Die gute Nachricht vorneweg: Es blieb alles ruhig beim heutigen Schweigemarsch in Berlin, die Teilnehmer hielten sich weitgehend an die neuen Regeln, die Polizei agierte bis auf wenige Ausnahmen korrekt und selbst das sonst übliche Framing in den großen Medien war diesmal eher gemäßigt. Von den öffentlich-rechtlichen Sendern habe ich niemanden gesehen, dafür ausländische Fernsehteams, etwa das italienische RAI. Der Tagesspiegel titelte: „Corona-Skeptiker in Berlin: ‘Schweigemarsch‘ beendet – Hygieneregeln weitgehend eingehalten.“ Auch das Wort Corona-Skeptiker ist zwar etwas irreführend, aber zumindest nicht so manipulierend wie „Corona-Leugner“, wie es früher regelmäßig hieß. Weiter steht in dem Bericht: „In Berlin gingen an diesem Sonntag wieder rund 1000 Gegner der Corona-Politik von Bund und Ländern auf die Straße. Unter dem Namen ‘Schweigemarsch gegen Diskriminierung und für Menschenrechte‘ hatte eine Privatperson die Demonstration mit 5000 Teilnehmern in Prenzlauer Berg angemeldet. Zum Beginn gegen 12.30 Uhr trafen nur schätzungsweise 400 Personen am Startpunkt an der Bornholmer Straße ein.“
Ich war ab 12 Uhr vor Ort und habe dreieinhalb Stunden live gestreamt (die Zusammenfassung der wichtigsten Momente sehen Sie hier). Ich bin nicht gut im Schätzen von Teilnehmerzahlen, aber dass es gegen 12.30 Uhr nur 400 Personen waren, widerlegen in meinen Augen die Bilder, die ich um diese Zeit aufgenommen habe. Auch 1000 Teilnehmer halte ich tendenziell eher für untertrieben. Die Zahl, die die Organisatoren nannten, war 2000. Vielleicht lag die tatsächliche Teilnehmerzahl in der Mitte.
War es das schon, was den Nachrichtenwert angeht? Leider nein.
Ich bin heute mit schlotternden Beinen nach Hause gekommen. Das Maß an Hass, das ich während des Demonstrationszugs und danach erlebte, ist etwas, woran ich mich nicht gewöhnen kann. Und nicht möchte. Gegendemonstranten spielten das „Hase und Igel“-Spiel und begleiteten den Demonstrationszug auf Schritt und Tritt. An immer neuen Straßenecken warteten sie und beschimpften die Teilnehmer. Verbale Aggression auf höchster Ebene. „Nazi“-Rufe, Beleidigungen als „Arschlöcher“, Mittelfinger überall. Ich selbst wurde mehrfach beleidigt, einmal absichtlich angerempelt, verbal bedroht.
Seitens der Kundgebungsteilnehmer habe ich keinerlei Aggressionen gegenüber den Gegendemonstranten erlebt. Teilweise antworteten sie mit Winken und mit Herz-Zeichen auf die ausgestreckten Mittelfinger. Im Demonstrationszug war nach meiner Beobachtung ein bunter Querschnitt der Bevölkerung, von alternden Hippies über junge Familien mit Kindern bis hin zu vielen Rentnern. Gewaltbereite oder Rechtsextreme konnte ich nicht ausmachen – soweit das anhand von Äußerlichkeiten möglich ist. Ich habe extra den ganzen Demonstrationszug an mir vorbeiziehen lassen, damit auch Sie sich anhand der Aufnahmen ein eigenes Bild machen können.
Vorwiegend linkes Spektrum
Bei den Gegendemonstranten war das Bild durchwachsen. Auch hier gab es ein breites Spektrum, auch hier teilweise die Mitte der Gesellschaft, auch hier Eltern mit Kindern, aber deutlich mehr als die Hälfte Personen, die eher dem militant wirkenden linken Spektrum zuzurechnen sind.
