Von Dana Samson
Können Sie sich vorstellen, wie es Studierenden seit Monaten geht? Ich möchte Ihnen ein paar Zeilen aus E.T.A Hoffmanns „Der goldene Topf“ nahelegen:
„Wohl darf ich geradezu dich selbst, günstiger Leser! fragen, ob du in deinem Leben nicht Stunden, ja Tage und Wochen hattest, in denen dir all dein gewöhnliches Tun und Treiben ein recht quälendes Missbehagen erregte, und in denen dir alles, was dir sonst recht wichtig und wert in Sinn und Gedanken zu tragen vorkam, nun läppisch und nichtswürdig erschien? Du wusstest dann selbst nicht, was du tun und wohin du dich wenden solltest; […] Du schlichst mit trübem Blick umher wie ein hoffnungslos Liebender, und alles, was du die Menschen auf allerlei Weise im bunten Gewühl durcheinander treiben sahst, erregte dir keinen Schmerz und keine Freude, als gehörtest du nicht mehr dieser Welt an.“
Einige Studenten werden sich bei diesen Worten aus der Seele gesprochen fühlen. Und ich frage mich, wie kann es sein, dass wir seit nunmehr 1 ½ Jahren vergessen und im Stich gelassen werden?
Mir fällt keine andere Berufsgruppe ein, die nicht wenigstens zeitweise ins Büro, in die Schule oder Berufsschule fahren durfte. Theater und Restaurants haben nach einer viel zu langen Pause doch endlich wieder öffnen dürfen, Bibliotheken und Musikgeschäfte sind wieder zugänglich. Lediglich Studenten sind die ganze Zeit zu Hause geblieben.
Normalerweise bewirbt man sich an einer Universität oder Fachhochschule, um an dem Ort zu studieren und kein Fernstudium auszuüben. Mittlerweile ist es egal, in welcher Stadt man lebt und wo die Universität oder Fachhochschule ist. Dabei zieht man doch in die Stadt, weil man sich gerade den Austausch zwischen den Studenten und Dozenten wünscht. Wir wollen Kontakte knüpfen und über Gott und die Welt diskutieren, über die Bahn fluchen und zu spät zur Vorlesung kommen, einfach in der Uni sein. Es gibt einige Menschen, die können gut von zu Hause arbeiten und vermissen das Arbeiten in der Bibliothek nicht. Der Großteil jedoch arbeitet gerne seine Thesen in der Bibliothek aus, geht in der Pause günstig in der Mensa essen und fragt Menschen direkt, wenn er Hilfe braucht. Wen soll man allerdings fragen, wenn man zu Hause in seinem kleinen Zimmer sitzt?
Die wenigsten Studenten genießen das Privileg einer eigenen Wohnung mit Balkon auf der Südseite, wobei auch für sie das Alleinsein auf Dauer zur Qual wird. Ein Großteil der Studenten sitzt in dem 11qm-Zimmer und hofft genauso, dass ihm die Decke nicht auf den Kopf fällt. Im besten Fall haben sie sich nicht mit ihren WG-Mitgliedern bekriegt, weil sie eine andere Meinung über die Corona-Politik haben oder einfach zu viel aufeinanderhockten. Stellen Sie sich vor, Sie leben zu Hause im ständigen Streit und arbeiten auch noch von zu Hause, Sie sehen keinen Menschen mehr abseits ihres Rechners oder nur noch Ihre Mitbewohner. Sie werden sich genauso fühlen, wie der Student Anselmus in „Der goldene Topf“.
Ähnlich sieht es mit dem Sportangebot der Hochschulen aus. Viele Studenten nutzen den Hochschulsport, um sich günstig in Sportkurse einzuschreiben. Selbst in den Jahren vor Corona übten weniger als 50 %, in Berlin ca. 30 % der Studierenden regelmäßig Sport aus. Ich möchte mir kaum vorstellen, wie die Zahlen sanken, sobald die Sportangebote der Hochschule nicht mehr zur Verfügung standen. Es kann sich aber nur um Mutmaßungen handeln, schließlich gibt es keine aktuellen Umfragen.
