Die Beschimpfung von Andersdenkenden als „Nazis“ ist heute in Deutschland ein Volkssport. Diese Gewohnheit, die Politik und Medien durch die inflationäre Verwendung des Begriffs herbeigeführt haben, ist in mehrerlei Hinsicht fatal. Das geringere Problem ist dabei noch, dass der Kurzbegriff „Nazi“ von der eigentlichen Bezeichnung ablenkt: Nationalsozialisten. Weil hier das Wort „Sozialisten“ vorkommt – mit dem es den „nationalen Sozialisten“ durchaus ernst war, verwenden Linke aller Couleur gerne die Abkürzung. So wie Stalin aus dem gleichen Grund immer von „Faschisten“ sprach, wenn er die Nationalsozialisten meinte. Eine Gewohnheit, die sich ebenfalls eingebürgert hat. Obwohl sie historisch falsch und irreführend ist.
Das größte Problem der inflationären Verwendung des Begriffs „Nazi“ besteht aber darin, dass damit die echten Nationalsozialisten ebenso wie ihre Sympathisanten in der Gegenwart, die Neo-Nazis, auf beispiellose Weise verharmlost werden. Werden etwa Anti-Corona-Demonstranten als „Nazis“ bezeichnet, kommt zumindest unterbewusst bei den Menschen an, dass die „Nazis“ so schrecklich gar nicht gewesen sein können. Besonders bizarr: Hintergrund dieser Verharmlosung ist die Instrumentalisierung des Dritten Reiches zur Bekämpfung Andersdenkender. Eine Strategie, die SED und Stasi in der DDR anwandten. Und die sich spätestens nach der Wiedervereinigung auf das gesamte Deutschland ausbreitete.
Eine Begleiterscheinung dieser Unsitte ist, dass die Vergangenheitsbewältigung weitgehend zu einem Ritual verkümmert ist. Statt sich mit den Ursachen der Katastrophe auseinanderzusetzen – etwa Intoleranz, Hass auf Menschen mit anderen Meinungen, überbordende Emotionalisierung, Mitläufertum, Kadavergehorsam – werden mit teilweise genau diesen Unsitten erneut Andersdenkende bekämpft und als „Nazis“ beschimpft.
Historisches Faktenwissen Mangelware
Eine groß angelegte Jugendstudie der Universität Bielefeld, die am Dienstag vorgestellt wurde, liefert Anhaltspunkte dafür, wie weit die Ritualisierung fortgeschritten ist – weil sie zeigt, dass historisches Faktenwissen Mangelware ist. Nur knapp die Hälfte der befragten 16- bis 25-Jährigen können den Zeitraum der NS-Herrschaft vollständig und korrekt benennen, wie der „Spiegel“ berichtet.
Mehr als die Hälfte der Befragten kennt zwar mindestens drei Opfergruppen des Nationalsozialismus; jeder fünfte Befragte kann aber nur eine oder gar keine Opfergruppe benennen. „Einzelne Opfergruppen sind besonders wenig bekannt. So nennt weniger als die Hälfte der Befragten Kranke und Menschen mit Behinderungen als Opfergruppe, weniger als ein Drittel nennt Sinti und Roma“, berichtet das Blatt.
Gleichzeitig gibt es der Studie zufolge bei jungen Menschen „ein starkes Interesse an der NS-Zeit, an historischen Orten und an möglichen Berührungspunkten zwischen der deutschen Geschichte und der Gegenwart“ – womit wir wieder beim Thema Instrumentalisierung des Dritten Reiches wären.
63 Prozent der jungen Erwachsenen, aber nur 53 Prozent im Durchschnitt aller Altersgruppen, geben an, sich intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt zu haben, heißt es in dem „Spiegel“-Bericht. Wie passt das zusammen? Eine intensive Auseinandersetzung, wenn gleichzeitig fast die Hälfte nicht weiß, wann all das geschah?