Ich fragte mich immer wieder im Livestream: Woher kommt der Hass? Wie konnte es geschehen, dass Medien und Politik unsere Gesellschaft so gegeneinander aufgehetzt haben, dass heute Familien mit Kindern andere Familien als Nazis diffamieren und ihnen so viel Hass entgegenbringen? Würde man sie auf der Straße sehen, könnte man sie ansonsten nicht voneinander unterscheiden. Wie konnte es geschehen, dass eine Kommunikation nicht mehr möglich ist? Mehrere Versuche, mit Gegendemonstranten ins Gespräch zu kommen, scheiterten. Nur einmal gelang es mit einer Frau mittleren Alters, die dann aber ebenfalls das Gespräch abbrach, als ich ihrer Argumentation, dass hier Nazis unterwegs seien, nicht folgte.
Als ich mich schon fast auf den Heimweg machen wollte, gab es auf dem Alexanderplatz noch eine linke Demonstration mit vielen Antifa-Fahnen. Hier wurde ich mehrfach verbal attackiert, teilweise gab es eine regelrechte Jagd, als Leute auf mich gehetzt wurden, die mich dann am Filmen hindern wollten – obwohl ich mich ohnehin in großem Abstand zur Veranstaltung befand. Zweimal zeigte die Polizei bei solchen Versuchen nur sehr, sehr wenig Bereitschaft, mich zu schützen. Dass bei der linken Demonstration massiv die Mindestabstände verletzt wurden, schien die Polizei völlig kalt zu lassen. Dieselbe Polizei, die Demonstrationen von Kritikern der Corona-Maßnahmen auflöst, weil gegen die Hygieneregeln verstoßen wird. Hier wird ganz offen mit zweierlei Maß gemessen und die Polizei agiert politisch – offenbar unter dem Druck ihrer politischen Führung.
Auf jeden Zentimeter kommt es an
Während auf der linken Demo die Regeln ignoriert wurden und auch meine Behinderung bei der journalistischen Arbeit nicht einmal halbherzig verhindert wurde, waren gleich mehrere Beamte damit beschäftigt, einzelne Personen wegen Nicht-Tragen der Masken zu maßregeln. Auch beim Demonstrationszug wurde ich mehrfach Zeuge, wie Beamte Teilnehmern mit dem Ausschluss drohten, weil ihre Masken nicht fest genug auf der Nase ansetzten. Beim linken Demonstrationszug waren die Mindestabstände den Beamten egal. So unersetzlich die Polizei einerseits an diesem Nachmittag war, da ohne sie, so zumindest mein Bauchgefühl, die verbale Gewalt der Gegendemonstranten in körperliche hätte umschlagen können, so sehr zeigten einzelne Beamte eine Voreingenommenheit, ja unterschwellige Aggression, die mich erschreckte.
In den Berichten der großen Zeitungen, die ich gelesen habe, wird die Aggression gegen die Teilnehmer des Demonstrationszuges kaum wiedergegeben. Der Tagesspiegel schreibt etwa, es habe „massive Proteste von Seiten der Anwohner gegen die Demonstranten“ gegeben. Wie kommen die Kollegen darauf, dass es sich bei den Gegendemonstranten vornehmlich um Anwohner handelte? Bis auf einige Szenen, in denen von Balkons gegen den Zug protestiert wurde, habe ich dafür keine Anhaltspunkte gefunden. Die Tagesspiegel-Reporterin fragte einen Teilnehmer laut Bericht, was er davon halte, dass auch Reichsbürger und Rechtsextreme an diesen Demos teilnehmen. Hier wäre meine Frage an die Kollegin: Wo hat sie diese gesehen?
Mein Fazit des Tages: Unsere Gesellschaft befindet sich in einem mentalen Bürgerkrieg, Teile von ihr werden massiv aufeinandergehetzt. Dazu werden auf völlig unverantwortliche Weise die Verbrechen der Nationalsozialisten instrumentalisiert. Man kann für oder gegen die aktuellen, weitreichenden Corona-Maßnahmen sein. Für beide Positionen finden sich Argumente, die man zumindest ernst nehmen muss. Aber man kann nicht mit völlig haltlosen Gleichsetzungen Öl ins Feuer gießen. Das gilt übrigens für beide Seiten. So sehr ich das Corona-Gesetz kritisiere – es mit dem Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten gleichzusetzen, ist absurd und verharmlost dieses.
