Lesen Sie heute Teil 38 von „Putins Demokratur“. Warum ich Buch hier auf meiner Seite veröffentliche, können Sie hier in meiner Einleitung zum ersten Beitrag finden.
Putins Puppenkiste
Der Vorhang für die »Operation Nachfolge« fällt erst spät: Bis drei Monate vor der Präsidentschaftswahl am 2. März 2008 ist unklar, ob sich Putin wirklich an die Verfassung halten und nach zwei Amtszeiten wie vorgeschrieben abtreten wird – und wer dann sein Nachfolger werden könnte. Nahezu das gesamte politische Leben in Russland oder das, was davon übrig geblieben ist, drehte sich seit 2006 um die »Nachfolge-Frage«.
Am 10. Dezember 2007 ist es dann so weit. Die Chefs von vier kremltreuen Parteien kommen zu Wla dimir Putin. »Wir würden Ihnen gerne eine Kandidatur vorschlagen, die wir alle unterstützen. Es ist die des Ersten Vizepremierministers Medwedew, Dmitri Anatoljewitsch«, sagt Boris Gryslow, damals Chef der Kreml-Partei »Einiges Russland«. »Wir gehen davon aus, dass er der am sozialsten orientierte Kandidat ist.« Putin hört angespannt zu. Als sei der Vorschlag für ihn eine Überraschung, macht er ein bedächtiges Gesicht und sagt nach einer kleinen Pause: »Was die Kandidatur von Medwedew, Dmitri Anatoljewitsch angeht, so kenne ich ihn seit mehr als 17 Jahren sehr gut und unterstütze diese Kandidatur voll und ganz.«
Aus diesen Bildern erfahren die Menschen in Russland in den TV- Nachrichten, wer ihr neuer Staatschef wird. Kaum ein Russe wird Zweifel daran gehabt haben, dass die Szene Teil einer Inszenierung ist. Nicht die Parteichefs treffen Entscheidungen, sondern der Präsident. Weil Putin das Versteckspiel liebt, müssen sie dann dem »nationalen Führer«, wie sich Putin gerne nennen lässt, dessen Entschlüsse als ihre eigenen vorschlagen.
Medwedew selbst wirkt alles andere als glücklich über die Entscheidung seines obersten Chefs. Bewegungslos, mit versteinerter Miene und großen Augen sitzt er einen Tag nach seiner Nominierung am 11. Dezember 2007 hinter seinem Schreibtisch und liest monoton vom Teleprompter ab: »Ich betrachte es als von höchster Bedeutung für unser Land, Wladimir Wladimirowitsch Putin im höchsten Amt der Exekutive zu halten, dem Amt des Regierungschefs der Russischen Föderation.« Damit ist klar: Putin wird sich nicht etwa zurückziehen aus der Politik – sondern an den Schalthebeln der Macht bleiben, formal als zweiter Mann hinter Medwedew.
Der folgende Wahlkampf hat absurde Züge. Bis zu seiner Ernennung zum Nachfolger war über den farblosen Juristen eigentlich nur bekannt, dass er seit gemeinsamen Petersburger Zeiten ein treuer Gefolgsmann seines Ziehvaters Putin war. Einzig und allein das macht ihn bei dessen Anhängern so beliebt.
Mit mehr als 70 Prozent wird Medwedew im März in den Kreml gewählt – begleitet von Berichten über zahlreiche Wahlfälschungen. Anfangs haben viele noch Zweifel, wer nach Medwedews Wahlsieg das Sagen hat. Die Ungewissheit dauert nicht lange. Nach außen hin beschwört das Duo zwar Einigkeit. Sie seien seit 17 Jahren enge Vertraute, arbeiteten schon im Petersburger Rathaus zusammen. Doch Putin lässt Medwedew keinen Raum. Er übernimmt den Vorsitz der Kreml-Partei »Einiges Russland«, die eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament hält und somit auch ein Amtsenthebungsverfahren gegen Medwedew einleiten könnte.
