Erbarmen mit der Bundeswehr! Und mit Selbst-Verteidigungsministerin Lambrecht!

Ein Gastbeitrag von Josef Kraus

Laut Grundgesetz ist der Bundeskanzler in Kriegszeiten der Oberbefehlshaber der Bundeswehr, in Friedenszeiten ist es der Verteidigungsminister. Im erstgenannten Fall wäre das 16 Jahre lang Angela Merkel (CDU) gewesen; jetzt wäre es seit fast einem Jahr Olaf Scholtz (SPD). In Friedenszeiten war Verteidigungsministerin mehr als fünf Jahre lang eine gewisse Ursula von der Leyen (CDU); jetzt ist es seit 8. Dezember 2021 Christine Lambrecht (SPD). Aus der Sicht der Bundeswehr kann man in Anlehnung an einen bekannten Kalauer nur sagen: Erst hatte die Bundeswehr kein Glück, dann kam auch noch das Pech dazu.

So ist es! Von der hochgejubelten „Zeitenwende“-Rede des Bundeskanzlers Scholz vom 27. Februar 2022 im Bundestag blieb jedenfalls weniger als ein laues Lüftchen. Scholz kündigte drei Tage nach Putins Einfall in die Ukraine zwar an, die Bundeswehr zur „am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa“ zu machen. Alle anderen Aufgaben hätten sich der Priorität einer funktionierenden Landes- und Bündnisverteidigung unterzuordnen, erklärte Scholz (SPD) dann am 15./16. September auf einer Führungskräftetagung in Berlin: „Das ist mein Anspruch als Bundeskanzler. Daran können Sie mich messen.“ Immerhin: Mit Hilfe von CDU/CSU wurde das Grundgesetz am 3. Juni 2022 so geändert, dass ein 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr geschaffen wurde.

Messen wir Scholz an seinem eigenen Anspruch und nehmen das Ergebnis vorweg: Es geht mit der Ertüchtigung der Bundeswehr und der Umsetzung des 100-Milliarden-Programms allenfalls im Schneckentempo voran, es gibt sogar erste Streichlisten. Und die Bundeswehr steht keinen Deut besser da als vor dem 24. Februar 2022.m-vg Josef Kraus

Nun gut, Deutschland hilft der Ukraine mit Waffen. Bislang sind dafür 1,2 Milliarden Euro veranschlagt. Polen hat Lieferungen in der Größenordnung von 1,8 Milliarden, Großbritannien von 3,7 Milliarden zugesagt. Die USA wollen 27,6 Milliarden (umgerechnet in Euro) für Waffenlieferungen ausgeben (Stand: Mitte Oktober 2022). Was Deutschland betrifft: Alles recht und schön! Aber es ist keine Größenordnung, die die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr noch weiter in den Keller abstürzen lassen müsste. Tut sie aber. Folge: Die Bundeswehr ist immer schwächer aufgestellt. Aus dem 100-Milliarden-Euro-Sonderschuldentopf ist noch nichts geordert (siehe hier).

Und generell? Nix Zeitenwende! Für das laufende Jahr wird der Etat des Verteidigungsministeriums zwar von rund 45 auf 50,3 Milliarden Euro erhöht. Zum NATO-„Zwei-Prozent-Ziel“ fehlen indes immer noch gut 20 Milliarden. Und woher kommen die 20 Milliarden? Sie kommen also doch aus den 100 Milliarden. So wird es weitergehen, bis die 100 Milliarden im Jahr 2025 aufgebraucht sind. Und dann? Dann sind keine weiteren 100 Sonder-Milliarden in Sicht, und der Bundestag muss für die Bundeswehr ohne Rückgriff auf ein Sondervermögen (vulgo: Sonderschulden) die für zwei Prozent notwendigen 75 bis 80 Milliarden Jahres-Etat für die Bundeswehr schultern. Eines ist zudem jetzt schon klar: Teuerungsraten und Inflation fressen einen erheblichen Teil der 100 Milliarden auf.

Das ist oder war einmal geplant

Die folgenden Anschaffungen sollen bzw. sollten ursprünglich erfolgen. Aber es knirscht.

