Mehr Geld im Portemonnaie? – Die wahre Entwicklung der Reallöhne Sechs verlorene Jahre: Warum die Reallöhne seit 2018 stagnieren

Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger

Das Gedächtnis des Bundeskanzlers ist legendär und manche wünschen sich inzwischen, er würde auch vergessen, welches Amt er bekleidet und sich in den unverdienten Ruhestand zurückziehen. Immerhin neigt er nicht dazu, die Vergangenheit zu verklären und in Erinnerung an Loriots Opa Hoppenstedt „Früher war mehr Lametta!“ auszurufen. Im Gegenteil, wie es seinem Naturell entspricht, schaut er fröhlich in die Zukunft und erfreut sich an den wegweisenden Erfolgen der Gegenwart.

So auch am 29. August 2024, als er auf der teuflisch-rechtsradikalen Plattform X zum Besten gab: „Die Leute haben wieder mehr Geld im Portemonnaie. Die Inflation sinkt, die Reallöhne steigen das fünfte Quartal in Folge. Vor allem Bürgerinnen und Bürger mit kleinem Einkommen profitieren. Gut so, wir bleiben dran!“ Wenn der Bundeskanzler meint, dass sie „dran“ bleiben, ist das sicher ein Grund zur Sorge, denn wann immer sich die erbärmlichste Bundesregierung seit Gründung dieses Staates intensiv einem Problem widmet, darf man sicher sein, dass es nicht gelöst, sondern verschlimmert wird. Tatsächlich wüsste man auch gern, woher er die Erkenntnis nimmt, dass gerade die „Bürgerinnen und Bürger mit kleinem Einkommen profitieren“. Wenn nämlich Löhne beispielsweise um drei Prozent steigen, dann hat man bei einem bisherigen Einkommen von 5000 € immerhin 150 € mehr auf dem Lohnzettel, während die Steigerung bei 2000 € gerade einmal 60 € beträgt.

Wie dem auch sei, irgendetwas musste er ja zur Beschwichtigung der Menschen mit eher niedrigem Einkommen sagen, die ihm ansonsten völlig gleichgültig oder sogar lästig sein dürften, weil sie seinen Plänen zur Rettung des Weltklimas und zum Niedergang der deutschen Wirtschaft ein wenig im Wege stehen. Aber hat er denn recht? Haben die Leute wieder „mehr Geld im Portemonnaie“? Die Frage zu stellen heißt, ihre Sinnlosigkeit zu bemerken. Denn „mehr“ braucht immer einen Vergleichspunkt, man kann sagen „mehr als der Nachbar“ oder „mehr als letztes Jahr“, doch das pure „mehr“ sagt exakt das aus, was der Kanzler an Charisma besitzt: nichts.

Es stimmt allerdings: Der sogenannte Reallohnindex ist fünf Quartale hintereinander gestiegen. Aber was bedeutet das? Werfen wir zunächst einen Blick auf diesen Index. Um die Entwicklung der Löhne und Gehälter zu beschreiben, kann man zunächst eine Kennzahl für die auf dem Papier gezahlten Löhne entwickeln, den „Nominallohnindex“. Nun nützt es aber wenig, wenn im ersten Jahr beispielsweise 2000 € bezahlt werden und im zweiten 2040 €, sofern die Preissteigerung innerhalb dieses Jahres bei etwa 4% liegt. Die Lohnerhöhung beträgt dann zwar 2% , aber die Preise steigen bedauerlicherweise um 4%, sodass man im zweiten Jahr trotz nominell höheren Lohnes in Wahrheit weniger in der Tasche hat als im ersten. Deshalb greift man auf den erwähnten Reallohnindex zurück, der in Kombination aus der Entwicklung der Nominallöhne und der Preise angibt, wie sich das tatsächliche Einkommen entwickelt hat.

Diese Arbeit hat uns das statistische Bundesamt abgenommen. Im Folgenden zeige ich einen kleinen Teil aus der entsprechenden Tabelle.

Die Originaltabelle gibt die Werte bis 2008 an, aber so weit muss ich hier nicht gehen. Die Zahl 3,1 für das zweite Quartal 2024 sagt nur, dass sich der Reallohnindex in diesem Quartal um 3,1% erhöht hat – und zwar im Vergleich zum zweiten Quartal 2023. Die Bezugsgröße ist somit immer das entsprechende Quartal des vorherigen Jahres. Daher musste man zum Beispiel im ersten Quartal 2023 einen – im Vergleich zum ersten Quartal 2022 – um 2,4% verringerten Reallohnindex beklagen.

Ich komme nun zur Aussage unseres stets gutgelaunten Kanzlers. Um sie genauer beurteilen zu können, muss ich die Entwicklung der Reallöhne sowohl im jeweiligen ersten als auch im zweiten Quartal über einige Jahre hinweg betrachten. Ich beginne dabei mit dem Jahr 2018 und ende 2024 – dritte und vierte Quartale kann ich nicht aufnehmen, denn für 2024 liegen Daten darüber selbstverständlich noch nicht vor. Die folgende Tabelle gibt die Entwicklungszahlen an, die man auch in der Tabelle des Bundesamtes sehen kann, nur etwas anders sortiert.

Entwicklung des Reallohnindex
2019 2020 2021 2022 2023 2024
1. Quartal 1,1% 0,1% -2,2% -0,8% -2,4% 3,8%
2. Quartal 1,3% -4,7% 3,2% -4,2% 0,1% 3,1%

Wie man sieht, hat sich der bewusste Index zum Beispiel vom ersten Quartal 2018 bis zum ersten Quartal 2019 um 1,1% gesteigert, während der Vergleich der zweiten Quartale ein Wachstum von 1,3% ergibt.

