Deutschland: Wie in einer Sekte Ein Blick aus dem Ausland

Von Ekaterina Quehl

„Gerade bin ich raus, um Kaffee to go zu holen, und bin aus allen Wolken gefallen, als ich nach dem QR-Code gefragt wurde. Happy New Year!“, schrieb mir kürzlich meine Schwester aus St. Petersburg. Ich war entsetzt. Die Regelung wurde auch in anderen Regionen Russlands eingeführt und ich machte mir Sorgen wegen meiner bevorstehenden Reise nach Sotschi. Denn selbst wenn ich einen deutschen QR-Code besitzen würde, wäre er eigentlich gar nicht anwendbar in Russland: Ein digitales Impf-Zertifikat in Russland kann man nur dann bekommen, wenn man mit einem der russischen Impfstoffe geimpft ist.

Einen Aufenthalt mit scharfen Restriktionen wie in Deutschland, in dem der Radius meiner persönlichen Freiheiten sich so groß anfühlt wie eine Schlinge um den Hals, wollte ich auf gar keinen Fall. Bis jetzt waren aber weder die Einschränkungsmaßnahmen in Russland sehr strikt, noch wurden sie konsequent eingehalten, so dass ich ein normales Leben in Russland führen konnte. Aber eine QR-Code-Regelung ist etwas Spezielles. Etwas, wodurch ein Teil der Menschen in ihrem alltäglichen Leben massiv eingeschränkt wird. Und ich war gespannt, wie sich das Russen gefallen lassen würden.

Genauso wie beim letzten Mal meldete ich meine bevorstehende Reise auf Seiten russischer Behörden an und bekam daraufhin ein digitales Dokument mit einem QR-Code. Anders als früher – wurde der QR-Code auch ohne einen 3G-Nachweis generiert und ich wurde aufgefordert, diesen über einen nachfolgenden Link hochzuladen. Was ich aber nicht tat, weil man dazu noch eine spezielle Nummer benötigt – eine Art digitale ID – die ich nicht besitze. Bereits beim Check-In am BER-Flughafen ist mir aufgefallen, dass alles viel entspannter abläuft als bei meinen letzten Reisen. Weder musste ich einen Negativ-Test zeigen, noch meine Einreise-Anmeldung.

Genauso entspannt war es bei meiner Landung in Sotschi. Niemanden hat mein Corona-Status interessiert, es gab keine spezielle Kontrolle, Passagiere waren alle entspannt und die Mehrheit zog unmittelbar nach dem Ausstieg aus dem Flugzeug ihre Masken ab.

PürnerNach ein paar Stunden in Sotschi kam ich mir wie aufgewacht vor: volle Straßen, volle Geschäfte, fröhliche entspannte Menschen, spielende Kinder, Straßenmusiker, Neujahrsschmuck auf den Palmen. Zwar gilt die offizielle QR-Code-Regelung in Sotschi und in vielen anderen Regionen Russlands für Gastronomie, sämtliche Geschäfte und Einkaufszentren und einige weitere Bereiche des öffentlichen Lebens, gelebt wird sie offenbar nur halbherzig. In ein Restaurant an der Promenade konnten wir einfach so wie in 2019 hereinspazieren. Weder wurden wir aufgefordert, eine Maske zu tragen noch einen QR-Code zu zeigen. Genauso wie andere Gäste auch. Ich hegte große Hoffnung, mit meinem Einreise-QR durchzukommen, aber der interessierte hier scheinbar niemanden.

Nach dem Abendessen gingen wir in ein paar kleine Geschäfte und ein großes Einkaufszentrum. In kleinen Geschäften fragte niemand nach unserem Status und auch hier war keiner außer den Verkäufern in Masken zu sehen. Im großen Einkaufszentrum sah die Situation mit der QR-Code-Regelung etwas anders aus. Tatsächlich fand dort am Eingang eine QR-Kontrolle statt.

Aus Deutschland kenne ich, wie streng und wie unangenehm diese Kontrolle sein kann. Selbst in für mich noch wenigen zugänglichen 3G-Bereichen wie die Deutsche Bahn kommt man sich wie ein für einen Tagesurlaub entlassener Häftling vor.

Mit dem ähnlichen Gefühl stand ich auch am Eingang eines Einkaufszentrums in Sotschi und schaute zu, wie zwei Security-Männer mit ihren Lesegeräten die QR-Codes der Besucher scannten. Als ich an der Reihe war, zeigte ich meine Einreise-Anmeldung mit dem QR-Code drauf an und war gespannt, was dann passieren wird. Eine Maske trug ich nicht.

Ein Security hielt schon sein Lesegerät bereit. Als er aber mich und mein Dokument sah, lächelte er mich nur freundlich an und nickte. Ich durfte herein. Und hier drin – viele Menschen, nur wenige tragen eine Maske, die meisten davon nur unter der Nase oder am Kinn, keiner hält Abstand ein und alle sind freundlich und entspannt. An der Kasse eines Supermarktes bat die Kassiererin einen Mann vor mir bei der Bezahlung freundlich, eine Maske anzuziehen. Er hatte aber keine dabei. Ein Freund, der auf ihn wartete, gab ihm seine Maske. Die Kassiererin machte Witze: „Sind Sie beide aus einem Dorf, was?“ Der Mann erwiderte: „Ja, wir alle tragen dort diese Maske seit zwei Jahren und keiner hatte bis jetzt Corona“. Ich lachte mit und zog eine Maske über mein Kinn. Die Kassiererin lächelte mich an und sagte: „Und Sie kommen bestimmt aus einem anderen Dorf, oder?“

Ein Wahnsinn, dachte ich. Was für eine Freude und wie gut es tut, wieder freundlich und respektvoll behandelt zu werden, wieder auf ein Lächeln, das ehrlich und zu sehen war, mit meinem zu entgegnen, wieder mit fremden Menschen Witze zu machen und entspannt zu plaudern.

