Gastbeitrag von Jerzy Maćków, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Regensburg
Ja, die Ukraine sollte den Europäern schlaflose Nächte bereiten, und zwar wegen der Ukrainer, denen der Verlust der Unabhängigkeit und das damit verbundene Schicksal der Flüchtlinge, Emigranten sowie – und das wäre wahrlich am schlimmsten! – eines von Russland auf Dauer beherrschten und unterdrückten Volkes droht.
Wem wiederum das Schicksal der Ukrainer gleichgültig ist, der soll darüber nachdenken, dass er im gegenwärtigen Krieg zu dem sich anbahnenden Versagen der Europäer beiträgt, das auf uns alle zurückfallen wird. Diese simple Erkenntnis hat sich leider in Deutschland, das seit Gerhard Schröder immer entschiedener auf dem Sonderweg zwischen der russischen Welt und dem Westen taumelt, noch nicht durchgesetzt. Diese Trägheit ist vielleicht dem Umstand geschuldet, dass die meisten Deutschen durchaus imstande sind, (noch) höhere Strompreise zu zahlen.
Sowohl die Tatsache, dass die Empathie gegenüber dem in seiner Existenz bedrohten ukrainischen Volk nur schwach ausgeprägt ist, als auch die Tatsache, dass man hierzulande die negativen Folgen des russischen Überfalls auf die hohen Energiepreise zu reduzieren geneigt ist, entspringen der Ignoranz. Am haarsträubenden Unwissen über den Osten Europas hat sich seit Bismarck nichts verändert. Die Ignoranz äußert sich etwa in der weit verbreiteten ewigen Vorstellung vom „Russen, der viel erleiden kann“ oder von der „polnischen Wirtschaft“. Wo eben Wissen fehlt, dort toben Vorurteile. Die Umfragen belegen, dass die meisten Deutschen von ihren Reisen nach Polen kein neues Wissen mitnehmen, sondern dort ihre Stereotype bestätigt finden. In die Ukraine reisen sie sehr, sehr selten…
Da ich seit Jahrzehnten beruflich mit den Ergebnissen der Schulbildung konfrontiert bin, weiß ich, dass nach wie vor die Vorurteile das Wissen ersetzen. Wegen ihrer immensen Bedeutung für Europa stellt das zweitgrößte Land Europas in diesem Zusammenhang das vielleicht krasseste Beispiel dar. Ich muss bekennen, niemals einen frischen Abiturienten getroffen zu haben, der über rudimentäre Kenntnisse über die Ukraine verfügte, d.h zumindest ein bisschen über ihre Geographie (Wo verläuft Dnepr? Welche große Stadt liegt an diesem Fluss?), ihre Geschichte (Was war die Kiewer Rus‘? Wer war Stepan Bandera?) und ihre Kultur (Wer war Taras Schewtschenko?) gewusst hätte. Ohne die Brüder Klitschko wäre die Ukraine in Deutschland ein regelrecht unbekanntes Land. So arbeitet die Schule des Volkes, das häufig sich selbst mit „Europa“ verwechselt…
Es ist unter diesen Umständen nicht zu erwarten, dass in den deutschen Medien aktuelle Diskussionen und Berichterstattung über den Krieg das Verständnis für die komplexe ethnische, politische, geopolitische und sonstige Gemengelage der Ukraine zu vermitteln vermögen. Denn auch Journalisten stellen Produkte der besagten Schule und der Vorurteile dar. Entsprechend können sie ihre Messages an die ähnlich wie sie gestrickten Empfänger fröhlich senden.
Deshalb kann die Tatsache nicht verwundern, dass außer in den letzten Wochen, da der Ukraine-Botschafter in Berlin, Andrij Melnik, in den politischen Talkshows einige Male auftreten durfte, während der vergangenen Jahrzehnte so gut wie keine Ukrainer in den deutschen politischen Medien zu sehen waren. Offenbar braucht man zumindest eine glaubwürdige Kriegsdrohung seitens Russlands, um in den Öffentlich-Rechtlichen (von privaten Medien ganz zu schweigen) die Ukrainer nach ihrer Meinung über die Ukraine zu fragen.
Ohne Hoffnung darauf, daran viel ändern zu können, habe ich mich dennoch dazu entschlossen, zumindest einen kleinen Teil derjenigen zu erreichen versuchen: die, die den Konflikt um die Ukraine besser begreifen wollen. Ich habe dazu vor einigen Tagen unter meinem Namen auf YouTube einen Kanal eröffnet, in dem sachlich und unaufgeregt die Situation analysiert werden sollte. Den Kanal finden Sie hier.
Sachlichkeit und Ruhe sind notwendig, weil die an Politik wirklich Interessierten kein Interesse an Präferenzen des Analytikers haben. Obwohl ich unmissverständlich auf der Seite der Ukraine stehe, muss ich nüchtern feststellen, dass die korrupten und oft kriminellen Herrscher Russlands im gefährlichen Spiel um die neue europäische Ordnung momentan die Karten verteilen und den Westen oft ausspielen.
Es geht darum, dieses durchdachte Spiel zu verstehen, mit seinen Beweg- und Hintergründen sowie Gefahren und Chancen. Wichtig ist zudem das Verständnis für die Notwendigkeit, die Russland-Politik Deutschlands zu ändern, und zwar ungeachtet der riesigen Widerstände dagegen. Schließlich soll die zentrale Bedeutung der Ukraine für die Zukunft der Europäischen Union und Russlands begriffen werden.
Werden die Russen die Ukraine zu Fall bringen? Werden die Deutschen ihre Ostpolitik revidieren? Wird die Ukraine als unabhängiger Staat überleben, um in zwei oder drei Jahrzehnten das zu werden, was ihre EU-Nachbarn im Westen geworden sind: erfolgreiche, freie Gesellschaften? Es werden noch relevante Fragen nach der westlichen und europäischen Zukunft der Ukraine hinzukommen. Denn der Krieg, auch in seiner hybriden Version, wird etwas dauern.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können
Jerzy Maćków, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Regensburg. Seinen Blog finden Sie hier. Besuchen Sie auch seine Gruppe Multiplikatoren auf Facebook!
Bild: Shutterstock
Text: Gast
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