Putin lässt das Amt des Premiers mit zusätzlichen Vollmachten ausstatten und gibt eine Luxus-Renovierung seines neuen Amtssitzes, des Weißen Hauses am Moskwa-Ufer, in Auftrag. Mit ihm ziehen zahlreiche seiner Vertrauten um; er lässt die Presse- und Protokollabteilung aufstocken. Aus Kreml-Kreisen heißt es gar, Putin erwäge, sich einen Faksimile-Apparat anzuschaffen, mit dem er Medwedews Unterschrift selbst unter einen Ukas stempeln könnte.
Medwedew spricht derweil sehr viel von Reformen, verspricht Freiheit, Demokratie und eine weltoffenere Gesellschaft. Er nennt Missstände beim Namen und schlägt in seinen Reden Töne an, dass man glauben könnte, nicht den Staatschef, sondern einen Oppositionellen vor sich zu haben. Viele russische Liberale und westliche Beobachter glauben an ein neues Tauwetter, an einen »Putinismus mit menschlichem Antlitz«. In einem fort spricht Medwedew von einem Umbau, also einer neuen »Perestroika«.
Gerade in Deutschland wird Kritik an den Zuständen in Russland in dieser Zeit regelmäßig zurückgewiesen mit dem Argument, Medwedew habe doch die Probleme sehr gut erkannt, man müsse ihm nur Zeit lassen.
Doch ausgerechnet da, wo man gewöhnlich sehr gut informiert ist, will keiner dem Präsidenten so recht glauben: Als der formell zweite Mann im Staat, Wladimir Putin, im Sommer 2008 dem Kohlekonzern Mechel unsaubere Geschäftspraktiken vorwarf und mit harten Konsequenzen drohte, brach der Kurs der Mechel-Aktien sofort ein. Als kurz darauf Präsident Dmitri Medwedew bei einem Treffen mit Managern voller Entschiedenheit versprach, der Staat werde aufhören, Unternehmer einzuschüchtern, nahmen die Investoren ihn offensichtlich nicht ernst: Die Mechel-Aktie blieb am Boden.
Krieg im Kaukasus
Dmitri Medwedew war gerade drei Monate im Amt, da rollten die Panzer und es wurde scharf geschossen. Schon seit Jahren hatte sich die Situation in den beiden abtrünnigen georgischen Teilrepubliken Abchasien und Südossetien zugespitzt. Sowohl die rund 240 000 Abchasen als auch die 72 000 Südosseten waren in ihrer Mehrzahl nicht glücklich darüber, dass sie sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 als Teil des unabhängigen Georgien wiederfanden – wobei etwa in Abchasien die Titularnation im Vergleich zu den Georgien im Verlauf des 20. Jahrhunderts in die Minderheit geraten war und 1989 nur noch 17,8 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. Abchasien und Südossetien sind zwei typische Beispiele für die Nationalitätenpolitik Stalins: Er zog die Grenzen zwischen den Völkern so, dass bei einem Aus einanderfallen des Riesenreiches blutige Konflikte geradezu vorprogrammiert waren. Von Transnistrien in Moldawien über Berg- Karabach in Aserbaidschan, Nordossetien und Inguschetien bis hin zu Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisien.
Beide Gebiete gehörten zwar auch schon in der UdSSR zur Georgischen Sowjetrepublik, aber damals hatte das in etwa so viel Bedeutung wie in Deutschland die Zugehörigkeit einer Region zu einem Bundesland. In Abchasien war es bereits 1992 zu einem blutigen Konflikt gekommen, als Georgien nach der Unabhängigkeitserklärung des früheren Urlauberparadieses am Schwarzen Meer im August 1992 seine Truppen vorrücken ließ. Nach anfänglichen Erfolgen mussten sich die Truppen der Zentralregierung aber im Herbst 1993 zurückziehen, allem Anschein nach auch wegen starker Unterstützung von jenseits der Grenze, als aus Russland. Nach Schätzungen von Menschenrechtlern kostete der Krieg auf beiden Seiten jeweils 4000 Menschen das Leben.
Rund 250 000 Menschen verloren ihre Heimat. De facto ist Abchasien seit 1994 unabhängig, und nach dem Moskauer Abkommen aus dem gleichen Jahr waren Friedenstruppen aus der GUS in der Region stationiert, vor allem russische Soldaten. Offiziell erkannte nicht einmal Russland Abchasien als unabhängigen Staat an. Ebenso hielt es Moskau mit Südossetien, das faktisch ebenfalls seit Anfang der 90er Jahre unabhängig war.