Bemerkenswert ist, wie viele große Medien die Studie framen – und als Beleg für den Erfolg der Vergangenheitsbewältigung darstellen:
Entscheidend für die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit sind den Angaben zufolge der Bildungshintergrund der Befragten und der der Eltern. Faktoren wie Alter, Geschlecht oder Herkunftsgeschichte der Familie seien weniger entscheidend. Die große Mehrheit, rund Dreiviertel der 16- bis 25-Jährigen, stellt den Sinn der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte nicht infrage, heißt es in dem Bericht.
Das kann man sehr unterschiedlich interpretieren. Dass eine Auseinandersetzung stattfinden muss, ist unstrittig. Die Frage, ob sie in der Form, wie sie aktuell geschieht, sinnvoll ist, ob wir die richtigen Lehren ziehen aus den Verbrechen des Nationalsozialismus, wäre dagegen geradezu verpflichtend. Eben auch, weil alles hinterfragt werden muss. Und uns gerade die NS-Zeit lehrt, dass Verbote des Hinterfragens fatal sind.
Anderslautenden Klischees zufolge hätten die jungen Erwachsenen mehrheitlich kein historisches und politisches Desinteresse, beteuert einer der Studienautoren, Jonas Rees, vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld laut „Spiegel“. Gleichzeitig zeigen sich nach seiner Angabe auch „systematische Lücken mit Blick auf ganz grundlegendes Wissen um historische Fakten“.
Ausgrenzung und Diskriminierung
60 Prozent der Befragten gaben an, die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte habe sie für Themen wie Ausgrenzung und Diskriminierung sensibilisiert. Inwieweit dabei nur bestimmte Formen von Ausgrenzungen und Diskriminierungen gemeint sind, bleibt unklar. Ob etwa auch eine Sensibilisierung für die Ausgrenzung und Diskriminierung von Ungeimpften stattgefunden hat, bleibt zweifelhaft. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Ende 2021 Ungeimpfte etwa nicht mehr in die Ausstellung über Ausgrenzung an der KZ-Gedenkstätte Buchenwald durften (siehe hier).
Jeder Dritte berichtet der Studie zufolge, dass er sich im Alltag zumindest teilweise selbst diskriminiert fühlt. Das trifft insbesondere auf junge Menschen aus migrantischen und aus einkommensschwachen Familien zu sowie auf junge Menschen, deren Eltern einen niedrigen Bildungsgrad haben. Ob hier auch gezielt nach den Gefühlen von Ungeimpften gefragt wurde, bleibt unklar.
An dem Stellenwert, den die Erinnerung an die NS-Verbrechen heute hätten, lasse sich „nicht nur ablesen, was wir kollektiv erinnern, sondern auch, was wir kollektiv vergessen“, sagt Studienautor Rees. Für mich ein enttäuschendes Fazit. Denn so fern es mir liegt, die Corona-Zeit mit den 1930er Jahren gleichzusetzen – so offensichtlich ist für mich, das gewisse Mechanismen, die damals eine Rolle spielten, im Rahmen der Corona-Politik wie per Knopfdruck wieder quicklebendig wurden.
Keine Selbstkritik
Sich die Erinnerung auf die Fahnen zu schreiben, dann aber bei solchen Entwicklungen wegzusehen, halte ich für fatal. Mir hat die Corona-Zeit den Glauben geraubt, dass die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland erfolgreich war. Der beste Satz in diesem Zusammenhang stammt von Henryk M. Broder: „Wenn ihr euch fragt, wie das damals passieren konnte: weil sie damals so waren, wie ihr heute seid.“ Solange dieser Aspekt ausgeklammert wird und die offizielle Vergangenheitsbewältigung jegliche Selbstkritik ausschließt, solange sie als Vorwand verwendet wird, um Andersdenkende auszugrenzen, ist sie nicht nur eine Schimäre. Schlimmer noch: Sie wird missbraucht.
Für die Studie wurden 3485 repräsentativ ausgewählte junge Menschen zwischen 16 und 25 Jahren im September/Oktober 2021 sowie 838 Teilnehmer (laut Spiegel „Teilnehmende“, obwohl sie schon lange nicht mehr teilnehmen) erneut im September 2022 online befragt. Gefördert wurde die Studie von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft.
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