Digitale Fata Morganas und Flirten in Zeiten der Maskenpflicht Dienstag, der 23. Februar – eine kurze Reportage aus meinem Leben

Ein Gastbeitrag von Sönke Paulsen

Hohl klingt der Frühling und die Geräusche von der Straße wirken überdeutlich. Ich höre die Unterhaltung eines Pärchens von der anderen Straßenseite. „Unwirklich“. Das Wort fehlt mir gerade, während ich den Kudamm hinauf gehe. Ein roter Ferrari fährt an mir vorbei und röhrt dabei wie ein Hirsch auf der Brunft. Ich lächele, es klingt vertraut nach Erwachen und Hoffnung auf mehr.

Es wird langsam dunkel. Der Tag mit Frühlingstemperaturen und duftender Luft geht zu Ende. Es ist der 23.Februar. Vielleicht erinnere ich mich durch diesen Text später daran.

Die meisten Restaurants sind geschlossen, die Boutiquen, Juweliere und Parfümerien ebenfalls. Ein paar Lokale bieten ihre Speisen und Getränke zum Mitnehmen an. Sie haben lange Tische in ihre Türen gestellt und dort alles aufgebaut, was sie zu bieten haben. Lange Reihen mit Weinflaschen, von weiß bis rot leuchten sie in allen Zwischentönen. Davor stehen Leute, trinken und unterhalten sich. Kleine Mahlzeiten werden herausgereicht und auf der Straße verzehrt. So bilden sich kleine Menschentrauben, die stehend, schwatzend und flirtend den Frühlingsabend im Februar genießen.

Die Masken haben sie abgelegt. Es flirtet sich besser ohne Maske.

Jedenfalls kam es mir heute schon so vor, als ich während der Mittagspause mit meiner Kollegin in der Sonne stand. Ich glaube, es war ein Flirt. Jedenfalls haben wir ganz begeistert über alles gesprochen. Mein Eindruck war, dass wir nicht auseinandergehen wollten und deshalb kein Thema ausließen. Ohne Maske an der frischen Luft schien das Leben normal und direkt begehrenswert. Wir begannen zu schwitzen, es war sehr warm und immer wenn einer das Gespräch beenden wollte, fiel dem anderen noch etwas ein. So blieben wir vielleicht eine Stunde zusammen, ehe wir unsere Masken wieder aufsetzten. Sie verschwand lächelnd hinter diesem weißen Stoff und ging in ihr Büro.

Als ich in die Dunkelheit des Gebäudes eintauchte, fühlte sich meine Stirn feucht und kühl an. Ein Gefühl, das mich an heiße Sommertage erinnerte. Die innere Kühle eines Gebäudes spüre ich zuerst im Gesicht.

Für einen Augenblick war es, als würde ich, unerwartet, mein Leben wieder spüren, als wäre alles so wie früher.

Nach der Arbeit gehe ich zur Krankengymnastik. Es fällt mir schwer, meine Büromüdigkeit abzuschütteln. Ich spüre sie meist noch deutlich, wenn ich die Treppe zur Praxis hinaufgehe. Erst wenn ich die ersten Übungen mit meiner Krankengymnastin beginne, verschwindet die Müdigkeit. Mein Körper konzentriert sich dann auf ihren, versucht ihre Bewegungen nachzuahmen. Das ist der Augenblick, in dem ich ruhig werde, ganz ohne Müdigkeit und Erschöpfung.

Dazwischen reden wir, über die Corona-Lage, aber auch über unsere Wünsche, unsere kleinen Freuden und den Frust über die lange Zeit, die wir schon darauf verzichten. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie während der Massage ihre Worte in meinen Rücken massiert und rieche den Duft ihres Öls. Auf der Flasche steht „Beruhigung“. Tatsächlich bin ich beruhigt, während sie Wort um Wort in meinen Rücken schreibt. Es gibt sie noch, die Berührung, das Gefühl von Nähe, wenigstens für Rückenkranke, wie mich.

Ich komme schon länger. Gegenseitig haben wir uns von unseren Reisen berichtet. Jetzt kommt mir das wie ein ferner Traum vor. Ich sage ihr das und sie schweigt. „Die Impfung“, sagt sie, „dann können wir wieder fliegen.“ Sie ist beunruhigt über den Impfstoff, fürchtet die Nebenwirkungen. Ich will sie trösten und berichte ihr von meinem Impftermin Ende der Woche. Sie möchte erst schauen, wie es bei mir wirkt, bevor sie sich selbst entscheidet, lacht dabei. Ich verstehe sie.

Unsere Hündin führt einen Freudentanz auf, als ich die Wohnungstür aufschließe. Immer wieder springt sie an mir hoch. Sie war nicht allein, unser Sohn kümmert sich um sie, seit er nicht mehr zur Schule geht. Er sitzt am Computer und begrüßt mich nebenbei. Im Schlafzimmer schläft seine Mutter, müde nach der Arbeit. Ich gehe in die Küche und schaue nach etwas Essbarem.

In der Nacht hatte ich geträumt, dass mein Kühlschrank voll ist. Im Traum hatte ich wohl nicht damit gerechnet und war freudig überrascht. Jetzt wühle ich mich durch aufgerissene Plastikpackungen und finde schließlich meinen Käse. Während ich die Brote schmiere, kommt mein Sohn mit dem springenden Hündchen in die Küche.

„Wie war die Schule?“, frage ich ihn. „Ganz gut“, sagt er. In diesem Augenblick wissen wir beide, dass er nicht in der Schule war. Wir reden von einer digitalen Fata Morgana, aber die Normalität ist uns wichtig. Deshalb reden wir so, als wäre er dort gewesen.

Nach kurzer Zeit verlieren wir das Interesse und er fängt an, über seinen Spaziergang mit dem Hund zu berichten. Er kennt inzwischen die meisten Hunde im Viertel und ihre Besitzer. Er erzählt, was es neues über Paul, Shila und den kleinen Benno gibt. Alles Hunde, die er auf seinem Spaziergang mit unserer Mia trifft, die inzwischen zu kleinen, interessanten Persönlichkeiten an unserem Abendbrottisch geworden sind. Wir reden oft darüber, immer noch besser, als sich über Corona und Lockdown aufzuregen.

Schließlich schweigen wir und schauen den Hund an, der mit seinen Vorderpfoten an der Tischkante klebt und unser Abendbrot fixiert. „Bald ist Frühling“, sage ich, „dann unternehmen wir wieder mehr.“ Er nickt. Er möchte einen Zeichenkurs in den Osterferien machen. Aber nur, wenn er dort hingehen kann, nicht online. „Glaubst Du, Papa, dass ich dann wieder hingehen kann?“

Ich nicke und sage laut und deutlich „Ja.“ Ich weiß nicht warum. Ebenso hätte ich „Nein“ sagen können, oder „Vielleicht“. Aber ich will „Ja“ sagen, an diesem Dienstag, der frühlingshaft war, obwohl ich es nicht weiß.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

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Sönke Paulsen ist freier Blogger und Publizist. Er schreibt auch in seiner eigenen Zeitschrift „Heralt

Bild: Sergiy Palamarchuk/Shutterstock
Text: Gast 

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