Ein Blick auf die Landkarte verrät: Der Kaukasus ist ein Nadelöhr zwischen Europa und Asien, vor allem beim Transit von Öl und Gas. Ohne den Kaukasus zu passieren, können die Energieträger aus der rohstoffreichen Kaspischen Region lediglich durch Russland oder den Iran transportiert werden. Putins Strategie der »Energie-Großmacht« setzt aber im Wesentlichen darauf, den Abnehmern seines Öls und Gases in Europa alternative Lieferanten und Lieferrouten vorzuenthalten. Instabilität im Kaukasus kommt dieser Strategie stark entgegen; die umstrittenen Gebiete grenzen teilweise sehr nahe an die Pipelines, die Öl und Gas aus dem energiereichen Kaspischen Raum nach Europa transportieren und die der Westen ausbauen will.
Aber es geht nicht nur um Energie und Geopolitik. Georgien ist für die Russen ein geradezu mystisches Land. Generationen von Sowjetbürgern verbrachten ihren Urlaub an der Riviera am Schwarzen Meer; allein die Erwähnung von georgischem Wein löst bei den meisten Russen heimelige Gefühle aus; die Küche der Kaukasus-Republik ist für Russen das, was für uns die französische ist. Das legendäre Mineralwasser »Borschomi« half schon der Zarenfamilie, ihre Mägen zu kurieren und war zwischen Kaliningrad und Wladiwostok ein Allzweckmittel im Kampf gegen Gebrechen und Kater. Schon unter Schewardnadse ging dem Kreml die Annäherung Georgiens an die NATO und den Westen viel zu weit.
Moskau registrierte besorgt, dass plötzlich US-Soldaten in einem Land auftauchten, das es als sein ureigenes Einflussgebiet betrachtet: Es handelte sich zwar nur um eine überschaubare Zahl von Ausbildern, aber die Symbolkraft war gewaltig, vor allem, weil die USA auch Waffen und Ausrüstung nach Tiflis lieferten.
Dass Moskau die – etwa im Gegensatz zu den Balten – traditionell sehr russlandfreundlichen Georgier selbst in die Hände der NATO getrieben hat, verdrängten die Verantwortlichen. 2002 etwa herrschte in Tiflis Angst vor einem Luftschlag, nachdem Putin Georgien wegen angeblicher Hilfe für tschetschenische Separatisten mit Krieg gedroht hatte.
Es war abzusehen, dass die ohnehin starken Spannungen zwischen Tiflis und Moskau noch schärfer würden, nachdem mit Michail Saakaschwili ein Präsident das Ruder übernahm, der in den USA studiert hatte und ganz auf den Westen ausgerichtet war. Kaum gewählt, machte der groß gewachsene, kräftige Frauenschwarm sich den kleinwüchsigen Putin angeblich zum Erzfeind – weil er ihn Liliputin nannte. Saakaschwili dementiert das.
Fakt ist jedoch die erbitterte Feindschaft zwischen den beiden. Der gelernte Rechtsanwalt Saakaschwili machte die Wiedereingliederung Abchasiens und Südossetiens prompt zu einer seiner Prioritäten und setzte sich damit selbst in Zugzwang. Der Kreml ließ an die Bewohner der beiden Krisenregionen großzügig russische Pässe verteilen.
Seit 2004 kam es vor allem an der Grenze zwischen Südossetien und Georgien immer wieder zu teilweise bewaffneten Zusammenstößen, wobei sich beide Seiten wechselseitig beschuldigten, diese begonnen zu haben.
Die Lage verschärft sich im Frühjahr 2008. Im April dringt eine georgische Drohne in abchasischen Luftraum vor und wird von russischen Kampffliegern abgeschossen. Beide Aktionen verstoßen gegen das Moskauer Abkommen von 1994. Im Mai entsendet der Kreml Eisenbahn-Truppen nach Abchasien. Sie sollen die Schienenwege nach Russland erneuern. Das wiederum alarmiert Saakaschwili, er lässt seine Armee in Alarmbereitschaft versetzen.
