Deutschland und Russland – totalitäre Demokratie und freiheitliche Autokratie Können Deutsche und Russen aus ihrer Geschichte oder gar voneinander lernen?

Ein Gastbeitrag von Vera Sandström*

In gesellschaftlichen Krisenzeiten kann ein Blick in die Vergangenheit helfen, Perspektiven zu erweitern und Dinge klarer zu sehen. Besonders in eine Vergangenheit mit persönlichem Bezug. Vielleicht ist dieser Gastbeitrag interessant für den einen oder anderen Leser, zumal auf einer Plattform, die sich durch ein besonderes Interesse für die deutsch-russische Thematik auszeichnet.

Mein russischer Opa väterlicherseits starb in den Jugendjahren meines Vaters, ich habe ihn deshalb nie persönlich kennengelernt.

In unserer Familie wird von ihm erzählt, dass er als Jugendlicher im russischen Bürgerkrieg (1917-22) in Kasan von den Bolschewiken rausgepickt und verschleppt wurde, weil er lesen und schreiben konnte. So war er dann auch für den Oberbefehlshaber der Roten Armee Trotzki (Trotzki war ein Pseudonym, er hieß bürgerlich Lev Bronstein) als Schreiberling tätig und erlebte die Unbarmherzigkeit und kalkulierte Brutalität des Bürgerkriegs mit eigenen Augen, stand mehrfach selbst vor der eigenen Erschießung wegen Nichtigkeiten.

Trotzki fuhr also während des Kampfes um die Macht in Russland mit Entourage inkl. meines gekidnappten Großvaters im Eisenbahnwaggon durchs Land. Auf jedem Bahnhof eines von den Roten neu eingenommenen Ortes wurde erst einmal der Bahnhofsvorsteher erschossen, wenn er offensichtlich Russe war (dem Namen nach) und durch einen treuen nicht-russischen (dem Namen nach) Bolschewiken aus den eigenen Reihen ersetzt. Dieser Terror sollte in Trotzkis Kalkül nach innen und außen abschreckende Wirkung haben. Besonders gegenüber den ethnischen Russen hatten die Bolschewiken maximales Misstrauen. Trotzki (und ähnlich Lenin) sah sie als natürliche Unterstützer der bürgerlich-zaristischen Weißen und Gegner der Kommunistischen Internationale, die nur mit äußerster Brutalität und Sippenhaft zu Loyalität gegenüber den Bolschewiken gezwungen werden könnten. Im weiteren Verlauf der „Reise“ erkrankte mein Großvater dann an Typhus und wurde irgendwo in den weiten Russlands aus dem Waggon geworfen. Er überlebte, weil ihn eine Bauernfamilie gefunden und aufgepäppelt hat.

Seit jener Zeit hat mein Großvater die Bolschewiken für ihre Taten innerlich gehasst, wobei er sowohl seinen Hass als auch seine Erfahrungen im Bürgerkrieg zur eigenen Sicherheit natürlich im engsten Familienkreis bewahrte. Wer sich 1991 darüber wunderte, wie die scheinbar stabile Sowjetunion innerhalb kürzester Zeit als Folge von „zersetzendem“ Treiben vor allem innerhalb der Russischen Föderation implodieren konnte, sollte berücksichtigen, dass dieser Hass auf die Bolschewiken vor allem innerhalb vieler gebildet-bürgerlicher Familien in Leningrad und Moskau von Generation zu Generation weitergegeben wurde, auch wenn an der Oberfläche davon wenig bis nichts zu sehen war. Daran konnten auch Jahrzehnte späterer offensichtlicher sowjetischer Erfolge im Großen Krieg, in Wissenschaft und Bildung der Bevölkerung und im allgemeinen Lebensstandard nur wenig ändern. Und so verstanden nach dem Zerfall der Sowjetunion die Eliten im postsowjetischen neuen Russland erst mit Verzögerung, dass sie bei der aus ihrer Sicht national-emanzipatorischen Auflösung der Sowjetunion das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hatten. Die verhassten bolschewistischen Kommunisten (in ihrer mit den Jahren aber schon weitgehend harm- und ideenlos gewordenen „mutierten“ Variante) waren zwar weg, aber auch viele ehemals – vor der bolschewistischen Aufteilung in „fake-unabhängige“ Sowjetrepubliken – russische Gebiete inkl. russischer Bevölkerung waren nun Ausland.

