Das biegsame Mitgefühl von Justin Trudeau Das Recht auf Ungeimpft-Sein ist geringer als das Recht auf Abtreibung

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Rießinger

Im Juni 2022 hat der Supreme Court der USA das Urteil zur Legalisierung der Abtreibung mit dem Namen „Roe vs. Wade“ aus dem Jahr 1973 aufgehoben. Das damalige Urteil hatte Abtreibungen bis etwa zur 24. Woche der Schwangerschaft erlaubt, nun steht es im Ermessen jedes einzelnen US-Bundesstaates, Regelungen zur Abtreibung bis hin zum vollständigen Verbot zu erlassen; bundesweite Regelungen gibt es nicht mehr.

Dazu kann man stehen, wie man will. Wenn man sich aber öffentlich äußert, dann wäre ein gewisses Maß an gedanklicher Klarheit empfehlenswert – es sei denn, man ist Politiker, vielleicht sogar ein sogenannter linksliberaler Politiker, denn in diesem Fall pflegt man die gedankliche Klarheit gerne durch ideologische Blindheit zu ersetzen. Justin Trudeau beispielsweise ist Vorsitzender der Liberalen Partei Kanadas und seit 2015 auch kanadischer Premierminister. Am 24. Juni 2022 hat er auf Twitter das US-amerikanische Urteil kommentiert.

Ein großartiger Kommentar, triefend vor vermeintlicher Humanität und echter Heuchelei. Es mag ja sein, dass sein Mitgefühl den amerikanischen Frauen gilt, die ihr Recht auf Abtreibung verlieren, aber man hat im Februar 2022 nichts Vergleichbares von ihm gehört, als er die Rechte der Trucker auf körperliche Unversehrtheit nicht nur ignorierte, sondern auf gewaltsame Weise unterdrückte. Ist das „legal right not to be vaccinated“ geringer anzusetzen als das von ihm so hochgeschätzte „legal right to an abortion“? Tatsächlich fordert das erste Recht nur, dass ein bestimmter Eingriff, die Covid-Impfung, nicht gegen den Willen des Betroffenen vorgenommen werden darf, während das zweite Recht sogar die Möglichkeit eines bestimmten Eingriffs verlangt und damit deutlich weiter geht. Wem der Anspruch auf einen Eingriff recht ist, dem sollte auch die Ablehnung eines Eingriffs billig sein.

Dem Satz, er könne sich die Angst und die Wut der Betroffenen nicht vorstellen, hätte man im Februar im Hinblick auf die Trucker ganz ohne Zweifel zustimmen können, denn an dieser Angst und dieser Wut war Trudeau nicht im Entferntesten interessiert – sie passten nicht in seine Agenda, und die Proteste mussten mit allen Mitteln unterbunden werden. „The news coming out of Canada is horrific“ wäre ein passender Kommentar zum Umgang des „Liberalen“ mit den Truckerprotesten gewesen, doch dieser Umstand kam ihm nicht in den Sinn.

Aber es wird ja noch besser. Im zweiten Absatz schreibt Trudeau allen Ernstes, keine Regierung, kein Politiker oder Mann solle einer Frau sagen, was sie mit ihrem Körper tun könne und was nicht. Hat das vor der Veröffentlichung niemand gelesen? Politiker, Regierungen und Männer sollen Frauen nicht den Umgang mit ihrem eigenen Körper vorschreiben – wenn also eine Frau einer anderen Frau sagt, was sie gefälligst zu tun habe, ist das in Ordnung, sofern sie weder einer Regierung angehört noch in anderer Form politisch tätig ist. Das nenne ich echte Konsequenz, man könnte fast glauben, die deutsche Altkanzlerin habe Trudeau erklärt, wie man etwas vom Ende her denkt. Geht man einmal von der freundlichen Theorie aus, dass Richer weder Teil der Regierung noch anderweitig Politiker sind – eine Theorie, die in Deutschland leider schon lange keine Gültigkeit mehr hat –, so darf sich der kanadische Premierminister nicht beschweren, wenn eine Richterin Urteile fällt, mit denen die weibliche Entscheidungsfreiheit in Bezug auf den eigenen Körper eingeschränkt wird. Vielleicht hat der große Liberale noch nicht mitbekommen, dass auch Frauen ins Richteramt gelangen.

Doch was zählt, ist selbstverständlich die große Geste: Er will, dass die Frauen in Kanada wissen, dass „wir“ – damit meint er wohl sich – immer für ihr Recht zu wählen aufstehen werden. Es geht, man kann es nicht oft genug betonen, um das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung über ihren Körper, denn schließlich soll ihnen niemand vorschreiben, was sie mit diesem Körper tun oder lassen sollen. Das Recht zur freien Wahl schließt aber nicht nur das Recht auf Abtreibung ein; auch eine aufgezwungene Impfung gleich welcher Art ist ein klarer Bruch des „right to choose“, des Rechts auf freie Wahl, was den Umgang mit dem eigenen Körper angeht. Und somit hat Trudeau mit seinem Tweet jede Form von Impfzwang, sei es direkt oder indirekt, für Frauen in Kanada aufgehoben. Für Männer natürlich nicht, ein gestandener Linksliberaler darf im Interesse des Großen und Ganzen schon einmal die halbe Bevölkerung diskriminieren, da sollte man nicht kleinlich sein.

Zu den antiken Autoren, die auch heute noch mit Gewinn gelesen werden können, gehört der Politiker und Philosoph Marcus Tullius Cicero. Sein Leben und Wirken fiel in die Zeit des Übergangs von der Republik zur Diktatur und manch einer könnte auf die Idee kommen, dass ihm deshalb auch die heutigen Verhältnisse in Deutschland und anderswo nicht allzu fremd gewesen wären. In seiner dreißigjährigen politischen Laufbahn hatte er mehr als genug Gelegenheit, Heuchlern und Heucheleien zu begegnen, und man darf davon ausgehen, dass er sie zu bewerten wusste. „Der niederträchtigste aller Schurken,“ so schrieb er, „ist der Heuchler, der dafür sorgt, dass er in dem Augenblick, wo er sich am fiesesten benimmt, am tugendhaftesten auftritt.“ Es überrascht in Anbetracht solcher Sätze nicht übermäßig, dass Cicero 43 v. Chr. im Zuge der Proskriptionen ermordet wurde, weil er den Hass des grobschlächtigsten der drei diktatorischen Triumvirn, Marcus Antonius, auf sich gezogen hatte. In jeder Zeit entwickeln die Mächtigen und Allzumächtigen ihre eigenen Methoden, um ihre Kritiker ruhig zu stellen. Man darf gespannt sein, zu welchen methodischen Höhenflügen sich die Heuchler unserer Tage noch aufschwingen werden.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.

Bild: 360b/Shutterstock
Text: Gast

Mehr von Prof. Thomas Rießinger reitschuster.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert