Ein Gastbeitrag von Vera Lengsfeld
Hungerkatastrophen hat es in der Geschichte der Menschheit immer wieder gegeben. In Deutschland sind die verheerenden Hungersnöte während des Dreißigjährigen Krieges tief in der Volksseele verankert. Was Andreas Gryphius in seinen Gedichten und Epigrammen über das Leiden und die Zerbrechlichkeit der Welt schreibt, fand Eingang in die Märchen, die den Kannibalismus widerspiegeln, der im Großen Krieg herrschte, der prozentual mehr zivile Opfer gekostet hat als Erster und Zweiter Weltkrieg zusammengenommen.
Eine Erfindung des letzten Jahrhunderts waren die politischen Hungersnöte in Friedenszeiten. Die gab es in der Sowjetunion unter Lenin und verstärkt unter Stalin. Was die Ukraine Anfang der Dreißiger Jahre erleben musste, wird heute als Holodomor bezeichnet und ist immer noch weitgehend unbekannt. Als Stalin die ukrainischen Dörfer abriegeln und aushungern ließ, schaute die westliche Linke lieber weg. Legendär ist der Ausspruch George Bernard Shaws, er hätte in der Sowjetunion „volle Restaurants und großzügige Menüs“ erlebt. Der angebliche Hunger wäre eine Propagandalüge der Rechten. Der Pulitzer-Preisträger Walter Duranty leugnete die Hungerkatastrophe im März 1933 in der New York Times. Leider sehr erfolgreich. Die Linke hat ihr damaliges Versagen bis heute nicht aufgearbeitet, sondern lieber einen Mantel des Schweigens darübergebreitet.
Mit dem Ukrainekrieg rückt auch der Holodomor wieder ins Blickfeld, leider nicht in das der Politiker.
Unser Vizekanzler Robert Habeck hat am vergangenen Montag auf dem jüngsten Weltwirtschaftsforum in Davos in einem Interview Sätze geäußert, die einem das Blut gefrieren lassen.
Im Zusammenhang mit den Wirtschaftssanktionen gegen Russland und deren erwartbaren Folgen für die Ernährungssituation in den ärmeren Ländern sagte er in politikertypisch verschlungenen Sätzen, übersetzt aus dem Englischen:
„Wenn Sie sich vorstellen, dass ein Teil der Menschheit Hunger erleiden wird im Laufe des Jahres oder des nächsten Jahres, dann ist das natürlich auch eine Frage, wenn wirklich ein Teil der Bevölkerung wirklich den Hungertod stirbt, (…) und deswegen ist es wirklich auch undenkbar, dass wir sagen, okay, 100.000 Menschenleben sind vielleicht verloren, aber wir gehen jetzt auf Russland einfach zu und heben die Sanktionen auf, so wie die das auch verlangen, damit die Exporte an Weizen dann wieder beginnen können.“
Hat der deutsche Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Robert Habeck, damit erklärt, dass eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland ausgeschlossen sei, selbst wenn dies den Verlust von 100.000 Menschenleben bedeutete? Das bedarf einer dringenden Klarstellung.
Denn das wäre angesichts der sich verschärfenden Hungerkrise, die durch die Blockade des Schwarzmeer-Handels weiter verstärkt wird, und der Warnungen des UN-Welternährungsprogramms, dass die Gefahr einer großen Hungersnot bei steigenden Lebensmittelpreisen weltweit besteht, an Zynismus kaum zu überbieten.
Die größte Oppositionspartei im Bundestag stellt dazu keine Fragen.
Im Gegenteil. Auf die Gefahren der Sanktionspolitik der Regierung angesprochen, antwortet ihr Entwicklungsexperte Volkmar Klein (CDU) „Der Ampel kann und will ich in diesem Fall keinen Vorwurf machen“.
Tatsache ist, dass die russische Propaganda Habecks Äußerungen benutzt, um Stimmung gegen die Unterstützer der Ukraine zu machen. Das ist der größte Schaden dieser Politiker-Schwurbelei.
Vera Lengsfeld, geboren 1952 in Thüringen, ist eine Politikerin und Publizistin. Sie war Bürgerrechtlerin und Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR. Von 1990 bis 2005 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages, zunächst bis 1996 für Bündnis 90/Die Grünen, ab 1996 für die CDU. Seitdem betätigt sie sich als freischaffende Autorin. 2008 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. Sie betreibt einen Blog, den ich sehr empfehle. Der Beitrag erschien zuerst auf Vera Lengsfelds Blog.
Text: Gast