Und in den Augen des Systemkonkurrenten USA hatten „the Russians“ den Kalten Krieg verloren, während aus Sicht des neuen Russland „die Sowjets/Bolschewiken/Kommunisten“ verloren und die bürgerlich-konservativen Russen – auch stark inspiriert von der als freiheitlich beworbenen und geglaubten Lebensweise der Amerikaner – endlich den noch immer schwelenden Bürgerkrieg gewonnen hatten. Diese unterschiedliche Sichtweise ist der Grund für die meisten heutigen Probleme zwischen Russland und „dem Westen“, denn aus einem gemeinsam erkämpften Sieg ergibt sich von beiden Seiten eine andere Erwartung an das gegenseitige Verhältnis als aus einem Verhältnis Sieger zu Besiegtem. Und eine neben der liberalen auch nationalistische „groß-russische“ Komponente der russischen Unabhängigkeitsbestrebung von der Sowjetunion war schon Ende der 1980-er klar zu erkennen (wenn man sie erkennen wollte). Das nur in Kürze – um die große Politik soll es an dieser Stelle eigentlich nicht gehen.

Zurück in die Vergangenheit und zu meinem eigentlichen Thema: Während des Zweiten Weltkriegs war mein Großvater dann Leiter eines wissenschaftlichen Instituts und wurde nach dem sowjetischen Sieg beauftragt, als Leiter einer Mission nach Deutschland zu gehen. Vor diesem Einsatz hatte er wohl sehr große Bedenken, weil natürlich die deutsche Propaganda vom „arischen Übermenschen“ in der Sowjetunion ebenso präsent war wie die auf Vernichtung ausgerichtete deutsche Kriegsführung im Osten. Er ging davon aus, dass sich diese „Arier“ in ihrem Wahn von einem „Untermenschen“ nichts sagen lassen würden und er den Deutschen als Vorgesetzter seine Autorität auf brutale Art und Weise beweisen muss, ähnlich wie er es im russischen Bürgerkrieg selbst erlebt hat. Als feinsinnigem und durch die Erlebnisse nach heutigem Maßstab traumatisiertem Menschen war ihm diese Vorstellung extrem zuwider, aber nach Deutschland musste er so oder so, die Weisung von oben war klar. Umso erstaunter soll er dann vor Ort im Berlin des Jahres 1945 gewesen sein, wie untertänigst diese „Übermenschen“ nun versuchten, ihm jeden Wunsch von den Lippen abzulesen – ohne jedes Anzeichen von Widerspenstigkeit, Diskussion oder gar eigener Meinung. Das hatte so gar nichts vom „arischen Übermenschen“. Und obwohl diese Unterwürfigkeit meinem Großvater naturgemäß das Dasein in Deutschland sehr angenehm gestaltete, blieben ihm die Deutschen als Nation ein Rätsel. Warum hörte er von den Deutschen nie eine abweichende Meinung, nie einen Gegenvorschlag? Waren am Ende der Vernichtungskrieg, das Morden, die Unmenschlichkeit, die Lager, die totale Niederlage – alles ohne wirkliche Überzeugung, auch nur weil es die Obrigkeit verlangte und alle stumpf folgten? Aber warum nur? Mit Angst alleine war diese Folgsamkeit für ihn nicht zu erklären.