In der Folgezeit kommt es beinahe täglich zu militärischen Zusammenstößen an den Grenzen zu den beiden Regionen. Auch Mitglieder der OSZE-Mission werden attackiert. Am 3. Juli tötet eine Bombe Nodar Bibilow, den Polizeichef des Dorfes Dmenisi in Südossetien. Wenige Stunden später gibt es erneut einen Anschlag, diesmal auf den Chef der pro-georgischen »Gegenregierung«, Dmitri Sanakojew. Drei georgische Polizisten werden verletzt. Zwei Tage lang kommt es daraufhin zu Granatgefechten.
Später dringen russische Flieger in den georgischen Luftraum ein. Russland gibt den Verstoß demonstrativ zu. »Dieser Schritt hat es uns erlaubt, die heißen Köpfe in Tiflis abzukühlen«, teilt das Moskauer Außenministerium offiziell mit. Georgien beruft seinen Botschafter aus Moskau ab; der klagt gegenüber der Tageszeitung Kommersant, Russland habe eine »ungetarnte Aggression gegen Georgien gestartet«, und die »zynischen Erklärungen des Außenministeriums« verletzten »sämtliche Grenzen«.
Am 15. Juli beginnt Moskau ein groß angelegtes Manöver an der Grenze zu Georgien. 8000 Mann und 700 Fahrzeuge sind im Einsatz. Am gleichen Tag starten 1000 georgische, 600 US-amerikanische, und jeweils zehn aserbaidschanische, armenische und ukrainische Soldaten jenseits der Grenze ein Manöver, das sie »verdiente Antwort« nennen. Am 27. Juli machen sich Vertreter der Friedenstruppe mit OSZE-Beobachtern auf den Weg zur Ortschaft Tschorbauli. Sie wollen Berichten nachgehen, denen zufolge südossetische Militärs illegal Befestigungen errichten.
Doch sie können ihren Auftrag nicht erfüllen: Die südossetischen Soldaten verstellen ihnen den Weg und geben Warnschüsse direkt über ihre Köpfe ab. Am 31. Juli verletzt eine Bombe an der Grenze sechs georgische Polizisten. Im Anschluss kommt es zu schweren Zusammenstößen mit Toten und Verletzten. Beide Seiten melden, ihr Territorium sei beschossen worden, und behaupten, die andere Seite habe angefangen. Von Tag zu Tag eskaliert die Gewalt.
Am Tag der Eröffnung der Olympiade in Peking, am 8. August, ist klar: Es herrscht Krieg. General Mamuka Kuraschwili sagt, die georgischen Truppen hätten eine Großoffensive gestartet, um die verfassungsmäßige Ordnung in Südossetien wiederherzustellen – exakt die gleiche Wortwahl, die einst Putin wählte, als er in Tschetschenien einmarschierte. Damit bietet Georgien Moskau eine Steilvorlage, denn es stellt sich selbst als Aggressor dar. Präsident Michail Saakaschwili pfeift seinen General weder zurück, noch dementiert er dessen Angaben. Die Version der Ereignisse aus georgischer Sicht wird nur scheibchenweise bekannt: Tagelang hätten demzufolge die Südosseten mit ihrer Artillerie benachbarte georgische Dörfer beschossen. In der Nacht auf den 8. August habe der Beschuss massiv zugenommen, gleichzeitig hätten die Russen in großem Umfang Truppen durch den Roki-Tunnel – die einzige einfach befahrbare Verbindung über die Grenze nach Georgien – gebracht. Was weiter geschah, darüber gab es selbst aus Tiflis unterschiedliche Angaben: Mal war von einer Offensive die Rede, die Georgien startete, um den russischen Vormarsch zu stoppen, mal von einem Angriff der Südosseten, den man lediglich erwidert habe.
Ganz anders die Moskauer Version: Im Morgengrauen ertönte demnach plötzlich der Donner der georgischen Artillerie; Tiflis’ Truppen marschierten in die südossetische Hauptstadt Zchinwali ein, 2000 Zivilisten starben. Russische Soldaten kamen daraufhin den eigenen Friedenskräften und der Bevölkerung zu Hilfe.
