Maßnahmen unangebracht“ (Hier die Original-Exceldatei).
Der Arzt Zacharias Fögen, der als Autor für reitschuster.de schreibt, kommentiert die Berichte zur Übersterblichkeit wie folgt: „Die Aussage des statistischen Bundesamtes ist zwar formal korrekt und die Interpretation der Medien soweit auch, auch wenn man 7,54% nicht unbedingt auf rund 8% aufrunden muss. Allerdings sind in den genannten Referenzjahren im Schnitt 934.392 Menschen gestorben, während für 2020 963.384 Tode prognostiziert wurden. Das sind 3,1% mehr. Das hat man hier einfach mal gepflegt ignoriert. Wenn ich dafür korrigiere: 7,54-3,1=4,44 gerundet 4%. Dann komme ich auf ‘rund 4%.‘ Also die Hälfte von dem genannten. Abgesehen davon muss man sich natürlich fragen, inwieweit wöchentliche Sterbezahlen nicht einer gewissen Varianz (Streuung) unterliegen, daher wäre es sinnvoll und statistisch professionell, einen Test auf Plausibilität zu machen, ein Signifikanzniveau anzugeben und ein Konfidenzintervall.“
Weiter kommentiert der Arzt und Kritiker der Corona-Politik: „Dennoch halte ich eine Zunahme der Sterblichkeit für gut möglich, aufgrund der Zunahme der Verschärfung der Maskenpflicht im öffentlichen Raum, die ja mit Beginn des Lockdown light Anfang November in vielen Städten angeschoben wurde. Ich verweise zur Erklärung auf meine Studie. Auf der anderen Seite kann der Verstorbenenanteil zwar als Referenz herangezogen werden. Aber das negiert ja nicht die Aussage der anderen Seite. Beide reden also irgendwie aneinander vorbei.“
Auch ein Bericht des „Statistischen Beratungslabors (Stablab) am Lehrstuhl für Statistik und ihre Anwendung in Wirtschaft und Sozialwissenschaften“ der Universität München stützt die Kritik von Homburg und Fögen (siehe hier). Fazit der Münchner Wissenschaftler: „Todesfälle durch Covid-19 – Adjustiert auf die Einwohnerzahl zeigt sich keine ausgeprägte Übersterblichkeit.“ Die Entwicklung der rohen gemeldeten Fallzahlen von positiv auf SARS-COV2 Gestesteten habe „wenig Aussagekraft“, heißt es in dem Bericht. Die Todeszahlen seien zwar, so wörtlich, „etwas robuster“. Aber, so der Schluss der Wissenschaftler: „Man erkennt, dass in der Altersgruppe der 35-59 Jährigen aktuell eine Untersterblichkeit sichtbar ist.“
„In der Altersgruppe der 60-79 Jährigen zeigt sich auch unter Berücksichtigung der Covid-19-Todesfälle keine Übersterblichkeit“, steht in dem Bericht. Eine etwas andere Situation besteht bei den sehr alten Menschen. Dort gebe es „eine leicht erhöhte Sterblichkeit“. Ziehe man in dieser Gruppe die Todesfälle durch Covid-19 ab, ergebe sich für das Frühjahr und den Frühsommer 2020 eine leichte Untersterblichkeit.
Das Schlussfolgerung der Wissenschaftler (Stand 11. Dezember 2020): „Insgesamt ist somit in der zweiten Welle der Pandemie bisher keine herausstechende Übersterblichkeit zu beobachten, bei der jungen Bevölkerung zeigt sich sogar eher eine Untersterblichkeit.“ Die Autoren warnen auch, dass ihre Arbeit zur Übersterblichkeit „eine Beurteilung der Wirksamkeit“ der Corona-Maßnahmen“ nicht erlaube.
Noch schlimmer: Laut der Arbeit aus München waren die Corona-Einschränkungen genau für die Höchstrisikogruppe nicht erfolgreich: für die über 85-Jährigen. Dazu die Wissenschaftler: „Es zeigt sich deutlich, dass die ergriffenden Maßnahmen (ab KW 45) zur Infektionseindämmung für die hoch vulnerable Bevölkerungsgruppe nicht hinreichend zielführend sind.“
Vor dem Hintergrund der Münchner Arbeit ist ein Twitter-Text von Jonas Danner interessant, der vor einem einseitigen Starren nur auf Zahlen von Corona-Opfern warnt und den Professor Homburg geteilt hat:
„Zahlen lügen nicht, aber sie können schweigen. Die Menschen, die
• jetzt Depressionen haben
• unter Einsamkeit leiden
• ihre über Jahrzehnte aufgebaute Existenz verloren haben
• unter Armut leiden
schaffen es leider nicht in die auf Voodoo-Fallzahlen fokussierte Tagesschau.“
Erschütternde Zahlen
Tatsächlich gibt es etwa in Deutschland keine aktuellen Zahlen zu Suiziden in Deutschland, wie das Gesundheitsministerium auf meine Nachfrage mitteilte. Die Berliner Feuerwehr hat im aktuellen Jahr einen massiven Anstieg bei Einsätzen unter dem Einsatzpunkt „Beinahe Strangulierung/ Erhängen, jetzt wach mit Atembeschwerden“ zu verzeichnen. Während es 2018 sieben solcher Einsätze und 2019 drei gab, waren es 2020 allein bis Oktober 294 Einsätze.
Fazit: Wenn Medien sich nur eine einzelne Woche herausgreifen, um anhand dieser in Schlagzeilen den Eindruck zu erwecken, dass in Deutschland eine Übersterblichkeit herrsche, ist das kein verantwortungsvoller Journalismus. Eher ist Meinungsmache. Auch zutreffende Fakten kann man so präsentieren, dass sie die Menschen in die Irre führen. Gutmütig könnte man hier Arg- und Ahnungslosigkeit annehmen. Vor der man auch selbst als Journalist nie gefeit ist und die einem zwangsläufig auch einmal selbst unterläuft. Böse und etwas überspitzt ausgedrückt könnte man aber, wenn diese Arg- und Ahnungslosigkeit so geballt und vor allem synchron auftritt, auch einen Medien-Trick unterstellen.
PS: Hier noch der aktuelle Tweet von Professor Homburg zu den Daten aus Schweden:
SCHWEDEN: Eine sehr gute Graphik zur unauffälligen Sterbestatistik. Wie macht man damit Panik?
1. Man greift einzelne Monate ("November"!) heraus.
2. Man greift einzelne Städte oder Regionen heraus.
3. Man ignoriert das Bevölkerungswachstum ("150 Jahre!"). https://t.co/59w1jsxtnv— Stefan Homburg (@SHomburg) December 15, 2020
Bild: Des-Green/Shutterstock
Text: red
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