Dieses konforme Ausrichten nach Autorität war meinem Großvater selbst im angsterfüllten stalinistischen System fremd. Einem Russen leuchtet viel eher ein, dass man einer ideologischen Verblendung folgend einen mörderischen Überlegenheitswahn oder sonst eine verrückte Idee in sich tragen kann, als dass man auf Befehl oder Vorschrift hin sein menschliches Dasein und Denken komplett abstreift oder unterdrückt. Mein Großvater hatte jedenfalls eine unerwartet gute Zeit im Nachkriegsdeutschland, lernte dort auch meine Oma kennen, die als frisch ausgebildete Dolmetscherin direkt von einer Moskauer Uni nach Deutschland geschickt wurde. Unter anderem übersetzte sie für die sowjetische Delegation in den Nürnberger Prozessen. Entsprechend wurde mein Vater in Berlin geboren, bevor die so entstandene Familie in die Sowjetunion zurückkehrte. Meine Oma war genauso geprägt von einem starken inneren Antikommunismus (bei gleichzeitigem russischem Patriotismus und Hochachtung vor der deutschen Kultur – und das 1946!), der seinen Ursprung natürlich ebenfalls in den Repressalien ihrer Familie durch die Bolschewiken während des Bürgerkriegs hatte. Als gemeinsame familiäre Tragödie blieben diese Qualen immer präsent. Meine Oma zog als über 70-jährige Anfang der 2000-er Jahre dann tatsächlich zu ihrer inzwischen in Berlin lebenden Tochter, zurück in die Stadt, die sie völlig zerstört nach dem Krieg erlebt hatte. Ich habe mich immer gefragt, welche Empfindungen und Gedanken meine Oma wohl hat, wenn sie Berlin jetzt erlebt, durch die Straßen geht, aber das Leben lehrte sie, sehr verschlossen in ihrem Inneren zu sein, so dass sie kaum jemals darüber sprach. Zu beobachten war jedenfalls, dass sich im heutigen Berlin ihre Einstellung zu Russland änderte, sie blickte nicht mehr so verbittert auf ihr Land, sondern zunehmend nachsichtig und verständnisvoll. Und ihre Hochachtung vor allem Deutschen verflog irgendwie. Sie starb im vergangenen Jahr fast 100-jährig in Berlin.

Überhaupt finde ich in dem Zusammenhang sehr interessant, was Völker aus den katastrophalen Phasen ihrer Geschichte lernen. Russland und Deutschland hatten beide solche Phasen ja mehrfach im vergangenen Jahrhundert. Einem sehr lesenswerten Artikel zur gescheiterten deutschen Vergangenheitsbewältigung von Boris Reitschuster kann ich mich nur anschließen. Dazu fiel mir spontan ein Gespräch mit einem Arbeitskollegen ein, der mir vor einigen Wochen emotional versicherte, er wäre ja der Erste, der aufstünde, wenn wieder die Nazis die Macht übernehmen würden, wobei ich nicht anders konnte, als ihm zu entgegnen, dass er diese Nazis nicht mal erkennen würde, wenn sie direkt vor ihm wären – was ihn kränkte.

Es zeigt sich eine merkwürdige Evolution deutscher Vergangenheitsbewältigung, die im Merkel-Deutschland gar nicht (mehr) das Ziel verfolgt, innenpolitisch eine erneute Einseitigkeit, ein erneutes Ausschließen Andersdenkender zu verhindern, die sich mit dem Hinterfragen von Konformität überhaupt nicht mehr beschäftigt – die diese Fragen ja gar nicht (mehr) für wichtig erachtet, sondern im Gegenteil Konformität „für die richtige Sache“ erzeugen will. Dazu wird die ostdeutsche Erfahrung mit einem totalitären Regime von den Westdeutschen leider gar nicht als Lernstoff betrachtet, ist für den Wessi „die Geschichte der Anderen“, obwohl sie noch lehrreicher ist für die heutige Situation als die Nazi-Zeit.

Zusammengefasst lautet die heute in Deutschland dominierende Lehre aus der eigenen Vergangenheit, aktiv „Wiedergutmachung“ leisten zu wollen, indem man sich maximal kollektiv und einheitlich für die humanistische und anti-nationalistische Sache einsetzt, dadurch die eigene Vergangenheit quasi rückwirkend „positiv verändert“, und andere Länder dazu nötigt, sich gefälligst an den tugendhaften deutschen Vorbildern zu orientieren. Und dabei der eigenen Bevölkerung bewusst falsch suggeriert, innerhalb der eigenen Gesellschaft und bei anderen europäischen Ländern käme diese Art deutscher Vergangenheitsbewältigung sehr gut an. Das ist ein ganz anderer Ansatz als noch in den 1990-er Jahren, der leider viel mehr an „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!“ erinnert als an eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Also ein Zurück in die Vergangenheit statt deren Bewältigung.