Doppelmoral von Maas
Die Zeit schreibt: „In Hannover hatte sich am Samstag eine Teilnehmerin der Protestbewegung mit der von den Nationalsozialisten ermordeten Widerstandskämpferin Sophie Scholl verglichen. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) reagierte mit Empörung auf den Vergleich. ‘Das verharmlost den Holocaust und zeigt eine unerträgliche Geschichtsvergessenheit‘, schrieb Maas auf Twitter. ‘Nichts verbindet Corona-Proteste mit Widerstandskämpfer*Innen‘, fügte er hinzu. ‘Nichts!‘“
Wo ist der Protest von Maas und großen Teilen von Politik und Medien, wenn friedliche Demonstranten aus der Mitte der Gesellschaft regelmäßig in den großen Medien als Nazis diffamiert werden? Dafür gilt das gleiche, was Maas zum Scholl-Vergleich äußerte. Wobei es durchaus einen Unterschied macht, ob eine Privatperson sich selbst mit Nazi-Opfern vergleicht oder Menschen anderer Meinung im großen Stil als Nazi-Täter stigmatisiert werden.
Ob der gewaltige Riss, ja Graben, den Politik und Medien in unserer Gesellschaft aufgerissen haben, noch ohne größere Ausbrüche zu kitten ist, bezweifle ich nach meinen Erlebnissen von heute mehr denn je.
Aber es gibt auch Momente, die Hoffnung machen. Auf der Bornholmer Straße kam ein junger Mann auf mich zu, und warf mir vor, ich würde Gülle reden. Er hatte Zuhause meinen Livestream gesehen und war auf die Straße gekommen, um mir ins Gewissen zu reden. Es entwickelte sich ein konstruktives Gespräch, an dessen Ende wir übereinkamen, dass keiner von uns Gülle redet. Und der junge Mann half mir dann sogar noch mit technischen Problemen mit der Kamera. Dieses Erlebnis macht zumindest ein bisschen Hoffnung. Nur schade, dass so viele eben schon so aufgehetzt sind, dass sie sich gar nicht mehr auf Gespräche einlassen.
PS: Ein Leser schrieb: Ich war auf dem Schweigemarsch. Neben mir lief zeitweise ein älterer Herr. Er war ca. 70 Jahre alt und augenscheinlich aus der Türkei oder vielleicht dem Iran stammend. Ich habe ihn nicht gefragt woher. Er sprach mich empört an und sagte: „Jetzt muss ich mich hier als Nazi beschimpfen lassen. Als ich nach Deutschland kam, dachte ich, die Deutschen seien gebildet. Dichter und Denker usw.“
Hier finden Sie einen Video-Zusammenschnitt des Livestreams.
PS: Wenn Sie alternativ einige Momente einzeln anschauen wollen, finden Sie diese hier:
Demonstrantin im Interview über die „Nazi-„Vorwürfe.
Versuch des Dialogs mit einem Gegendemonstranten.
Interview mit einem Demo-Teilnehmer.
Aggressive Gegendemonstranten („Reitschuster, raus du Arschloch“).
Diskussion Demonstrant–Gegendemonstrant.
Beschimpfung durch Gegendemonstranten.
Gegendemonstranten mit dem Plakat „Impfen ist Liebe“.
„Anrempler“ durch linken Aktivisten.
Die Begegnung mit dem jungen Mann („Sie labern Gülle“).
Gespräch mit Gegendemonstrantin.
„Ein Zentimeter zu tief“ – Ermahnung wegen falschen Masken-Sitzes.
„Geht nach Hause, Kinder“ – eine Frau verschlägt Gegendemonstranten die Sprache.
Interview mit einem der Veranstalter.
Ein Gegendemonstrant pöbelt mich an – und die Polizei sperrt mich als Reaktion aus.
Festnahme von linkem Demonstranten