Bekenntnisse eines Unverbesserlichen Bilanz nach einem Jahr Pandemie-Bekämpfung

Ein Gastbeitrag von Elino Ernst*

Für gewöhnlich werden die Deutschen als Verfassungspatrioten beschrieben. Manch ein Jurist hielt das Verhältnis seiner Landsleute zum Grundgesetz gar für zu emotional und forderte mehr Nüchternheit. In der jetzigen Krise stellen sich jedoch ganz andere Fragen als die nach zu viel Enthusiasmus: Verteidigen die Bürger ihre Grundrechte? Und gilt ihre Begeisterung für die 146 Artikel nur in guten oder auch in schlechten Zeiten?

Die Bundesregierung und die Landesregierungen haben in den letzten elf Monaten den für ihren Machterhalt am wenigsten riskanten Weg zur Eindämmung des Sars-CoV-2-Virus eingeschlagen: die Nachahmung. Statt eigene Ideen zu entwickeln, wie das in Schweden sehr erfolgreich praktiziert worden ist, wurden Maßnahmen aus anderen Ländern weitgehend kopiert. Die meisten westlichen Staaten handelten so und orientierten sich am Vorgehen in China, indem sie Lockdowns verhängten. Im Konkurrenzkampf der Systeme besiegt der Autoritarismus im Bereich der Pandemie-Bekämpfung die liberale Demokratie. Kritik in europäischen Ländern wird mit Verweis auf vergleichbare Herangehensweisen anderswo pariert. In einen Rechtfertigungsdruck gerät damit nicht derjenige, welcher schärfste Einschränkungen bis hin zur Aussetzung zahlreicher Grundrechte anordnet, sondern nur jener, der bewusst einen eigenständigen Kurs wählt – selbst wenn dieser schonend mit den Werten der Verfassung verfährt.

Ende März 2020 stellte die Mehrheit des Bundestages eine epidemische Lage von nationaler Tragweite fest. Seither gilt eine Notstandsgesetzgebung: Der Bundesgesundheitsminister und die Bundesländer regieren mit Verordnungen. Ein in der Verfassung nicht vorgesehenes Gremium, in dem sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten treffen und sich auf die Fortsetzung oder Verschärfung schwerwiegender Grundrechtseinschränkungen einigen, ersetzt parlamentarische Debatten. Der Gesetzgeber hat sich zum Zuschauer degradiert. Grundrechte und Parlamentarismus wurden ins künstliche Koma versetzt.

Die Bundesregierung und die Landesregierungen wollen sich nicht vorwerfen lassen, nicht alles versucht zu haben, um die Zahl der durch eine Infektion mit dem Sars-CoV-2-Virus Versterbenden so gering wie möglich zu halten. Diesem Ziel wird alles andere untergeordnet oder geopfert: die Grundrechte, die Freiheit, der Rechtsstaat, die Demokratie, die Kultur, die Wirtschaft, der Wohlstand, die Bildung, die berufliche Betätigung, der Sozialstaat, die Familie, die Begegnung, das öffentliche Leben, die Lebensfreude, das Vergnügen, die Gesundheit, das Sterben (durch andere Ursachen) und vieles mehr. Es geht längst nicht mehr darum, jedem eine medizinische Behandlung sicherzustellen, sondern bei den nächsten Wahlen gut abzuschneiden, zumal die politische und mediale Beschäftigung mit dem Virus sich zum monothematischen Exzess entwickelt hat. Je näher die Daten rücken, an denen die Landtagswahlen und die Bundestagswahl stattfinden, desto härter und strenger wird der Lockdown, obwohl die Fallzahlen der positiv Getesteten sinken und keine Übersterblichkeit im Jahr 2020 zu verzeichnen war. Mit Verweis auf Mutationen wurden Grundrechte präventiv für die nächste Zeit ausgesetzt, obwohl die tragfähige tatsachengestützte Begründung einer besonderen Gefährlichkeit der Mutationen fehlt. Kritische Nachfragen sind ohnehin nicht erwünscht. Schließlich tue die Regierung doch alles Menschenmögliche und in der Krise müsse Kritik unterbleiben, wird aus dem Bundeskanzleramt und den Staatskanzleien der Länder unisono in gereizter Endlosschleife signalisiert.

Umfragen sind der Fetisch im postideologischen Zeitalter und der Taktgeber der Politik. Sie verdeutlichen, dass eine Mehrheit der Deutschen den Kurs der Regierung stützt. Die Parteien CDU und CSU erleben bei den Demoskopen Höhenflüge, weil sich ihre Vertreter in der Exekutive als Macher und Entscheider inszenieren. Lange Zeit spürten Politiker einen zunehmenden Machtverlust. Ihr bescheidener Einfluss auf die Gestaltung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hatte kaum oder geringe Auswirkungen auf den Alltag der Bürger.

