Ein Gastbeitrag von Annette Heinisch
Als Anwalt erlebt man einiges, manches ist wirklich lustig. Tatsächlich schreibt das wirkliche Leben oft absurdere Geschichten, als es sich Roman- oder Drehbuchautoren jemals trauen würden. Wenn man mich also fragt, was man als Jurist „im wahren Leben“ am dringendsten braucht, wäre meine Antwort: Humor. Manchmal vergeht er einem allerdings.
In einem Prozess klagen Kläger, und Beklagte bestreiten. Der Kläger K möchte also etwas vom Beklagten B, was der ihm freiwillig nicht geben will. Um das zu bekommen, muss K (oder sein Anwalt) substantiiert vortragen, seine Tatsachenbehauptungen unter Beweis stellen, wobei dieser Vortrag dann einen Rechtsanspruch begründen muss. Was heißt „substantiiert vortragen“? Parteien müssen den Sachverhalt vollständig und umfassend darstellen, haltlose Vorwürfe oder in sich unschlüssige, nicht plausible Behauptungen reichen nicht.
Anders ist es bei der Politik. Hier kann jeder allen möglichen Schwachsinn von sich geben – oft beklatscht und nachgeplappert, – der nicht einmal in sich konsistent oder plausibel ist.
Nun kommt B und bestreitet alles. Es habe sich entweder gar nicht oder ganz anders zugetragen. Wenn er den Vortrag des K erheblich bestreitet, dann folgt eine Beweisaufnahme. Erheblich ist das Bestreiten nur, wenn er nicht irgendetwas blubbert, sondern konkret, nachvollziehbar und begründet dem Vorbringen von K widerspricht. Beispiel: K sagt, B habe ihn mit seinem blauen Auto am Karfreitag gerammt, nun will er den Schaden ersetzt haben. K hat Zeugen und eine Reparaturrechnung. B sagt, er habe kein blaues Auto und sei am Karfreitag auf Teneriffa gewesen. Er legt sein Flugticket vor. Außerdem sei der Schaden viel geringer und könne von seinem Auto gar nicht verursacht worden sein, was ein Sachverständiger bestätigen könne. Dann müsste es zur Beweisaufnahme kommen. An diesem Punkt wird es schwierig.
Zum einen könnte man das gesamte, in seinen Prinzipien jahrtausendealte Rechtssystem in die Tonne kloppen, wenn man der derzeit herrschenden Lehre folgte und die Wirklichkeit als rein soziales Konstrukt ansähe. Jede Wissenschaft (und so auch die Rechtswissenschaft) beruht auf der Erkenntnis, dass es eine Wahrheit gäbe, die man herausfinden könne. Dass ein Gegenstand immer zu Boden fällt und nie in die Luft, ist die Wahrheit. Es ist kein soziales Konstrukt. Diese Erkenntnis war die Grundlage für die Frage, warum dies so ist, welche Gesetzmäßigkeit dahintersteckt. Dieser Wissensdurst, der auf dem Willen zur Erkenntnis der Wahrheit beruht, ist Wissenschaft. Er ist ein wesentlicher Aspekt westlichen Denkens und die Grundlage allen Fortschritts. Dass Wechselwirkungen mit dem Umfeld bestehen, ist Teil dieser Erkenntnis. Dass aber alles nur ein gedankliches Konstrukt sei, es eine objektive Wahrheit nicht gebe, sondern diese nur subjektiv sei, entzöge jeder Wissenschaft die Grundlage. Dann wäre auch nichts mehr einem Beweis zugänglich.
Zum anderen wird ein Prozess an diesem Punkt aufwendig und teuer. Ersteres stört das Gericht, letzteres die Prozesspartei, die verliert und zahlen muss.
Früher, als Landgerichte noch in Kammerbesetzung (drei Richter) verhandelten und entschieden, hat es die Parteien auf die Unwägbarkeiten von Beweisaufnahmen hingewiesen und gefragt, ob ein Vergleich möglich wäre. Das änderte sich mit der Zeit. Kammern gibt es immer noch, aber meist wird die Sache auf den Einzelrichter übertragen, der wie ein Amtsrichter allein entscheidet. Das „Sechs-Augen-Prinzip“ ist de facto aufgehoben. Dann wurde zwingend vorgeschrieben, dass Vergleichsverhandlungen geführt werden, die Parteien müssen daher verpflichtend selbst bei Gericht erscheinen, was übrigens einen Vergleichsabschluss keineswegs erleichtert. Das kann man aber noch steigern, indem man eine Mediation einführt (nicht zu verwechseln mit Meditation). Da sitzen dann alle nett an einem Tisch, vor Corona gab es Kaffee und Kekse, und man plaudert einmal nett. Alle sollen sich liebhaben.