So sehr ich mich darüber freute, so sehr ärgerte ich mich, wieso ich eigentlich seit fast zwei Jahren erlaube, mit mir wie einem inhaftierten Verbrecher umzugehen. Seit meiner letzten Reise nach Russland vergingen mehrere Wochen des Lebens in Berlin. Ich ertappte mich dabei, dass ich in dieser Zeit anfing, die Realität dort als gegeben hinzunehmen, mich dieser etwas anzupassen, um wenigstens das Wenige zu tun, was ich mit meinem Status nur dürfte.

Zusammen mit meiner Familie und Freunden habe ich mich immer mehr eingeschränkt. Wir alle führen nicht mehr das Leben wie vor 2019. Aber in den letzten Wochen bekam ich es immer mehr zu spüren. Mein Handlungskreis wurde auf ein Minimum eingeschränkt. Und erst nach dem Entfliehen nach Russland, wo selbst mit einer QR-Code-Regelung ein fast normales Leben möglich ist, fiel mir auf, was für eine Wirkung diese neue Realität Deutschlands auf mich hatte: Zwar hinterfrage ich die massiven Einschränkungen stets und habe nie aufgehört, darüber zu schreiben, aber ich fing an, mich diesen unbemerkt anzupassen.

Nachdem ich nun wieder frei atmen und freundliche und entspannte Gesichter um mich herum sehen kann, frage ich mich: Was für Mechanismen sind es, die selbst auf Menschen mit einer Diktatur-Erfahrung und einem ausgeprägten Sinn für Freiheit so wirken, dass man die Wegnahme von Grundrechten beginnt zu akzeptieren und sich dem eingeschränkten Leben anzupassen. Als gebe es keine Alternative mehr. Als ob das heutige Deutschland eine Sekte wäre, in der die Anführer predigen, das Leben dort ist so wie es sein muss.

Nicht umsonst wurden bestimmte Freiheiten im Grundgesetz als unantastbar verankert. Werden diese weggenommen, greift es in die Natur des Menschen ein. Möglicherweise schalten irgendwelche Abwehrmechanismen und viele merken nicht mal, dass sie sich verändern und sich an das Leben ohne diese Freiheiten anpassen. Aber warum müssen sie das eigentlich tun? Ich habe niemandem eine Erlaubnis gegeben, mich in einfachsten Handlungen und Bereichen meines Lebens einzuschränken. Und warum soll ich als Verbrecher behandelt werden, wenn ich diese weiter leben möchte?

Nach mehreren Monaten des Lebens mit Einschränkungen war ich stolz auf mich, dass ich immer noch in der Lage war, das Absurdum als solches zu erkennen und gesunden und kritischen Blick auf die neue Realität zu behalten. Ich dachte: ‚Ihr habt mir vieles weggenommen, aber meine Einstellung und mein Wertesystem nicht.‘ Dabei merkte ich nicht mal, dass der Zeitpunkt, an dem ich anfing, diese neue Realität zu akzeptieren, damit ich und meinen Lieben wenigstens die uns gebliebenen Freiheiten weiterleben konnten, schon längst verpasst ist.

HahneSolange man keine Möglichkeit hat, dem eingeschränkten Leben zu entkommen, passt man sich diesem auf die eine oder andere Art unweigerlich an. Selbst wenn man es stets hinterfragt und kritisiert, selbst wenn man das innere Wertesystem behält, verändert man sich.

Einige schreiben darüber oder gehen auf die Straßen, andere erklären die Einschränkung für sich mit einer Notwendigkeit und begrüßen diese sogar. Aber alle passen ihr Leben an, weil es keine andere Wahl gibt, solange sie kein Entkommen haben.

Und das ist der Moment, an dem ich mich fragen muss: Warum mache ich das mit?

Warum müssen ich und meine Lieben auf das Wichtigste in unserem Leben verzichten? Warum müssen wir zusehen, wie Polizisten alte und hilflose Menschen zu Boden werfen und sie schlagen? Warum müssen wir zusehen, wie Kinder unter unmöglichen Bedingungen groß werden und sich sogar eine Corona-Erkrankung wünschen, damit sie wieder Kindersachen machen dürfen? Und warum werden Menschen, die solche Warum-Fragen stellen, und mit Antworten nicht zufrieden sind, als Rechtsradikale oder Verschwörungstheoretiker diffamiert?

Deutschland kommt mir zunehmend wie eine geschlossene Sondergemeinschaft mit einem festen Glaubensbekenntnis vor, in der Handlungen der Entscheidungsträger nicht hinterfragt werden dürfen und jedes Gemeinschaftsmitglied in seinem Verhalten überwacht wird. Und leider habe ich nicht mehr den Optimismus, dass diese Sondergemeinschaft sich in der absehbaren Zeit als solche erkennt. Denn nur dann kann sie sich ändern.

Namentlich gekennzeichnete Beiträge von anderen Autoren geben immer deren Meinung wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin, und lebt seit über 16 Jahren in Berlin. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Mit 27 kam sie nach einem abgeschlossenen Informatik-Studium aus privaten Gründen nach Berlin und arbeitete nach ihrem zweiten Studienabschluss viele Jahre als Übersetzerin, aber auch als Grafik-Designerin. Mittlerweile arbeitet sie für reitschuster.de.

Bild: Shutterstock
Text: eq

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