Manche Universitäten und Hochschulen haben die Studenten im letzten Wintersemester befragt, ob sie unter Einsamkeit leiden, wie sie mit der Online-Lehre klarkommen etc. Es ist schön, dass wenigstens an manchen Universitäten und Hochschulen dieses Engagement erbracht wird. Jedoch haben diese anonymen Befragungen keine Konsequenzen. Weder ändern die Leitungen etwas an der Situation, noch die Politik, zumal die Umfragen intern sind und nicht an die Öffentlichkeit weitergegeben werden.
Übungen in technischen Studiengängen wurden ausgesetzt und Studenten gezwungen, länger zu studieren. Dass es allerdings einige gibt, die auf einen schnellen Abschluss angewiesen sind, wird komplett vergessen. Studiengänge, die auf Diskussionen zwischen den Studenten und Dozenten beruhen, haben massiv unter Qualitätsverlust gelitten, seit diese Gespräche nur noch online mit schwarzen Kacheln geführt werden.
Wobei, es könnte ja jeder die Kamera einschalten, oder nicht? Nun, gehen Sie davon aus, dass etwa die Hälfte der Teilnehmenden die Zoom-Veranstaltung einschaltet, am Rechner den Ton ausschaltet und nebenbei etwas komplett anderes macht. Von der verbleibenden Hälfte erscheinen wiederum ein Drittel nicht. Das zweite Drittel der Teilnehmenden ist zu schüchtern, um an der Diskussion teilzunehmen; sie haben die Schwierigkeiten schon in Präsenz, online treten die besonders zu Tage. Schließlich bleibt ein Drittel von Studenten, die aktiv teilnehmen. Jedoch leidet auch bei ihnen die Qualität der Diskussion, wenn so viele andere vorher auf der Strecke geblieben sind. Außerdem ist im Laufe des Semesters die Tendenz der aktiv Teilnehmenden stark sinkend.
Im folgenden Semester sollen manche Veranstaltungen wieder in Präsenz stattfinden. Dabei möchten sich die Universitäten an die 3G-Regeln halten. Und hier beginnt es schon schwierig zu werden: Was ist mit den Studenten, die bisher nicht geimpft sind? Sie werden automatisch ausgeschlossen, weil sie sich die ab Oktober kostenpflichtigen Tests nicht leisten können. Und: Sie sollen sich impfen lassen.
In der Ankündigung einer Universität zum neuen Wintersemester 2021/22 heißt es: „Die Wiederaufnahme der Präsenzlehre erfolgt auf der Grundlage der gesetzlich vorgeschriebenen 3G-Regel. […] Wir möchten daher die Gelegenheit nutzen und noch einmal nachdrücklich an Ihre Bereitschaft zur Annahme des bestehenden Impfangebotes – sofern das noch nicht geschehen ist – appellieren, zumal das kostenlose Testangebot ab Mitte Oktober eingestellt wird. Ein möglichst umfassender Impfschutz der Beschäftigten und Studierenden bietet die beste Gewähr für ein sicheres Miteinander an unserer Universität – bitte tragen auch Sie dazu bei!“
Die Humboldt-Universität zu Berlin schreibt in einer E-Mail: „[…] Das heißt, dass es im Wintersemester sowohl Präsenzveranstaltungen als auch digitale Angebote geben wird, wobei der Fokus auf einer deutlichen Stärkung der Präsenzlehre liegt.“ Die Präsenzlehre soll bevorzugt werden. Das hört sich fürs Erste nach einer guten Nachricht an, die einige Studenten erleichtert aufatmen lassen wird. Doch es stellt sich mir die Frage, wer wie und wonach entscheidet, welche Studenten auch wirklich die Präsenzveranstaltungen besuchen dürfen? Eine Ungleichbehandlung kann meiner Meinung nach fast nicht ausgeschlossen werden.