Bundesinnenminister Seehofer ließ sich vor Jahren in der Sendung »Pelzig unterhält sich« zu einem an Ehrlichkeit kaum zu überbietenden Statement hinreißen, als er bekannte, im Grunde entscheide die Wirtschaft und Politiker seien zu Statisten degradiert worden. In der Krise nahm die Macht der Politiker in der Exekutive enorm zu und ihre Beschlüsse haben unmittelbare und schwerwiegende Folgen für das Leben jedes Einzelnen. Nie zuvor in der Bundesrepublik Deutschland konnten sich Regierende so wirkmächtig fühlen wie gegenwärtig – ein Zustand, den manche zu genießen scheinen und der bei schwachen Charakteren regelrecht zu Allmachtsphantasien führen kann.

MERKEL

Die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag wird in der kommenden Legislaturperiode voraussichtlich rund ein Viertel größer sein, als dies noch vor einem Jahr zu erwarten gewesen wäre. Gute Wahlergebnisse zu erzielen ist ein Hauptzweck von Parteien. Solange mit harten Maßnahmen der beharrliche Einsatz gegen die Pandemie demonstriert werden kann, bleiben diese bestehen. Die gravierenden ökonomischen Verluste dürfen aus der Sicht der Wahlkämpfer erst nach der Bundestagswahl sichtbar werden; deshalb ist davon auszugehen, dass Insolvenz-Ausnahmetatbestände und die Auszahlung von Hilfsgeldern bis Ende September 2021 verlängert werden. Allen Einwohnern soll bis zum 21. September 2021 ein Impfangebot unterbreitet werden. Fünf Tage später findet die Bundestagswahl statt. Die politischen Entscheidungsträger setzen sich als taktisch versierte Kümmerer in Szene.

Wer kann die Exekutive noch in die Schranken weisen, zumal sich die Parlamente aus dem Spiel genommen haben? Von allen Institutionen genießt das Bundesverfassungsgericht das größte Vertrauen der Deutschen, das sich seine Reputation mit der Abwehr übergriffiger, also verfassungswidriger Gesetze verdient hat. Bislang hatten Beschwerden gegen das coronabedingte Verbot von Demonstrationen keinen Erfolg. Wie es der Zufall will, sitzt an der Spitze des Ersten Senats, jenes Senats also, der für die Grundrechte zuständig ist, der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Stephan Harbarth. In der Vergangenheit hat beispielsweise Ernst Benda eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass sich ein an das Bundesverfassungsgericht berufener Politiker sehr schnell von alten Loyalitäten emanzipieren kann. Wie der Verfassungsrichter Harbarth eines Tages beurteilt werden wird, kann heute noch nicht prognostiziert werden.

Es war Angela Merkel, die immer wieder in anderem Zusammenhang auf die Stärke des Rechts im Kontrast zum Recht des Stärkeren verwiesen hat. Heute entzieht sich die Kanzlerin mit Verweis auf eine Virusbekämpfung genau dieser Stärke des Rechts, glaubt gar, Freiheitsrechte stünden der Pandemie-Eindämmung im Weg und proklamiert das Recht der Stärkeren, nämlich ihr exekutives Durchregieren mit allenfalls parlamentarischen Plauderstunden im Anschluss an die Beschlüsse, die sie im Konzert mit den Ministerpräsidenten getroffen hat. Dies steht in diametralem Kontrast zu ihren Anfangstagen als Kanzlerin, als sie ihre am 1. Dezember 2005 gehaltene Regierungserklärung mit den Worten „Lasst uns mehr Freiheit wagen!“ überschrieb. Merkel trägt in der Ausübung ihrer Richtlinienkompetenz die politische Hauptverantwortung für die aktuellen Eingriffe in die Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für eine Notstandsgesetzgebung und für die Kollateralschäden in Wirtschaft, Gesellschaft, Bildung, Kultur und etlichen anderen Bereichen.

Zahlreiche Unionspolitiker werden nach derzeitigen Umfragen im September 2021 zusätzlich in den Bundestag gewählt werden. Ihre politische Karriere verdanken sie dem gegenwärtigen Autoritarismus. Dass sie leidenschaftlich für die Freiheit und den Parlamentarismus kämpfen werden, ist noch unwahrscheinlicher als bei vielen heutigen Abgeordneten, die den Eindruck erwecken, sich ihrem Schicksal gefügt zu haben, solange die eigene Partei Teil der Exekutive ist. Wer in unserem Land verteidigt denn die liberale Demokratie am entschiedensten? Die Antwort ist politisch nicht korrekt, aber entspricht den Fakten: die Querdenker. Was auch immer über sie geschrieben und medial verbreitet wurde, entspringt eher dem Wunsch nach störungsfreiem Krisenmanagement und fehlender Bereitschaft zum Diskurs über die freiheitseinschränkenden Maßnahmen durch die politisch Handelnden, weswegen das Engagement der Querdenker mit abwegigen und böswilligen Beleidigungen (Nazis, Rechtsextreme, Verschwörungstheoretiker, Antisemiten, Covidioten) quittiert wird. Denn es ist unerheblich, ob sich Personen unter die Demonstranten gemischt haben, auf die die Zuschreibungen zutreffen oder ob Gewalt von zeitgleich stattfindenden Kundgebungen ausgingen.

