Von Christian Euler
Mehr als 168 Millionen Kinder weltweit haben seit fast einem Jahr keine Schule mehr von innen gesehen. 214 Millionen – oder eines von sieben Kindern – haben mehr als drei Viertel ihres Unterrichts verpasst. Dies zeigt ein in dieser Woche vorgestellter Bericht des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen UNICEF.
Dies kommt einer Vernichtung von Humankapital in Billionenhöhe gleich. „Auf die Volkswirtschaft hochgerechnet würde sich als Folge von 18 Wochen Schulausfall – zwölf Wochen im Frühjahr 2020 und weitere sechs jetzt – ein Verlust von 3,3 Billionen Euro bis zum Ende des Jahrhunderts ergeben“, rechnete der Bildungsökonom des Ifo-Instituts, Ludger Wößmann, Ende Januar vor – nur in Deutschland. Global betrachtet prognostiziert die Weltbank, dass die Schulschließungen zu einem Verlust von mindestens 10 Billionen US-Dollar an Lebenseinkommen für diese Generation führen könnten.
Zudem deuten laut einem Policy Research Working Paper der Weltbank erste Erfahrungswerte aus Schulschließungen auf eine Zunahme von Frühehen und sexueller Gewalt in einigen Ländern und eine verstärkte Beteiligung der Kinder an der Hausarbeit hin.
„Mit jedem Tag, der vergeht, werden diese Kinder weiter zurückfallen und die Schwächsten werden den höchsten Preis zahlen“, mahnt die UNESCO in ihrem Bericht „Covid-19 und Schulschließungen. Ein Jahr ohne Schule.“ Danach haben sich weltweit allein 14 Länder von März 2020 bis Februar 2021 weitgehend im Lockdown befunden. Zwei Drittel dieser Länder gehören zu Lateinamerika und der Karibik, mit fast 98 Millionen Schulkindern. Betroffen waren vor allem die ärmsten Entwicklungsländer: Von den 14 Ländern waren die Schulen in Panama (211) die meisten Tage geschlossen, gefolgt von El Salvador (205), Bangladesch (198) und Bolivien (192). Weltweit versäumten 214 Millionen Schüler der Vorschulstufe bis zur Sekundarstufe II in 23 Ländern mindestens drei Viertel der Unterrichtszeit.
Schulschließungen haben verheerende Folgen für das Lernen und das Wohlbefinden von Kindern. Die am stärksten gefährdeten Kinder und diejenigen, die keinen Zugang zu Distanzunterricht haben, sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, nie wieder in die Schulen zurückzukehren und zu Kinderehen oder Kinderarbeit gezwungen zu werden.
Verwaiste Klassenzimmer in jedem Winkel der Welt
„Während wir uns dem ersten Jahrestag der Covid-19-Pandemie nähern, werden wir erneut an die katastrophale Bildungskrise erinnert, die die weltweiten Lockdowns verursacht haben“, mahnte UNICEF-Exekutivdirektorin Henrietta Fore. Um auf die Bildungskrise aufmerksam zu machen und ein Bewusstsein für die Notwendigkeit zu schaffen, dass Regierungen Schulen offenhalten oder ihnen bei den Plänen für Lockerungsmaßnahmen Priorität einräumen müssen, hat UNICEF kürzlich die Installation „Pandemic Classroom“ enthüllt – ein Modell-Klassenzimmer, das aus 168 leeren Schreibtischen besteht. Jeder einzelne Schreibtisch steht für die Millionen Kinder, die in Ländern leben, in denen Schulen seit einem Jahr fast vollständig geschlossen sind – eine Erinnerung an die verwaisten Klassenzimmer in jedem Winkel der Welt.
„Dieses Klassenzimmer repräsentiert die Millionen von Bildungszentren, die leer geblieben sind – viele für fast ein ganzes Jahr“, so Fore. Hinter jedem freien Stuhl hänge ein leerer Rucksack – ein Platzhalter für das hintenangestellte Potenzial eines Kindes.
Ihr eindringlicher Appell sollte die Befürworter des Schul-Lockdowns wachrütteln: „Wir wollen nicht, dass verschlossene Türen und geschlossene Gebäude die Tatsache verschleiern, dass die Zukunft unserer Kinder auf unbestimmte Zeit aufgeschoben wird.“ Nach den Erfahrungen der letzten Monate dürfte der Hilferuf bei den Verantwortlichen vermutlich auf taube Ohren stoßen.
Bild: Malikov Aleksandr/Shutterstock
Text: ce
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