Von Kai Rebmann
Reitschuster-Leser wissen mehr. Am 4. Juli 2022 wurde an dieser Stelle darüber berichtet, dass sich Karl Lauterbach (SPD) Schulschließungen auch in diesem Herbst wieder vorstellen kann. Das Dementi des Bundesgesundheitsministers folgte prompt. Nur wenige Tage später sagte Lauterbach bei tagesschau24 mit Blick auf das Spätjahr: „Wir werden vorbereitet sein, wir werden mit vielen Maßnahmen arbeiten.“ Und dann dieser Satz: „Schulschließungen wird es nicht mehr geben.“ Nur einen Monat später ist auch dieses Versprechen nur noch Schall und Rauch. Karl Lauterbach denkt nicht nur über die Schließung von Schulen und Kitas nach, zusammen mit Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat er bereits Nägel mit Köpfen gemacht. Die Aussperrung von Kindern und Jugendlichen aus Bildungs- und Gemeinschaftseinrichtungen – eine Art „Schulschließung durch die Hintertür“ also – ist längst beschlossene Sache.
Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) macht in einer Pressemitteilung auf eine „auf den ersten Blick harmlos wirkende Erweiterung eines Kataloges von Krankheiten“ aufmerksam, die unter Paragraf 34 des überarbeiteten Infektionsschutzes genannt werden. Dort sei nun auch Covid-19 aufgeführt, wie die Mediziner feststellen. Dieser Paragraf bestimmt, dass Kinder und Jugendliche, die im Verdacht stehen an einer der dort aufgeführten Krankheit zu leiden oder eine solche durchgemacht haben, erst nach Ausstellen einer ärztlichen Unbedenklichkeitserklärung wieder in die Kita bzw. Schule dürfen. Der BVKJ weist die Mitglieder des Gesundheitsausschusses des Bundestags in einer Stellungnahme vom 1. September 2022 (liegt reitschuster.de vor) auf zwei wichtige Gesetzesfolgen hin, die sich aus der vorgenannten Regelung ergeben.
Erstens: „Wenn der Verdacht besteht, dass ein Kind an Corona erkrankt sein könnte, wird zukünftig ein ärztliches Urteil notwendig sein, ohne welches das betroffene Kind nicht mehr weiter die Gemeinschaftseinrichtung besuchen kann. Was einen Verdachtsfall darstellt, ist nicht geregelt. Das heißt, ein Kind wird unter Umständen auch im Falle einer banalen, aber ‚verdächtigen‘ Erkältung so lange nicht in Kita oder Schule gehen können, bis Corona ausgeschlossen ist. Kinder müssten beim Auftreten von Symptomen, die theoretisch auch Corona zugeordnet werden könnten, die Kita oder Schule umgehend verlassen.“
Zweitens: „Wenn ein Kind an COVID-19 erkrankt war und ein negativer Antigen-Test bestätigt, dass die Erkrankung überwunden ist und insofern keine Isolationspflicht mehr besteht, reicht dies nicht mehr aus. Das Kind kann nicht wieder in die Schule oder den Kindergarten gehen, sondern bedarf zukünftig hierfür zusätzlich einer ärztlichen Bestätigung.“
Extreme Verschärfung der Rechtslage
Die Kinder- und Jugendärzte wundern sich über diese „extreme Verschärfung der Rechtslage“. Seit Beginn der Pandemie sei eine solche „Gesundschreibung“, die aus medizinisch-infektiologischer Sicht auch nicht begründet werden könne, nicht für notwendig erachtet worden. Darüber hinaus weist der BVKJ auf eine „hochproblematische Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen“ hin, da zum Beispiel Arbeitnehmer nicht von dieser Regelung betroffen seien. Diese könnten sich nach überstandener Infektion ganz normal freitesten und dann wieder am Arbeitsplatz erscheinen. Ein solches Vorgehen widerspreche dem Gleichheitsgrundsatz nach dem Grundgesetz.
