Normalerweise sollte ein Journalist als Person immer im Hintergrund stehen. Umso erstaunlicher, dass nun mein heutiges Wortgeplänkel mit der Bundeskanzlerin auf der Bundespressekonferenz für Schlagzeilen sorgt. Etwa auf Focus Online: „Merkel kontert Reporter-Frage: ‚Gibt es bei Ihnen außer Rissen noch was Zusammenhängendes?'“ – so lautet da die Überschrift eines Artikels über die Veranstaltung heute. Weiter heißt es da: „Bei ihrer letzten Sommerpressekonferenz als Bundeskanzlerin stellte sich Angela Merkel am Donnerstag den Fragen von Journalisten. Dabei ging es auch um das Thema Corona. Angela Merkel verpasste angesichts der steigenden Infektionszahlen den Hoffnungen auf das Ende der Maßnahmen einen Dämpfer. Der Journalist Boris Reitschuster zitierte daraufhin SPD-Außenminister Heiko Maas, dass es politisch und rechtlich keine Rechtfertigung für die Corona-Maßnahmen mehr gebe, sobald jeder in Deutschland ein Impfangebot bekommen habe. Dies sei Ende Juli bzw. Anfang August der Fall. ‚Was sehen Sie konkret anders als Herr Maas, woher kommt dieser Riss innerhalb der Bundesregierung?‘, wollte Reitschuster wissen (…).“
Wie der Wortwechsel weiter verlief, lesen Sie hier im Wortprotokoll:
Merkel: „Also, wir werden Ende Juli, Anfang August nicht für jeden Menschen ein Impfangebot haben. Weder für die Kinder von null bis elf, noch eine Empfehlung der Stiko für die Kinder von 12 bis 15, und es wird immer in unserer Gesellschaft Menschen geben, die per se nicht sich impfen lassen können oder auch keine Immunantwort entwickeln. Auch diese Gruppe dürfen wir nicht außer Betracht lassen. Und deshalb ist dann auch immer noch Rücksicht zu nehmen auf diese Gruppen in unserem Verhalten. Insofern sehe ich das schon etwas differenzierter. Aber ich glaube, dass die Bundesregierung sich schon immer auf vernünftige Maßnahmen geeinigt hat und das werden wir auch weiterhin tun.“
Ich hakte nach: „Jetzt haben Sie noch einen neuen Riss aufgemacht, weil Ihr eigener Gesundheitsminister sagt, dass es Ende Juli schon erreicht sein soll, dass alle geimpft sein sollen. Das ist nicht so. Aber die eigentliche Nachfrage: Herr Laschet hat eine viel weniger strenge Haltung in Sachen Corona als Sie. Gibt es da auch einen Riss? Wie sehen Sie das?“
Merkel: „Gibt es außer Rissen bei Ihnen überhaupt noch etwas Zusammenhängendes?“ (lacht)
Mein Einwurf: „Das sind meine Beobachtungen!“
Merkel: „Ja, ja, ja. Also ich, meine Beobachtungen sind etwas anderer Natur. Wir haben natürlich immer wieder verschiedene Schwerpunkte auch, und Schlussfolgerungen, was muss jetzt zu welchem Zeitpunkt passieren. Also nochmal: Der Bundesgesundheitsminister hat gesagt, dass wir jedem, der sich impfen lassen kann, und für den ein Impfstoff zugelassen ist, dass für diejenigen auch ein Impfangebot besteht. Und das ist mit Ende Juli der Fall. Im Augenblick haben wir ja – deshalb habe ich meine Eingangsworte so gewählt, wie ich sie gewählt habe – im Augenblick haben wir ja ganz klar eher die Aufgabe, fürs Impfen zu werben, die Impfbereitschaft abzurufen, indem wir zu den Menschen gehen und nicht die Impfangebote so fern von den Menschen machen, dass sie davon keinen Gebrauch machen. Deshalb die vielen mobilen Impfteams und so weiter. Ansonsten, was die augenblicklichen Corona-Maßnahmen anbelangt, sehe ich keine Unterschiede zwischen Armin Laschet und mir. Und wenn die Inzidenzen steigen, werden wir auch alles daran setzen, gemeinsame Lösungen zu finden.“
Meine Fragen sind damit in meinen Augen nicht beantwortet, Merkel konnte den Widerspruch, in den sie sich bzw. die Bundesregierung verwickelte, nicht aufklären. Deshalb stürzte sie sich zur Rettung in einen flapsigen Verbal-Angriff (der eine Mitarbeiterin von mir zu der Schlussfolgerung brachte, die Kanzlerin kenne und lese offenbar meine Seite – was mich zwar amüsierte, was ich aber für nicht bewiesen halte durch ihre Aussage).
Ich nehme den Verbal-Angriff der Kanzlerin als Kompliment: Wer zu einer solchen Attacke greift in der Beantwortung einer Frage, zeigt damit, dass er an einem Nerv getroffen wurde, und der sachlichen Auseinandersetzung ausweichen will.
Witzig finde ich, wie die linke Blase auf Twitter und in manchen Medien reagiert und gar nicht merkt, wie sie sich mit ihren fehlgeleiteten Schenkelklopfern und ihrem Applaus für Merkels Ausflüchte wieder einmal selbst entlarvt – insbesondere ihre unjournalistischen Nähe zur Regierung, vor allem deren Chefin, und eine beinahe schon obsessive Fixierung auf Kritiker dieser Regierung.
"Gibt es außer Rissen bei Ihnen noch irgendwas Zusammenhängendes?", fragt Kanzlerin Merkel Schwurbelkönig Boris Reitschuster #BPK
Schachmatt.
— Tilo Jung (@TiloJung) July 22, 2021
Bemerkenswert finde ich auch die Frage des Kollegen, der unmittelbar nach mir dran war:
Steinkohl: „Frau Bundeskanzlerin, das ist hier heute vermutlich Ihre letzte Sommer-Bundespressekonferenz. Es sei denn, Sie entscheiden sich, nach der Sommerpause nochmal zu kommen …“
Merkel: „Na, dann ist aber keine Sommer-Pressekonferenz mehr.“ (Gelächter)
Frage Herr Steinkohl: „… ich wüsste gerne: War das hier eigentlich eine reine Pflichterfüllung für Sie oder haben Sie sich auch auf uns Journalisten gefreut? Haben Sie vielleicht einen Gewinn oder Lustgewinn daraus gezogen? Und ergänzend: Was war eigentlich die größere Herausforderung, die Befragung durch uns Journalisten in der Bundespressekonferenz oder die Befragung durch die Abgeordneten in der Regierungsbefragung?“
Merkel: „Jede Art von Befragung oder jede Art von Auftritt für eine Bundeskanzlerin erfordert immer sorgfältige Vorbereitung. Und ich hab mich und mein Amt immer so verstanden – und werde das auch bis zum Ende so tun –, dass ich die Termine mit Freude oder zumindest mit einer positiven Erwartung und einer positiven Grundstimmung wahrnehme, und dazu gehört auch die Sommer-Pressekonferenz. Und es ist ja auch spannend, weil Sie, ich weiß ja nie, was Sie fragen, und insofern ist es ja auch eine Überraschung immer wieder, und das macht auch Freude.“
Auf diese Idee muss man erst mal kommen – die Regierungschefin zu fragen, ob sie sich auf die Journalisten gefreut und „Gewinn oder Lustgewinn“ daraus gezogen habe.
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Bild: Boris Reitschuster
Text: br