  • In der nächsten Woche soll der Haushaltsausschuss die Bestellung von digitalen Funkgeräten absegnen. Gesamtauftragswert: knapp 162 Millionen Euro für bis zu 13.739 Handfunkgeräte und 1488 Fahrzeugfunkgeräte.
  • Mitte Dezember macht das Parlament den Weg frei für den Kauf des US-F35-Tarnkappenbomber für 7,6 Milliarden Euro. Zum ersten Mal kauft die Bundesregierung gleich Munition mit – weit mehr als 500 Bomben. Gesamtsumme: 9,99 Milliarden Euro. Ab 2027 soll eine deutsche F-35 fliegen.
  • Mitte Dezember schicken die USA das Kaufangebot für 60 schwere Transporthubschrauber vom Typ CH-47F Chinook. Kostenpunkt: ca. 6 Mrd. Hier drohen allerdings aufgrund eines mangelhaften Auswahlverfahrens Verzögerungen um zwei Jahre und Stückzahlreduzierungen, wie die Regierung am 9. November im Verteidigungsausschuss einräumte. Die Regierung berichtete in einer Geheimsitzung zudem von Problemen mit Luftbetankung beim Chinook.
  • Für eine hinreichende Schutzausrüstung (Helme, Westen, Nachtsichtgeräte) sind 10 Milliarden zu veranschlagen. Pläne dafür liegen nicht vor.
  • 15 atomwaffenfähige Eurofighter sollen neu für ECR (Electronic Combat and Reconnaissance = Bekämpfung von Radarsystemen) angeschafft werden. Auch hier geht es vermutlich um einen 2- bis 3-Milliardenbetrag. Konkretisiert wurde bislang nichts.
  • Kostspielig ist und bleibt das deutsch-französisch-spanische Kampfjetprojekt FCAS (Future Combat Air System). Die Differenzen zwischen Frankreich und Deutschland sollen angeblich ausgeräumt sein. Ab 2040 soll der erste Jet einsatzbereit sein.
  • Noch keineswegs mitkalkuliert sind die Kosten, die für neue Kasernen (die Bundeswehr soll um 20.000 Mann wachsen) und für die Renovierung von Kasernen zu veranschlagen sind. Auch geht es wohl um zweistellige Milliardenbeträge. Ebenfalls einzukalkulieren wäre der bis 2025 geplante Aufwuchs der Bundeswehr von einer Personalstärke von 183.000 auf 203.000. Hier geht es bestimmt auch um 3 Milliarden (jährlich!).
  • Nicht eingerechnet ist die laut „Ampel“-Koalitionsvertrag geplante Anschaffung von Drohnen. Und noch gar nicht hochgerechnet sind die Kosten einer Vision von Kanzler Scholz, der Ende August in Prag die Errichtung eines „European Sky Shield“, also eines Raketen-, Drohnen- und Flugabwehrsystems ankündigte.
  • Und: Für Artillerie sind null Euro eingestellt. Der geplante Transportpanzer, ein Boxer mit dem Turm des Schützenpanzers Puma, taucht gar nicht erst auf in der Projektliste für 2023 (siehe auch hier).

Die CDU/CSU-Fraktion hat nun unter anderem in Sachen Munition nachgebohrt. Generalinspekteur Eberhard Zorn hatte errechnet, dass bis 2031 rund 20 Milliarden Euro allein für Gefechtsmunition investiert werden müssten. Tatsächlich wurden für 2023 ganze 1,25 Milliarden Euro bewilligt. Und das in einer Situation, in der die Munitionsvorräte der Bundeswehr allenfalls für zwei Tage reichen und damit weit vom Nato-Standard einer Bevorratung für 30 Tage entfernt sind.

Maulkörbe und Schweigegelübde?

Die Verteidigungsministerin will von all dem nichts wissen, sie verweigert sogar dem Parlament Auskünfte. Ihre Begründung: Eine Offenlegung der Informationen berge die Gefahr, „dass Einzelheiten über die künftige Arbeitsfähigkeit und Aufgabenerfüllung der Bundeswehr bekannt würden.“ Der verteidigungspolitische Sprecher der Union, Florian Hahn (CSU), hat dazu das Richtige gesagt: „Dass das Verteidigungsministerium dem Bundestag selbstverständliche Kontrollrechte vorenthält, ist inakzeptabel.“

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Nicht nur am Rande: Die halbjährlichen Berichte über die Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme für die Öffentlichkeit sollen künftig obendrein verwässert werden, um Mängel zu verbergen. So klare Analysen wir noch vor Jahresfrist wird man dann wohl nicht mehr bekommen. Etwa dass im „14. Rüstungsbericht zur materiellen Einsatzbereitschaft“ des Generalinspekteurs vom 13. Januar 2022 stand: „Unsere Zielgröße von 70% durchschnittlicher materieller Einsatzbereitschaft übertrafen hierbei 38 Hauptwaffensysteme, 11 lagen unter 50% (davon 6 Altsysteme). Die durchschnittliche materielle Einsatzbereitschaft von Kampffahrzeugen lag bei 71%, für Kampfeinheiten der Marine bei 72%, für die Kampf- und Transportflugzeuge bei 65%, für alle Unterstützungsfahrzeuge (Logistik, Sanität und CIR) bei 82% und bei den Hubschraubern weiterhin bei 40%.“ Noch einmal: 11 Waffensysteme lagen unter 50 Prozent Einsatzbereitschaft! Besser ist nichts geworden.