Es folgt auch ein anderes logistisches Problem: Wie sollen Studenten es schaffen, von zu Hause in die Universität oder Hochschule und wieder zurückzufahren, wenn die Seminare abwechselnd Online und in Präsenz sind? Müssen Studierende dann wieder auf Veranstaltungen verzichten und ihr Studium gezwungenermaßen in die Länge ziehen?
Das Schlimmste an der Situation ist meiner Meinung nach, dass die Politik die Studenten vollkommen vergisst. Auch in den Medien wird nur selten über die Lage von Studenten berichtet und diskutiert. „Zeit Campus“ berichtete im August vom „dumm-und-dümmer-Effekt“ und erklärte, dass einige Studenten massiv unter dem dauerhaften Lernen von zu Hause leiden und ihre eigenen Leistungen über- oder unterschätzen würden, es dadurch zu einer Über- oder Unterforderung komme und die Studenten am Ende so oder so ihren Wissensstand nicht erweitern, wie es sich für ein Studium gehören würde. Ein Großteil der Studenten kann den Verlust an Qualität der Lehre bestätigen. Solche Nachrichten sind schrecklich und müssten viel genauer untersucht und diskutiert werden und vor allem Folgen nach sich ziehen.
Wenn Studenten in der Universität oder Hochschule sind, erhalten sie die meisten Informationen vor Ort. Wo leihe ich Bücher aus, wie richte ich mir die VPN ein, um auch von unterwegs Online-Literatur lesen zu können, zu welchen Zeiten hat die Mensa auf und wo finde ich die Fachschaft meiner Fakultät? Studenten, die jetzt in das vierte Semester kommen, haben noch nie den Campus voller Leben betreten. Sie hatten nicht die Gelegenheit, bei den Einführungsveranstaltungen Freundschaften für das Studium und darüber hinaus zu finden. Ebenso wenig die neuen Studienanfänger, bei denen die Einführungswochen wieder „überwiegend digital angeboten [werden], da im vergangenen Jahr sehr positive Erfahrungen mit den Formaten gemacht wurden.“ Alle Studenten, die ausschließlich online studierten, haben noch nicht erlebt, wie interessant Vorlesungen aus einem anderen Studiengang sein können, in die man sich einfach aus Lust dazugesellt hat. Es gibt so vieles zu entdecken, was online untergeht. Wie sollen Studenten auch von dem Angebot wissen, wenn sie nicht in der Uni sind?
Die Studentin Anna berichtete im April bei reitschuster.de von ihren Erfahrungen und dem Frust durch das Online-Studium. Es galt nicht nur, dass viele jeglichen Kontakt zur Außenwelt verloren haben und es für manche schon Luxus war, Zoom-Veranstaltungen zu haben und nicht ausschließlich asynchron zu studieren, sondern auch, dass das kritische Hinterfragen, wieder fragen und nochmals fragen, nicht mehr erwünscht ist. Kritischer Diskurs? Nein, den gibt es nicht mehr an der Universität und Hochschule.
Die Institutionen des selbstständigen Denkens sind viel mehr in den Modus der allgemeinen Angst verfallen, Tastaturen wurden mit Folie beklebt und sollten nach der Recherche desinfiziert werden, Anna berichtete sogar davon, dass Bücher in Quarantäne mussten.
Abgesehen von den psychischen Schäden, die die Isolation mit sich gezogen hat. Es ist absolut richtig, dass mittlerweile erkannt wurde, dass Kinder unter dem Home-Schooling leiden. Es muss jedoch erkannt werden, dass auch Studenten wieder ins Leben gehören! Studenten werden alleine gelassen und das schon viel zu lange. Es ist längst an der Zeit, dass sich für sie etwas ändert. Man kann nur hoffen, dass das „Übergangssemester zu einem Präsenzsemester“ die Studenten wieder ins Boot holt.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Dana Samson studiert an einer deutschen Universität und schreibt hier unter Pseudonym.
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Text: Gast