Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Demo-Verbote in der Schweiz zu restriktiv Bekommt auch Deutschland die Versammlungsfreiheit zurück?

Von Daniel Weinmann

„Allgemeine Anti-Covid-Maßnahmen, die öffentliche Veranstaltungen über einen längeren Zeitraum verbieten, verstoßen gegen die Konvention“. So ist die Pressemitteilung des höchsten europäischen Gerichts für Menschenrechtsfragen überschrieben. Laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte schoss die Schweiz im Frühjahr des ersten Pandemiejahres 2020 mit ihrem Demo-Verbot über das Ziel hinaus.

In ihrem am Dienstag veröffentlichten Urteil rügen die Richter vor allem, dass die Entscheidung der Regierung in Bern nicht von Gerichten auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft worden sei. Zudem liege eine Verletzung von Artikel 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention vor.

Mit vier zu drei Stimmen fiel die Entscheidung knapp aus. Zwar räumten die Richter eine Bedrohung für die Gesellschaft und die öffentliche Gesundheit ein. Gleichwohl vertraten sie angesichts der Bedeutung der Versammlungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft, des pauschalen Charakters, der erheblichen Dauer des Demo-Verbots sowie der Schwere der möglichen Strafen die Auffassung, dass der Eingriff in die durch Artikel 11 geschützten Rechte nicht in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten Zielen stand.

Keine Einschränkungen nach Belieben der Regierung

Die Richter verwiesen zudem darauf, dass die zuständigen Gerichte keine wirksame Überprüfung der fraglichen Maßnahmen vorgenommen hatten. Der beklagte Staat habe somit den ihm im vorliegenden Fall eingeräumten Beurteilungsspielraum überschritten. Folglich sei der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft im Sinne von Artikel 11 der Konvention nicht notwendig gewesen.

Mit der Straßburger Entscheidung liegt nun erstmals ein höchstinstanzliches Urteil vor, das sich auf Corona-Demos bezieht. Der Tenor: Einschränkungen der Versammlungsfreiheit sind möglich, nicht aber nach Belieben einer Regierung.

Geklagt hatte die Communauté Genevoise d’Action Syndicale, ein in Genf ansässiger Verein, der eigenen Angaben zufolge Jahr für Jahr Dutzende von Veranstaltungen im Kanton Genf organisiert. Der Verein beschwerte sich, dass ihm das Recht, öffentliche Veranstaltungen zu organisieren und an ihnen teilzunehmen, im Zuge der vom Schweizer Bundesrat am 13. März 2020 erlassenen Corona-Maßnahmen genommen worden sei. So wurden beispielsweise öffentliche und private Veranstaltungen mit Wirkung verboten. Wer gegen diese Direktive verstieß, wurde mit Freiheits- oder Geldstrafen belegt.

Bleibt zu hoffen, dass auch hierzulande die Initiatoren von Versammlungen, die verboten wurden, vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Denn nur, wenn Klage erhoben wird von jemandem, der beschwert ist, landet ein derartiger Fall tatsächlich in Straßburg – getreu dem Prinzip: Wo kein Kläger, da kein Richter.

Deutsche Rechtsprechung auf tönernen Füßen

Es ist höchste Zeit, da die durch Art. 8 Grundgesetz garantierte Versammlungsfreiheit in Deutschland unter erheblichem Druck steht. Die Regierungen Merkel und Scholz haben durch ihre Verordnungen und Allgemeinverfügungen rechtliche Instrumente geschaffen, um Versammlungen grundsätzlich und nicht nur im Einzelfall zu verbieten – ohne verfassungsmäßige und parlamentarisch abgesicherte Rechtsgrundlage.

Erst Mitte Januar hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Verbot von Corona-Protesten in München durch die Stadt bestätigt und damit einen Beschluss des Verwaltungsgerichts geändert. Die juristisch fragwürdige Begründung: München sei in seiner Gefahrenprognose nach Erfahrungen bei Versammlungen zu Recht davon ausgegangen, dass nur mit einem präventiven Verbot die Gefahr zahlreicher Infektionen mit dem Coronavirus verhindert werden könne.

Folgt man dem jüngsten Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, steht die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs – ebenso wie viele weitere derartige Beschlüsse – auf tönernen Füßen.

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Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Daniel Weinmann arbeitete viele Jahre als Redakteur bei einem der bekanntesten deutschen Medien. Er schreibt hier unter Pseudonym.

Bild: Yavdat/Shutterstock
Text: dw

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