Und nun nehme ich das Jahr 2018, das immerhin sechs Jahre zurückliegt, als Bezugspunkt. Wie haben sich die Reallöhne in der Zeit von 2018 bis 2024 entwickelt, immer im Hinblick auf die ersten beiden Quartale? Zu diesem Zweck ordne ich dem Jahr 2018 den Wert 100 zu und sehe nach, welche Entwicklung sich daraus ergibt. Vom ersten Quartal 2018 bis zum ersten Quartal 2019 ist der Reallohn um 1,1% gewachsen, und da 1,1% von 100 genau 1,1 sind, ergibt sich für das erste Quartal 2019 der Wert 101,1. Für das nächste Jahr zeigt die Tabelle nur noch ein Wachstum von 0,1% – aber 0,1% von den bisher erreichten 101,1 sind genau 0,1011, also findet sich für 2020 ein Wert von 101,2011, gerundet auf 101,20. Zum ersten Quartal 2021 ändert sich die Lage, denn die Entwicklung war negativ: 2,2% muss ich von 101,20 abziehen, und das liefert das Ergebnis 98,97 – verglichen mit 2018 musste man 2021 Verluste hinnehmen. Die nachstehende Tabelle zeigt die gesamte Entwicklung.

Entwicklung des Reallohnindex
2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024
1. Quartal 100,00 101,10 101,20 98,97 98,18 95,83 99,47
2. Quartal 100,00 101,30 96,54 99,63 95,44 95,54 98,50

Im Jahr 2019 gab es in beiden Quartalen eine leichte Steigerung. Das erste Quartal 2020 zeigte noch eine kaum bemerkbare positive Entwicklung, aber dann war Schluss: Seither liegen die Vergleichszahlen zu 2018 durchgängig unter 100, und das heißt: Die Menschen haben in Wahrheit noch immer weniger in der Tasche als 2018. Die Indices der letzten fünf Quartale sind gestiegen, das stimmt. Aber seit Jahren erreichen die Reallöhne nicht mehr das Niveau von 2018. „Die Leute haben wieder mehr Geld im Portemonnaie“? Etwas mehr als noch letztes Jahr, das ist wahr. Doch die Verhältnisse sind immer noch schlechter als 2018, das ist ein großer Erfolg einer durchdachten Politik.

Aber warum ausgerechnet das Basisjahr 2018? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Es war noch ein einigermaßen normales Jahr, obwohl auch damals schon 13 lähmende Merkel-Jahre hinter uns lagen. Die sonderbare PCR-Pandemie war bestenfalls ein Traum der Pharma-Industrie und ihrer Aktionäre und auch die hysterische Klimapanik war noch nicht ganz so ausgeprägt. Doch der wichtigste Grund ist: Im März 2018 wurde Olaf Scholz, der sich so sehr über die Portemonnaies anderer Leute freut, Bundesfinanzminister, im Dezember 2021 hat man ihn bedauerlicherweise zum Bundeskanzler gewählt. Seit 2018 bestimmt er also maßgeblich über die deutsche Politik, insbesondere im Bereich Finanzen und Wirtschaft. Ich gebe gern zu, dass man im ersten Ministerjahr vielleicht noch nicht sehr viel bewerkstelligen und daher auch nicht viel Schaden anrichten kann; das könnte der Grund sein, warum die Reallöhne 2019 noch leicht stiegen. Seither Rückgang und Stagnation. Dabei hätte es Möglichkeiten der Korrektur gegeben und es gibt sie immer noch. Man könnte auf inflationstreibende überhöhte Energiepreise verzichten, auf CO2-Bepreisungen, auf überflüssige Steuern und Abgaben aller Art, die nicht nur die Löhne reduzieren, sondern auch die Kosten der Firmen erhöhen, die sie so gut wie möglich auf die Kunden umlegen. Ich darf in diesem Zusammenhang beispielsweise an die Erhöhung der Umsatzsteuer in der Gastronomie erinnern, die Scholz früher so vehement abgelehnt hatte. Niedrigere Preissteigerungen führen zu erhöhtem Reallohniveau. Man könnte auch die staatlich verordneten Belastungen der Unternehmen reduzieren, sodass mehr Mittel zu stärkeren Lohnerhöhungen übrig bleiben. Aber all das interessiert diese Regierung nicht und hat sie schon früher nicht interessiert. Übergriffige und ökonomisch verheerende Maßnahmen zur Zeit der PCR-Seuche haben das Ihre getan, um das Reallohnniveau zu senken, eine irrsinnige Klima- und Energiepolitik tut es noch heute. Wenn Firmen reihenweise den Weg in die Insolvenz antreten, trägt das nicht unbedingt zu einer Verbesserung des Reallohnindex bei.

Ich wiederhole: Das Niveau der Reallöhne war in den beiden bisher erfassten Quartalen des Jahres 2024 niedriger als in den entsprechenden Quartalen des Jahres 2018. Eine zwischenzeitliche Erhöhung begann auf der niedrigen Ebene, in die uns die katastrophale Politik dieser Regierung und ihrer Vorgängertruppe gebracht hat – es waren sechs verlorene Jahre für die realen Einkommen. „Gut so, wir bleiben dran!“, sagte der Bundeskanzler.

Das ist kein Versprechen. Das ist eine Drohung.

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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.

Bild: Shuttesrtock

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