Zu Freiwild erklärt

Die Querdenker haben die Prämisse jeder politischen Bildungsveranstaltung in Deutschland „Wehret den Anfängen“ verinnerlicht und von Beginn an mit dem Grundgesetz in der Hand demonstriert. Sie wollen jeden Anflug von Autoritarismus im Keim ersticken und haben grundrechtseinschränkende Maßnahmen deshalb öffentlich kritisiert. Sie zu Verfassungsfeinden abzustempeln ist daher an Absurdität kaum zu überbieten. Die Studie der Universität Basel zeigt auf, dass die Querdenker zu 21 Prozent Bündnis 90/Die Grünen ihre Stimme gegeben haben; etwas abgeschlagen folgen Anhänger der Linkspartei und der AfD. Unter den Querdenkern sind zahlreiche in ihrer Existenz gefährdete Selbstständige und darüber hinaus viele, die sich ungern vom Staat etwas vorschreiben lassen wie jene, die Impfungen grundsätzlich nicht befürworten, was dank der Meinungsfreiheit eine legale und legitime Haltung ist. Eine Analyse des BKA von Ende November 2020 kommt zu dem Schluss, dass die Gefahr besteht, dass nicht von Querdenkern, sondern gegen Querdenker Gewalt ausgeübt wird. Dies wundert nicht, da Querdenker gewissermaßen zu Freiwild erklärt wurden. (Der Verfasser ist kein Querdenker, im Übrigen ein Impfbefürworter und hat nie eine Querdenker-Demonstration besucht.)

Man kann inzwischen den beruflichen oder sozialen Tod sterben, sollte man wagen, die Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung öffentlich zu kritisieren. Die deutsche Gesellschaft hat das Diskutieren nicht erst seit März 2020 verlernt, sondern schon viel früher. Der Blick von außen ist für eine Analyse häufig hilfreich und in der »Neue Zürcher Zeitung« vom 2. Dezember 2020 hieß es: „Tatsächlich hat sich, was deutsche Diskussionskultur einmal ausmachte, zusehends in einem von moralischer Belehrung, Hypersensibilität und ideologischem Machtkampf geschwängerten Meinungsklima auseinanderdividiert.“ An den Satz „Ich mag verdammen, was Du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass Du es sagen darfst.“ erinnert sich kaum jemand mehr. Einförmigkeit und Lähmung haben sich eingestellt. Hinzu kommt die epidemische Ausbreitung jener Haltung, andere Meinungen als persönliche Beleidigung aufzufassen. Verbunden mit der durch die Corona-Pandemie ausgelösten Angst wird das Gegenteil von Differenziertheit und Respekt bewirkt, nämlich das Aufflammen einer längst überwunden geglaubten Blockwart-Mentalität.

Abweichende Meinung verachtet

Kritik ist die Essenz jeder Demokratie – unabhängig davon, wie groß die Herausforderungen für die politisch Handelnden auch sein mögen. Mit Kritik beweist der Bürger seine Loyalität gegenüber dem Staat und seine tiefe Verbundenheit mit dem Gemeinwesen. Umso erschreckender ist der Befund, dass die Politik auf nahezu jede Kritik dünnhäutig und mit Beschimpfungen wie z. B. der Attestierung, unverbesserlich zu sein, (was den Verfasser zu dem Titel dieses Artikels inspirierte,) reagiert. Ein solches Schelten, wie es in der Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin zu hören war, ist nicht nur töricht, sondern legt dar, dass die Bürger, die mit ihrer Wertschöpfung den Steuersäckel füllen und so u. a. die Gehälter der Politiker finanzieren, im Fall einer vom Kurs der Regierung abweichenden Meinung offensichtlich verachtet werden.

Es heißt immer, Krisen seien Bewährungsproben. Ja, das stimmt. Und die gegenwärtige Krise beweist offenkundig, dass die Grundrechte und der Parlamentarismus der Virus-Eindämmung zum Opfer gefallen sind – zumindest temporär. Wäre die Bundesrepublik Deutschland eine stabile Demokratie, würden ihre Verfassungsgrundsätze selbstverständlich auch in der Krise keinen Deut weniger als zu Schönwetterphasen gelebt. Aber dem ist leider nicht so. Auch wenn derzeit keinerlei Exit-Strategie erkennbar ist, bleibt der Optimismus lebendig, dass der Tag kommen wird, an dem die Virus-Bekämpfung von der Politik für beendet erklärt werden wird. Allerdings zu glauben, dass dann auf Knopfdruck der Zustand von Februar 2020 zurückkehrt, ist naiv. Die Spätfolgen der schweren Schäden an den Grundrechten, der Demokratie, dem Rechtsstaat, dem Parlamentarismus, der Gesellschaft, Wirtschaft, Bildung und Kultur werden uns noch lange beschäftigen.

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

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*Elino Ernst ist ein Pseudonym. Die sich dahinter verbergende Person (m/w/d) hat eine politiknahe berufliche Tätigkeit. Deshalb verheimlicht sie ihren Klarnamen an dieser Stelle.

Bild: DesignRage/Shutterstock
Text: Gast 

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