Zu diesem Zeitpunkt ist unklar, welche Version zutrifft – die russische oder die georgische. Ohne Zweifel steht jedoch fest, dass Russland mit seinen Truppen in georgisches Kernland einmarschiert ist. Am 9. August bombardiert die russische Luftwaffe auch Ziele weit im georgischen Hinterland. Damit führt Moskau de facto Krieg gegen das Nachbarland.
Die jahrelange Praxis, russische Pässe an die Bewohner von Abchasien und Südossetien zu verteilen, nutzt der Kreml jetzt als Rechtfertigung für sein militärisches Eingreifen. Es gehe darum, russische Staatsbürger zu verteidigen, sagte Präsident Dmitri Medwedew. Es fällt auf, dass er sich mit aggressiven Tönen eher zurückhält. Während sein politischer Ziehvater Putin im fernen Peking bei der Olympiade als Erster auf den Konflikt reagiert und wie gewohnt in aggressiver Manier Vergeltung androht, meldet sich Medwedew erst Stunden später zu Wort: Bedächtig und ruhig redet er von den humanitären Problemen statt von Rache.
Ebenso wie in Moskau wird der seit Jahren schwelende Konflikt im Kaukasus auch in Georgien für innenpolitische Zwecke ausgeschlachtet. Kritiker werfen Saakaschwili vor, er lenke mit Hilf der außenpolitischen Spannungen von eigenen autoritären Tendenzen und sozialen Problemen in Georgien ab. Anders als sein Vorgänger Eduard Schewardnadse ließ sich der ebenso junge wie
temperamentvolle Staatschef mehrfach von den Russen provozieren – und schreckte auch selbst nicht davor zurück, den mächtigen Nachbarn zu provozieren, ja zuweilen gar zu demütigen.
Im russischen Fernsehen wird aus dem Krieg im Kaukasus gleich ein Flächenbrand: Der ganze Westen greife Moskau an – an der Informationsfront, klagt der Staatssender »Rossia«. Die unschuldigen russischen Friedenstruppen in Südossetien seien Opfer einer brutalen georgischen Attacke geworden. Die TV-Berichte aus Moskau erwecken den Eindruck, Georgien hätte in Zchinwali einen Völkermord geplant und die Stadt in Schutt und Asche gelegt – dabei waren die Zerstörungen Gott sei Dank überschaubar, wie sich nach dem Krieg herausstellte. Während der Kreml seine Landsleute verteidige, so der Tenor im Fernsehen, verleumde der Westen die hehre Absicht Moskaus. Die Medien zwischen San Francisco und Warschau stünden ganz auf der Seite Georgiens. Die russischen Vorwürfe haben nur einen Haken: Sie zielen auf ein Phantom, denn im Westen sind die Meinungen zum Krieg durchaus geteilt. So wirkt es fast, als hätte das Staatsfernsehen seine Propaganda-Angriffe gegen den Westen schon vorab vorbereitet – und gar nicht damit gerechnet, dass in den westlichen Medien eher die russische Version der Ereignisse vorherrschen würde. Und zwar vor allem aus einem Grund: weil die Angaben der Georgier widersprüchlich waren.