Müssen die Generale schweigen?

Mehr noch: Lambrecht verdonnert sogar die Inspekteure der Teilstreitkräfte zum Schweigen: In einer Telefonschaltung forderte Lambrecht nach WELT-Informationen Loyalität ein. Das heißt nichts anderes als: Die Drei-Sterne-Generale sollen die Klappe halten. Vermutlich hat Lambrecht dabei vor allem den Heeres-Chef Alfons Mais (60) im Blick: Dieser hatte – Respekt! – den Mumm, Klartext zu reden. Bereits am Morgen des 24. Februar 2022, als Russland den Überfall auf die Ukraine gestartet hatte, postete er auf LinkedIn: „Du wachst morgens auf und stellst fest: Es herrscht Krieg in Europa.“ Und weiter: Die Bundeswehr stehe mehr oder weniger blank da. Sie sei lediglich bedingt einsatzbereit, ihre Optionen seien extrem limitiert. In einem Interview für die „Süddeutsche“ vom 11. November 2022 sagte er: „Wir könnten keinen Kampf über mehrere Wochen führen.“ Grund: Weil Deutschland seit Beginn des Krieges die Ukraine mit vielen Waffenlieferungen unterstütze, leiden gerade die Bedürfnisse der eigenen Armee. Mais weiter: „Wir verfügen derzeit über keine komplette deutsche Brigade, die sofort und ohne längere Vorbereitungszeit in der Lage wäre, einen Kampfauftrag über mehrere Wochen durchzuführen.“ Unter anderem in der Artillerie sieht Mais einen „riesigen Aufholbedarf“. „Das Heer, so wie es heute dasteht, verfügt noch über vier Artilleriebataillone, etwa 100 Panzerhaubitzen und knapp 40 Raketenwerfer Mars. Von denen ist tagesaktuell immer nur ein Teil einsatzbereit.“ Unter dem Strich heißt das für Mais: „Momentan ist die materielle Einsatzbereitschaft des Heeres nicht größer als am 24. Februar.

Ist Lambrecht die Richtige auf diesem Posten?

Aber eine schweigt sich beharrlich aus: Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD). Wir vernehmen von ihr nahezu nichts: Keine Forderungen, keine Warnungen, keine Perspektiven.

Eine Armee, die eine Ursula von der Leyen – allerdings nicht ohne heftige Blessuren in der Einsatzfähigkeit – überstanden hat, müsste auch eine Christine Lambrecht überstehen. Oder? Allerdings fragt man sich schon, welchen Stellenwert eine Bundeswehr in Politik und Gesellschaft hat, wenn man ihr Amateure wie von der Leyen oder Lambrecht vorsetzt. Lambrecht mag ja nicht so hyperaktiv eitel sein wie ihre Vorvorgängerin. Aber sie ist in dieses Amt gekommen, weil „man“ eine Frau brauchte. Einen ausgewiesenen Fachmann hätte die SPD übrigens gehabt: den vormaligen Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels, den die SPD zugunsten von Eva Högl in die Wüste geschickt hat.

Monatelang war Christine Lambrecht ansonsten vor allem damit beschäftigt, Peinlichkeiten vergessen zu machen: die Fotos vom Mitflug ihres Sohnes in einem Bundeswehrhelikopter, ihren Auftritt im Sand von Mali in Stöckelschuhen, die Spende von 5.000 Helmen an die Ukraine…. Ob Munitionslage, Loyalitätsappell an die Inspekteure, Haushaltstricks oder Foto-Affäre: Die Opposition findet den Umgang der Ministerin mit der Wahrheit insgesamt fragwürdig. „Frau Lambrecht wird immer mehr zur Selbstverteidigungsministerin“, so CSU-Mann Hahn.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Josef Kraus (*1949), Oberstudiendirektor a.D., Dipl.-Psychologe, 1987 bis 2017 ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, 1991 bis 2013 Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung beim Bundesminister der Verteidigung; Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande (2009), Träger des Deutschen Sprachpreises 2018; Buchautor, Publizist; Buchtitel u.a. „Helikoptereltern“ (2013, auf der Spiegel-Bestsellerliste), „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“ (2017), „Sternstunden deutscher Sprache“ (2018; herausgegeben zusammen mit Walter Krämer), „50 Jahre Umerziehung – Die 68 und ihre Hinterlassenschaften“ (2018), „Nicht einmal bedingt abwehrbereit – Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine“ (2019, zusammen mit Richard Drexl)

Bild: Rustically/Shutterstock

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