Zweck des Ganzen ist immer, eine streitige Entscheidung zu vermeiden. Dabei werden durchaus rabiate Methoden angewandt, nicht selten fühlen sich Parteien vom Gericht derart unter Druck gesetzt, sich „friedlich“ zu einigen, dass sie Begriffe wie „Nötigung“ und „Erpressung“ zur Beschreibung benutzen. Oft ist es nur die Angst, den Richter zu verärgern, die die Parteien zustimmen lässt. Sie fürchten, dass der Richter es ihnen dann, wenn sie nicht gehorchten, heimzahlen würde, sprich: Sie verlören den Prozess.
Menschenrechte werden zur Handelsware
Was als Erfolg verkauft wird, als Hochamt der Friedfertigkeit und Kultiviertheit, führt tatsächlich nicht nur zu ungeheurem Frust, sondern auch zu unerwünschten Nebeneffekten.
Gefrustet sind die Prozessparteien, die Recht wollen und Kekse bekommen. Wer eine Ware geliefert hat und seine Material- und Arbeitskosten nicht einmal hereinbekommt, weil er einen Vergleich machen muss, ist nicht befriedet. Im Gegenteil, der Rechtsstaat hat bei ihm verloren. Das nächste Mal wendet er sich sofort an das „Russen-Inkasso“. Wenn das Gericht das Recht nicht als Wert an sich ansieht, sondern als etwas, was einen Preis hat, der ausgehandelt wird, dann sucht sich der Bürger andere Wege. Wie oft habe ich von Mandanten den entsetzten Satz gehört: Ich habe gedacht, ich wäre bei Gericht, aber das hier ist ein türkischer Basar!
Im nächsten Schritt macht man es genauso, man zahlt Rechnungen nicht, denn wenn man verklagt wird, gibt es einen Vergleich – das lohnt sich. Warum sollte man dann ordnungsgemäß zahlen, sich rechtmäßig verhalten, dann wäre man doch schön blöd! Nur große Konzerne können den Rechtsstaat benutzen, diese sind finanzstark genug, zur Not auch durch die Instanzen zu gehen. Für Otto Normalverbraucher ist er eher nicht mehr da, für kleinere oder mittlere Unternehmen auch nicht.
So wie das Recht zur Handelsware wurde, sind es offenbar auch Menschenrechte. Vor Kurzem erlebte man dies bei der Impfpflicht. Schon die gesamten Corona-Freiheitseinschränkungen waren deutlich mehr als grenzwertig, aber zumindest bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit hätte die Alarmglocke läuten müssen. Dies ganz speziell in Deutschland, das von sich behauptet, aus der Geschichte gelernt zu haben. Wie groß dieser Irrtum ist, hat der Staat nun überdeutlich bewiesen.
Wohlgemerkt, es ist gut, dass es die sogenannten Impfungen gibt und jeder, der dies möchte, sollte sie in Anspruch nehmen. Dann ist er ja (nach seiner Ansicht) geschützt. Aber es muss eine eigene freie Entscheidung eines jeden mündigen Bürgers sein. Zwangsimpfungen mit experimentellen Impfstoffen gehören in die Kategorie „ganz böse, tut man nicht“.
Bei Corona wird deutlich, wie schnell Menschenrechte in den Boden gestampft werden, denn zur Erinnerung: Freiheitsrechte sind Menschrechte!
Wo waren die Parteien, die sich dem zerstörerischen Wahnsinn entgegenstellten? Wo waren die Christ(!)demokraten und die Liberalen? Die Achtung der Menschenrechte ist ebenso wie der Rechtsstaat die Grundlage unseres Staates. Das sind „wir“, es ist das, was uns ausmacht, was „den Westen“ von anderen Staaten abhebt. In der Wirtschaft würde man es Markenkern oder Alleinstellungsmerkmal nennen, ergänzt um jeweils länderspezifische Merkmale, welche die Länder des Westens unterscheidbar und einzigartig macht. Das sollten Menschenrechte jedenfalls sein, ein theoretisch unantastbarer Grundpfeiler. Theoretisch – praktisch ist es eher „der Herr hat´s gegeben, der Herr hat´s genommen, der Name des Herrn sei gepriesen“.
Wie sehr die Union das Verständnis für die Wertebasis unseres Staates verloren hat, bemerkt man derzeit bei der Debatte um die Atomkraft. Dort soll ein Kuhhandel erfolgen, Tempolimit gegen Atomkraft. Wie bitte?
Die Einschränkung von Freiheitsrechten bedarf eines überwiegenden sachlichen Grundes. Verkehrssicherheit ist es nicht, denn deutsche Autobahnen sind sicherer als Stadt- und Landstraßen mit Tempolimit. Zudem gibt es in Deutschland weniger Verkehrstote auf Autobahnen als in vergleichbaren Staaten mit Tempolimit. Das funktioniert also nicht.
Dann kam das Argument CO2 sparen. Da man beim besten Willen aber nur auf marginalste Unterschiede kommt, lässt sich das Tempolimit damit auch nicht begründen. Ich persönlich kann bei meinem Diesel nicht einmal einen Unterschied im Verbrauch feststellen. Ob ich 130 km/h oder 160 km/h fahre, der Verbrauch bleibt praktisch gleich.