Erst rund 45 Kilometer vor Tiflis, bei dem Dorf Igojeti, machen die russischen Panzer halt. Hier inspiziert Georgij Lomaja, der Chef des georgischen Sicherheitsrats, die Frontlinie. Unrasiert, mit durchgeschwitztem Hemd. Lomaja ist auf dem Weg in das besetzte, von der Außenwelt abgeschnittene Gori, Stalins Geburtsstadt. »Wenn Sie wollen, steigen Sie ein«, bietet er plötzlich im Gespräch an. »Ich nehme Sie mit, nach Gori rein. Aber ich fahre nicht zurück, Sie werden dort bleiben müssen.«
Es geht über leere Straßen, vorbei an Kontrollposten mit Panzern und Soldaten mit der Kalaschnikow im Anschlag; Lomaja muss ihnen jedes Mal erklären, wer er ist, wohin er will: »Ich bin der Sicherheitsratschef, ich war schon da, ich darf durch, General Borissow hat es mir erlaubt.« Durch das Wagenfenster ist ein Feuer zu sehen. »Das sind Felder, die Russen stecken sie an«, sagt Lomaja. Gori ist eine Geisterstadt. Kein Mensch weit und breit, kein Auto. Helle Straßenbeleuchtung, doch kein einziges Licht in den Fenstern. Die Umrisse Stalins tauchen in der Dunkelheit auf, auf dem zentralen Platz von Gori, das seinen berühmten Sohn immer noch mit einer Statue ehrt. Im Militärkrankenhaus erzählt der Chefarzt, ein kleiner, müder Mann, von den Schrecken der vergangenen Tage: 1200 Verletzte, 18 Tote. Er zeigt eine Stelle, an der ein Mitarbeiter von ihm umkam: »Die Bombe hat ihm den oberen Teil des Schädels abgeschlagen.«
Am nächsten Morgen geht es in einen Kindergarten, der hastig zur Flüchtlingsunterkunft umgebaut wurde. »Ich habe für Russland gekämpft, gegen Hitler, und jetzt ist es Russland, das mich zum Obdachlosen gemacht hat«, klagt Konstantin Chercheuladse. Seine Stimme stockt. »Alles, was ich noch besitze, sind die Kleider an meinem Leib. Mit 83 muss ich jetzt in einem Kinderbett schlafen, das mir viel zu klein ist, die ganze Nacht muss ich mich krümmen«, sagt der pensionierte Lehrer und verliert seinen Kampf gegen die Tränen. »Jetzt werde ich wohl wieder hungern müssen, wie damals, im Krieg. Wozu noch leben? Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr.«
»Russische Soldaten kamen in unser Dorf, nach Kurta, bei Zchinwali, und in ihrem Schlepptau kamen Plünderer, sie haben alles mitgenommen, was sich aus den Häusern tragen ließ, meinen Fernseher, Kühlschrank, alles«, sagt Chercheuladse und sucht mit seiner zitternden Hand Halt an der Kante des Kinderbettes. »Dann kamen Männer in Uniform und sagten, alle, die Georgier sind, müssten wegfahren, sonst würden sie erschossen.« Sie setzten Chercheuladse in einen Bus und fuhren ihn weg von zu Hause, weg von seinem alten Leben. Ihn und alle im Dorf, die Georgier sind.
Im Nachbarsaal sitzt Manana Galegaschwili, eine Lehrerin aus dem Nachbardorf Aschaweti. »Die Russen zwangen mich, ihnen ein Fernsehinterview zu geben. Die Antworten, die ich geben sollte, hatten sie auf einen Zettel geschrieben. Ich musste das dann vor laufender Kamera sagen, für den russischen Sender NTW, die standen mit Kalaschnikows hinter der Kamera«, erzählt sie. Die
Propaganda sei schuld am Krieg: »Wir haben immer friedlich zusammengelebt, das Fernsehen hat die Menschen aufgehetzt.« Wenn Vize-Gouverneur Ramas Tschotschischwili jetzt von einem Teil Goris in den anderen will, über die Mtkvari-Brücke, muss er russische Soldaten um Erlaubnis bitten: Auf beiden Seiten sind die Auffahrten von russischen Panzern abgeriegelt. »Halten Sie etwas bereit für die Nase, ein Tuch, es riecht dort unerträglich«, warnt der Mann mit den dichten Bartstoppeln und spricht nur stockend weiter: »Dort liegen Leichen unter den Trümmern. Wir können sie nicht bergen, weil die Russen das Bergungsgerät nicht durchlassen.« Die Annäherung an das zerbombte zweistöckige Haus fällt schwer. Auch der starke Wind kann den süßlichen Geruch der Leichen, die unter den Trümmern verwesen, nicht vertreiben. Hausrat liegt über die Straße verstreut, einen alten Sessel hat die Druckwelle offenbar mitten auf den Asphalt hinauskatapultiert.