Mit dem Grundgesetz ist das allerdings so eine Sache. Dieses galt bis vor zweieinhalb Jahren tatsächlich noch als unantastbar. Von seinen Vätern einst erdacht, um gerade in stürmischen Krisenzeiten wie ein Fels in der Brandung zu stehen, wurde und wird es von Politikern und Verfassungsrichtern immer wieder als „Schönwetter-Gesetz“ interpretiert. Da dies inzwischen wohl auch die Autoren der BVKJ-Stellungnahme eingesehen haben, versuchen sie es nicht nur mit juristischen Argumenten, sondern geben den Bundestagsabgeordneten auch einen Einblick in ihren Arbeitsalltag. „Für die ohnehin schon hochgradig überlasteten kinder- und jugendärztlichen Praxen erwarten wir neue, zeitraubende Bürokratie“, so die Experten. Statt sich um ihre Patienten kümmern zu können, seien sie nur noch mit dem Verfassen schriftlicher Atteste beschäftigt. Zudem sei damit zu rechnen, dass Eltern noch länger nicht zur Arbeit gehen können, weil sie ihr Kind betreuen und es beim Arzt vorstellen müssen, um das Attest zu erhalten.
Politik weigert sich, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen
Die Schulschließungen und weitere Corona-Maßnahmen haben bei einer ganzen Generation einen in vielerlei Hinsicht noch nicht absehbaren Schaden angerichtet. Viele dieser Schäden werden irreversibel sein. Nicht zuletzt deshalb wollte Lauterbach – oder er gab es zumindest vor – auf die erneute Schließung von Kitas und Schulen verzichten. Nun wurde auch dieses, für die Entwicklung unserer Kinder unbezahlbare Versprechen im Handumdrehen gebrochen. Die Kinder- und Jugendärzte haben dazu eine klare Meinung: „Entgegen der Beteuerung der Bundesregierung, Kitas und Schulen sollten inzidenzunabhängig offenbleiben, findet hier ein staatlich verordnetes Fernbleiben von Gemeinschaftseinrichtungen statt, das die Grundrechte von Kindern und Jugendlichen massiv einschränkt und sie klar schlechter stellt als Erwachsene, die währenddessen große Volksfeste ohne Maske besuchen dürfen.“ Zum Schluss appelliert der BVKJ an die Mitglieder des Bundesausschusses: „Wir bitten Sie dringend, diese unsinnige und hochbürokratische Regelung nicht umzusetzen.“
In dem Schreiben bleibt leider unerwähnt, dass es eine ganz ähnliche Regelung bereits im Sommer 2020 gegeben hat, damals allerdings auf Nordrhein-Westfalen begrenzt. Das Familienministerium verschickte ein Schreiben an die Kitas in NRW, in dem es unter anderem hieß: „Kinder dürfen generell nicht betreut werden, wenn sie Krankheitssymptome aufweisen. Die Art und Ausprägung der Krankheitssymptome sind dabei unerheblich. Sofern aufgrund einer bestätigten SARS-CoV-2-Infektion bzw. aufgrund von COVID-19-Krankheitssymptomen Kinder nicht betreut wurden oder Kinder aus dem Angebot abgeholt werden mussten, ist vor erneuter Aufnahme der Betreuung ein ärztliches Attest vorzulegen.“
Auch damals war es der BVKJ, der bei den zuständigen Stellen intervenierte und vor einer absehbaren Überlastung der Praxen warnte, die schließlich auch schon bald eingetreten ist. Die Regelung wurde ganz schnell wieder gekippt. Warum die Pflicht zur Gesundschreibung jetzt besser klappen soll, wenn sie nicht nur für ein Bundesland, sondern gleich für ganz Deutschland gelten soll, wird das Geheimnis von Karl Lauterbach und Marco Buschmann bleiben.
Zur Einordnung: In Paragraf 34 IfSG, in dessen Neufassung jetzt auch Covid-19 auftauchen soll, werden 20 weitere Krankheiten genannt, die eine Gesundschreibung vor der Rückkehr erfordern. Zu diesen Krankheiten gehören unter anderem Cholera, Diphtherie, Hepatitis A und E, Masern, Mumps, Pest, Röteln und Windpocken. Ob es sich bei Corona um eine vergleichbar gefährliche Krankheit handelt, liegt wohl im Auge des Betrachters.
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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.
Bild: ShutterstockText: kr
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