Russlands Vergangenheitsbewältigung umfasst andere Aspekte. Einerseits gibt es eine breite gesellschaftliche Erkenntnis, dass jedes System besser ist als Chaos. Das betrifft die von breiten Bevölkerungsschichten als katastrophal und führungslos erlebten 1990-er Jahre, und es betrifft ebenso die in vielen Familien lebendigen Erinnerungen an die Zeit nach 1917. „Nie wieder Revolution/Umsturz/Staatsstreich“ ist ein Credo dieses Aspektes russischer Vergangenheitsbewältigung – im Kreml lieber zu viel Führung als zu wenig, Stabilität als Heiligtum staatlichen Handelns. Andererseits, und vom Ausland nur sehr wenig beachtet, gibt es als Folge der russischen Dramen des 20. Jahrhunderts ein nicht weniger wichtiges Credo in Russland: „nie wieder Totalitarismus“. Obwohl Russland offensichtlich autoritär geführt wird, ist es im Gegensatz zur Sowjetunion mit politischer Absicht nicht totalitär. Staatliche Autorität tangiert bewusst nicht mehr alle Aspekte des Lebens seiner Bürger, sondern nur diejenigen, die für staatliche Stabilität als erforderlich betrachtet werden. (Es lässt sich natürlich zurecht darüber streiten, ob der Staat dabei nicht zu paranoid auftritt – siehe Credo Nr. 1 „nie wieder Revolution/Umsturz/Staatsstreich“.) Der russische Staat mischt sich aber in persönliche Lebensbereiche der Menschen kaum ein, gibt ihnen im gelebten Alltag einen Grad an Freiheit, der bereits vor Corona viele Westler neidisch machte, wenn sie diesen erleben konnten (und meist völlig überrascht von den Freiheiten waren, weil sie nach der entsprechenden medialen Berichterstattung in Russland einen Polizeistaat erwarteten).

Es ist auch eine Frage der Mentalität. Der in Deutschland allgemein präsente Leitsatz, die persönliche Freiheit endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt, würde von heutigen Russen als Feigenblatt zur Freiheitsbeschränkung betrachtet. Ein „sich sorgender“ Staat, der Eisflächen „freigibt“ bzw. mit Hubschraubern Leute vom Eis vertreibt, der polizeilich Kindergeburtstage auflöst, rodelnde Familien kriminalisiert, sich anmaßt, die Art und Anzahl privater Kontakte zu kontrollieren und Menschen kompromisslos zum Maskentragen zwingt, ist totalitär. Er dringt in Lebensbereiche menschlicher Grundrechte vor, in denen staatliche Regulation nichts verloren hat – jeder vermeintliche Grund dafür ist unzulässig. Freiheit für einen Russen, auch als Lektion aus der Geschichte, ist zu tun und sagen, worauf man Lust hat, Risiko und Verantwortung dafür selbst zu tragen, ungeachtet aller anderen Menschen, und die angepassten Duckmäuser von ganzem Herzen zu verachten. Eigentlich könnte man auf die Idee kommen, dass diese Lektion aus der Geschichte ebenso für Deutschland gelten sollte.

Was aber heute in Deutschland „normal“ geworden ist und auf unabsehbare Zeit wohl so bleiben wird, habe ich mir nicht vorstellen können. Es sind Maßnahmen eines lupenreinen totalitären Staates, welch „gute“ Absicht er damit auch immer verfolgen möge. In Russland wären diese Einschränkungen als Lehre aus der totalitären Sowjetzeit schlicht undenkbar. Was für ein Paradoxon – totalitäre Demokratien und freiheitliche Autokratien! Aber wir sind die Guten, vertraut uns!

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* Die Autorin (m/w) ist Psychologin und Therapeutin und schreibt hier unter Pseudonym.

Bild:
Text: Gast

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