Viele Deutsche glauben, dass ihr Land im Ausland immer noch überall gefürchtet ist. Zu Unrecht. Zumindest für die frühere Sowjetunion kann ich das kompetent beurteilen. Von Kaliningrad bis Wladiwostok habe ich 16 Jahre lang erlebt, dass die Deutschen fast durchweg beliebt sind. Teilweise hatte das Lob für die „Nemzy“, wie die Deutschen auf Russisch heißen, sogar etwas Beklemmendes. Etwa als mir Stalingrad-Veteranen von der Tapferkeit und Hartnäckigkeit derjenigen vorschwärmten, die damals gekommen waren, um ihr Land dem Erdboden gleichzumachen. Nur in einem Bereich mischte sich die Faszination für die Deutschen vor allem bei den gebildeten Russen, Ukrainern, Georgiern und anderen immer wieder mit etwas Sorge: So sehr sie den deutschen „Perfektionismus“ schätzen, vor allem in Stahl gegossen in Form deutscher Autos, so unheimlich ist ihnen der deutsche Drang, alles bis zum Exzess zu führen und einen einmal eingeschlagenen Weg ohne Rücksicht auf Verluste bis zum Ende gehen zu wollen. Weltbeglückung inklusive. Und sei es um den Preis des eigenen Untergangs.
Genau dieser Drang ist aktuell wieder zu spüren. „Null-Fälle-Strategie soll Deutschland aus der Corona-Krise führen“, titelt gerade die Zeit. Und weiter: „Infektionen auf null bringen und konsequent eindämmen: Führende Forscher schlagen der Kanzlerin einen No-Covid-Plan vor. ZEIT ONLINE veröffentlicht das Papier exklusiv.“ Ich traue mich nicht mal zu schreiben, in diesen hysterischen Zeiten, was für historische Parallelen mir bei solchen Plänen als erste in meinen Kopf kamen. Während kluge, nachdenkliche Köpfe wie der Virologe Streeck, auf den leider nicht gehört wird, mahnen, wir würden das Virus nicht mehr los, und wir müssten uns auf ein Leben mit ihm einstellen, haben in den Medien und in der Politik die „Moralibans“ die Oberhand. In der Aktion „ZeroCovid“ finden sich die üblichen Verdächtigen wieder: Migrations-Aktivisten und Klima-Ideologen wie Luisa M. Neubauer, die junge Frau aus gut betuchtem Hamburger Elternhaus.
Der wieder erwachte Größenwahn in Tateinheit mit massiver Horizont-Beschränkung von Teilen unserer Politik, Medien und vorzugsweise Gutbetuchten, hat nach der Rettung des Weltklimas und des afrikanischen Kontinents sowie Not leidender asiatischer Länder ein neues Objekt seiner Erlösungssehnsucht: Das Virus. Wenn es schon wegen der vielen reaktionären Kräfte im eigenen Land nicht gelingt, das CO2 von Deutschland aus weltweit zu vernichten und Milliarden Arme nach Deutschland zu retten, wie es der progressive Teil der deutschen Gesellschaft natürlich lieber heute als morgen tun würde (allerdings nicht mit dem eigenen Geld und in den eigenen Wohnungen), dann muss das winzige Deutschland wenigstens beim Virus das schaffen, was noch keiner vollbrachte und kaum einer sich vornahm: Das Virus ausrotten. Wer so was vor hat, wer sich anmaßt, derart die Natur zu beherrschen, der ist auch nicht mehr weit entfernt vom Traum vom Übermenschen. Der sich dann im Ökosozialismus mit grüner Kommandowirtschaft entfalten kann.
Vorfahrt für Hardliner
Die Anhänger der „Null-Fälle-Strategie“ sind nicht etwa nur Aktivisten ohne Einfluss. Unter den Verfassern des Papiers sind auch die Virologin Melanie Brinkmann und der Physiker Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum – die zum erlesenen Kreis der acht Wissenschafter gehören, die gestern Kanzlerin und Länderchefs bei der entscheidenen Expertenrunde für das weitere Vorgehen berieten. Also schon mal ein Viertel der Runde ausmachten – wobei jemand wie Drosten, der mit dabei saß, kaum weniger radikal sein dürfte. Anhänger eines gemäßigten Kurses wie Professor Streeck ließen Kanzlerin und Ministerpräsidenten erst gar nicht in den erlesenen Kreis – dafür denjenigen, der uns das Schweinegrippen-Desaster eingebrockt hat.