Ein paar Straßen weiter kommt es an zwei Bussen des türkischen Roten Halbmonds zu einem Handgemenge. Helfer verteilen Kartons mit Lebensmitteln an die Menschen. Dutzende Hände recken sich nach oben, Richtung Tür. Eine alte Frau stolpert, andere fallen auf sie, weitere versuchen, ihr den Karton mit Reis und Mehl abzunehmen. Sie versucht, ihn festzuhalten, klammert sich an ihn, schreit aus letzter Kraft.
In der Suchischwili-Straße im Stadtteil Werchbebi haben Moskaus Truppen die örtliche Kaserne besetzt. Vor den Augen einer Schützenpanzer-Besatzung räumen die Anwohner die Armeebestände aus den Lagern aus. »Wir haben das erlaubt, weil die Menschen ja sonst nichts zu essen haben«, sagt ein russischer Leutnant, Kommandant des Panzers. »Wir sind hier nur auf der Durchreise.« Seine Soldaten tragen Wassermelonen in den Panzer und binden eine Matratze auf ihm fest. Beutegut. Etwas weiter hinten packen russische Soldaten eine ganze Ladung von neuen Matratzen auf einen ihrer Militärlaster.
Am 15. und 16. August einigen sich Russland und Georgien auf Vermittlung Frankreichs auf einen Waffenstillstand. Südossetien und Abchasien erklären sich für unabhängig, Moskau erkennt sie an. Der Kreml und seine Medien werfen den westlichen Medien vor, einseitig berichtet zu haben. Dass sich die Journalisten schwertaten, die Standpunkte beider Seiten zu beleuchten, hat sich Moskau aber selbst zuzuschreiben. Viele ausländische Korrespondenten wollten nach Südossetien, um auch dort mit Augen zeugen und Regierungsvertretern zu sprechen und sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. Doch die Reisepläne scheiterten schon in der Planungsphase. Im Verteidigungsministerium in Moskau kam die Antwort, die Frontlinie dürfe nur mit einem Passierschein überquert werden. Der wiederum sei nur im Hauptquartier der russischen Truppen in der südossetischen Hauptstadt Zchinwali zu erreichen. Dorthin wiederum kann man aber ohne den Passierschein gar nicht gelangen – also ein Teufelskreis. Genauso wie der Versuch, nach Südossetien zu kommen, misslingen auch alle anderen Bemühungen, einen hochrangigen russischen Ansprechpartner für ein Interview zu bekommen: Alle Anfragen bleiben – ganz anders als in Georgien – im Dickicht der Moskauer Bürokratie stecken.
Der frühere US-Vize-Staatssekretär Ronald D. Asmus schreibt später in einem Buch über den Krieg, die russische Intervention sei nicht nur gegen Georgien, sondern im weiteren Sinne gegen den Westen gerichtet gewesen. Asmus zitiert einen Moskauer Militärexperten: »Der Krieg hätte stattgefunden, egal, was die Georgier getan hätten. Das Ziel war, Georgiens Regierung zu zerstören und einen NATO-Beitritt Georgiens zu verhindern.« Der Einmarsch im Nachbarland war für Putin ein Testballon, wie weit ihn der Westen gehen lässt. Die Antwort beschreibt Asmus mit einer Szene, in der die Präsidenten Polens und der Baltischen Staaten Solidarität mit Georgien demonstrierten, während Sarkozy hundert Meter weiter versuchte, Saakaschwili für einen Waffenstillstand zu überzeugen: »Sie sind allein. Wenn Sie nicht unterschreiben, kommen die russischen Panzer.«
Noch im Jahr des Georgien-Kriegs berichten Medien, dass Moskau auf der Halbinsel Krim, die zur Ukraine gehört, an die Bewohner russische Pässe verteilen lässt – genauso wie früher in Abchasien und Südossetien. »Krisenherd Krim« heißt die Überschrift eines Artikels von Johannes Voswinkel in der Zeit von 2008. Die »Neu-Russen« seien ein Faustpfand Moskaus, schrieb er da, und ein Szenario für ein Eingreifen Moskaus auf der Halbinsel könnte ein Konflikt zwischen den Bevölkerungsgruppen sein. Kaum jemand hörte diese Warnung.
Den vorherigen, siebenunddreißigsten Teil – Ausblick von 2006 – finden Sie hier.
Den ersten Text der Buchveröffentlichung finden Sie hier.
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