Jetzt wird wieder Morgenluft gewittert, zum Energiesparen soll das Tempolimit kommen. Nur: Benzin und Diesel haben wir, Gas-PKW und -LKW sind nicht wirklich zahlreich. Was aber zum Problem wird, ist Strom. Wer Gas sparen möchte, sollte E-Autos verbieten, denn Strom wird mit Gaskraftwerken produziert. Nur vorübergehend natürlich…Das wäre immerhin eine inhaltlich sinnvolle Maßnahme.
Tempolimit hingegen bringt in der Sache nichts. Hier soll ein Grundrecht auf dem grünen Altar geopfert werden. Dies ähnelt fatal den Maßnahmen von genervten Eltern, die ihre quengeligen Kleinen mit Süßigkeiten bestechen. Der Punkt ist: Menschenrechte sind nicht disponibel. Sie sind keine Tafel Schokolade, mit der man Kleinkinder ruhigstellt. Auch hier fehlt dem gewöhnlichen Kuhhändler das Gespür für Werte, besonders für Freiheit.
Das ist das Ergebnis, wenn man seit Jahren von allem nur den Preis kennt, aber nicht mehr den Wert. Es ist wie beim Impfen: Wer geimpft werden möchte oder wer langsam fahren möchte, soll es tun. Er hat die Freiheit. Aber lasst den anderen auch ihre Freiheit, denn Freiheit gibt es nur für alle oder auf kurz oder lang für keinen.
Grundrechte: Gegenprobe
Freiheit funktioniert wie Grundrechenarten, man kann die Gegenprobe machen: Was wäre, wenn die Koalition jedem Impfwilligen verbieten würde, sich impfen zu lassen? Und wenn per Gesetz die Mindestgeschwindigkeit auf Autobahnen auf 200 km/h festgesetzt würde? Das wäre natürlich ein Unding. Wenn das aber richtig ist, wenn diese Freiheitseinschränkungen verkehrt wären, dann ist es das andere auch. Gefahren gibt es immer, der Punkt ist, dass man selbst wählt, welche man einzugehen bereit ist.
Dass man tyrannisch Denkende mit Entgegenkommen ganz grundsätzlich nicht befriedet, zeigen die Grünen jetzt sehr deutlich. Sie beklagen, in welch desaströsem Zustand Deutschland derzeit sei. Das ist eine treffende Feststellung, nur ist der Grund dafür das Verfolgen grüner Politik von allen Seiten. Alle Parteien beugten sich dem, was sie als modernen grünen Zeitgeist ansahen. Sie haben damit unser Land verschrottet: Die Energie ist dank grüner Energiepolitik futsch. Das Vertrauen in die Demokratie beschädigt, denn den Bürgern wurde die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen politischen Konzepten genommen und das Fundament unseres Staates, die Freiheit der Bürger, wurde geschleift. Alles scheint verhandelbar.
Und hat das gereicht, sind die Grünen nun einsichtig? Nein, natürlich nicht. Sie quengeln herum, es sei alles so schlimm und bla und blubb. Sie haben doch jahrelang mit ihrer Methode Erfolg gehabt, sind gewöhnt, sich durchzusetzen. Also wollen sie weiterhin vom Falschen mehr, es wird immer weiter gehen. Das passiert, wenn man keine Grenzen setzt und schützt. Das gilt für Länder genauso wie für Verhaltensweisen.
Was kommt als nächstes? Müssen Frauen sich verhüllen, um die religiösen Gefühle muslimischer Mitbürger nicht zu verletzen? Wer Menschenrechte sinnfrei einschränkt, sie zur Verhandlungssache macht, zerstört unseren Staat. Er hat weder aus der ferneren Geschichte gelernt noch aus der jüngeren mit den nutzlosen Corona-Einschränkungen.
Der Bürger dieses Landes soll und darf gerade kein Spielball der Regierenden sein, Opfer der Launen mehr oder minder kompetenter Regierungen. „Das ist verboten“ – dieses ist der Spruch, mit dem Deutschland bekannt wurde. „Verboten“ hat nach dem Zweiten Weltkrieg Eingang in die englische Sprache gefunden, diesen Satz lernten die Soldaten hier. Nun sind wir wieder genau da, Verbote und Zwang sind an der Tagesordnung.
Kurz zum Schluss: Warum wurden in Deutschland eigentlich so gute Autos entwickelt? Mit allen möglichen Sicherheitsaspekten wie der sicheren Fahrgastzelle u. v. m.? An Herausforderungen wächst man. Wer davor wegläuft, wird klein und schwach. Das sind die, die eine Krise nicht bewältigen können. Und sie werden zum Liebling der Regierenden. Es ist der todsichere Weg in die Tyrannei.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Annette Heinisch. Studium der Rechtswissenschaften in Hamburg, Schwerpunkt: Internationales Bank- und Währungsrecht und Finanzverfassungsrecht. Seit 1991 als Rechtsanwältin sowie als Beraterin von Entscheidungsträgern vornehmlich im Bereich der KMU tätig.
Text: Gast