Wenn künftige Historiker aufklären müssen, wie damals 2020 und 2021 die deutsche Politik wieder einmal in totalitäres Denken abglitt, werden sie die ewig gleichen Muster finden wie bei den vorherigen Katastrophen: Eine kollektive, geschürte Angst, mit der das Außer-Kraft-Setzen der Grundrechte zur Bürgerpflicht für die Rettung erklärt wird, Größen- und Machbarkeitswahn, Ausschalten der Rationalität und Logik durch Panikmache, kollektiver, vorauseilender Gehorsam in den Medien, Sehnsucht nach strammer, autoritärer Führung und harter Hand mit Heilserwartung, Hass und Hetze gegen diejenigen, die anders sind oder anders denken, Hang zum Mitläufertum und Denunzieren, Apathie und Schweigen der Mehrheit. Statt Hurra-Patriotismus oder Klassenbewusstsein diesmal Virus-Patriotismus und „Haltung“. Mit Kampf bis zur Vernichtung des letzten Restaurants unter Nutzung der letzten Spritze. Mit einem implementierten Hang zur Selbstvernichtung.
Dabei müssen doch bei jedem denkenden Menschen spätestens dann alle Alarmglocken klingeln, wenn führende Experten, auf die die Regierung hört, die „Null-Fälle-Strategie“ propagieren. Sondern auch eine menschenfeindliche Lösung, wie der Blick in Länder wie Schweden oder Russland zeigt. Auch ohne die Tötung des öffentlichen und sozialen Lebens versinken sie nicht in einer Katastrophe. Besonders alarmierend ist, dass es deutliche Anzeichen dafür gibt, dass Merkel andere Länder mit Geld als Druckmittel dazu bringt, ihrem fatalen „Einsperr-Kurs“ zu folgen. Am deutschen Wesen soll wieder einmal die Welt genesen. Und das Virus.
Corona als Brandbeschleuniger
So sehr ich überzeugt bin, dass die große Mehrheit der Menschen in Deutschland ihr Herz am rechten Fleck hat und für radikales Handeln kein Verständnis aufbringt: Wieder einmal werden sie von Politik und Medien in die Irre geführt und verführt. Von Politikern und ihren Helfern, denen es in meinen Augen schlicht an Empathie mangelt. Die im besten Fall nur auf Ziffern und im schlimmsten nur auf ihre Ideologie sehen, statt auf lebendige Menschen, statt auf den kolossalen Schaden, den ihre Politik anrichtet. Man hat fast den Eindruck, für manchen Ideologen ist das Virus eine Art Glücksfall: Ohne Covid-19 gingen ihre Pläne zum völligen Umwälzen und Neugestalten der Gesellschaft etwa im Rahmen von Migration und Klimapolitik nicht schnell genug. Corona ist für sie der Brandbeschleuniger beim Abbrennen des Fundaments unserer Gesellschaft. In dem Wahn, sie verstünden es, etwas Neues, Besseres zu bauen. Geschichte wiederholt sich. Und wer sich immer gefragt hat, warum die Menschen das mit sich machen ließen, erlebt es jetzt live.
PS: Vor über zwanzig Jahren war ich bei einem Hintergrundgespräch mit einem der ranghöchsten Würdenträger des Vatikans. Warum Papst Johannes Paul II. so streng sei, wurde er gefragt. Die Antwort werde ich nie vergessen: „Ist er doch gar nicht! Der ganze Kurs ist darauf ausgerichtet, dass alles zu zehn Prozent eingehalten wird in der Welt. Nur die Deutschen machen alles hundertprozentig oder noch mehr, dabei wollen wir das doch gar nicht und dann beklagen sie sich, wie streng wir sind. Niemand erwartet völligen Gehorsam“. An diese Worte muss ich in Corona-Zeiten ständig denken, wenn ich das Argument höre, andere Länder hätten ähnliche strenge oder strengere Regeln. Auf dem Papier.
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Text: br