Farce statt Wahlen "Putins Demokratur" – mein Bestseller jetzt kostenlos für Sie. Teil 9

Lesen Sie heute Teil 9 von „Putins Demokratur“. Warum ich Buch hier auf meiner Seite veröffentliche, können Sie hier in meiner Einleitung zum ersten Beitrag finden. 

Um vom Staatsmann zum Staatsfeind zu werden, können ein paar Worte ausreichen. Von Januar 2000 bis Februar 2004 war Michail Kassjanow als Ministerpräsident der zweithöchste Mann in Putins Russland. Im Mai 2005 kritisierte der groß gewachsene Hüne mit dem tiefen Bass öffentlich den Staatschef und kündigte an, für die Präsidentschaft zu kandidieren. Fast über Nacht wurde er zur Unperson. Prompt leitete die Staatsanwaltschaft am 1. Juli 2005 Ermittlungen gegen den Expremier ein: Er soll im Jahr 2003 seine staatliche Luxus-Datscha im Wert von 27 Millionen Dollar für 370 000 Dollar privatisiert haben – was die Anklagebehörde offenbar wenig interessierte, solange Kassjanow dem Kreml nicht den Fehdehandschuh hingeschmissen hatte.

Kassjanows zweite politische Karriere abseits vom Kreml wurde zum Spießrutenlauf. Mal kann er seine Versammlungen wegen angeblicher Bombendrohungen nicht abhalten, mal blockiert die kremltreue Jugendbewegung »Die Unsrigen« den Eingang. Unternehmer, die den Expremier unterstützen, bekommen Ärger mit den Steuerbehörden und der Miliz. Als Kassjanow im Dezember 2005 zum Vorsitzenden der Demokratischen Partei Russlands gewählt werden soll, fühlt er sich plötzlich wie in einer abstrusen Burleske: Abtrünnige okkupieren in den Morgenstunden mit Unterstützung muskelbepackter Wachleute den Versammlungssaal im Moskauer »Haus der Sowjets«, verweigern allen Kassjanow-Anhängern den Zutritt, geben sich als die »echte« Partei aus und wählen einen ganz anderen Vorsitzenden.

Solche grotesken Inszenierungen stehen ganz in der Tradition des KGB, wie eine der wenigen Erzählungen von Wladimir Putin über seine Arbeit als KGB-Offizier nahelegt. In Petersburg, das damals noch Leningrad hieß und wo Putin von 1975 bis 1984 diente, wollten Dissidenten am Geburtstag von Zar Peter dem Großen aus Protest gegen die Sowjetmacht einen Kranz niederlegen. Sie hatten dazu Dissidenten und ausländische Journalisten eingeladen. Die Petersburger KGB-Männer standen vor einem Dilemma: Egal, ob sie mit Gewalt gegen die Aktion vorgehen oder sie erlauben würden – Schlagzeilen im Westen schienen garantiert. Der Ausweg, so Putin: »Man musste sozusagen hinter einer Ecke hervor agieren, so, dass auf keinen Fall die Ohren hervorstehen.« Abstehende Ohren – im KGB-Jargon ein Synonym für missglückte Geheimdienstaktionen, die nicht geheim bleiben. Die KGB-Agenten griffen laut Putin zu einem Trick: »Man organisierte selbst eine Kranzniederlegung, genau dort, wo die Journalisten hinkommen sollten. Dann holte man das Gebietskomitee, die Gewerkschaft, man ließ die Miliz alles absperren und marschierte dann selbst unter Musikklängen vor. Die Journalisten und die Diplomaten haben geschaut, haben ein paar Mal gegähnt und sind gegangen. Als sie alle weg waren, haben wir die Absperrungen wieder aufgehoben, bitte – jeder, der will, kann gehen. Aber natürlich war es für niemanden mehr interessant.« Unverrichteter Dinge kehrten die Regimegegner um.

Dieses Prinzip der »doppelten Kranzniederlegung«, der inszenierten Farce, ist im heutigen Russland allgegenwärtig. Wo es nicht weiterhilft und sich Gegner nicht aussperren lassen, greifen die Machthaber zu handfesteren Methoden. So berichtete der 2015 ermordete Ex-Vizepremier Boris Nemzow, von 2004 bis 2005 Vorstandsvorsitzender bei der privaten »Neftjanoi«-Bank, der Verbindungen mit Kassjanow nachgesagt werden, von einem Anruf aus dem Kreml Ende 2005: »Einer der engsten Vertrauten Putins, Igor Setschin, sagte mir: ›Es passt uns gar nicht, dass du mit der Opposition gemeinsame Sache machst. Dich können wir nicht einbuchten, du bist zu bekannt, da ist der Aufschrei im Westen zu groß. Aber deinen Chef können wir festnehmen. Wenn du nicht innerhalb von drei Tagen kündigst, kommt er in den Knast!‹« Nemzow kündigt. Nachdem Kassjanow im Dezember 2005 die Gründung einer breiten demokratischen Opposition ankündigt, lässt die Staatanwaltschaft die Räume der »Neftjanoi«-Bank durchsuchen. Auch bei der MDM-Bank, deren Besitzer ebenfalls Kassjanow nahesteht, kommt es zu Durchsuchungen. Der Chef der »Neftjanoi«-Bank wird kurz darauf zur Fahndung ausgeschrieben, dem Kreditinstitut die Lizenz entzogen.

Als der Moskauer Satiriker Viktor Schenderowitsch im Herbst 2005 für ein Nachrückermandat in der Duma kandidiert, warnt ihn ein Mann mit besten Kontakten zur Regierung: Es stoße im Kreml auf Missfallen, dass er gegen die Machthaber antrete. Als Familienvater solle er sich Sorgen um seine Angehörigen machen – schließlich könnte seine Frau in einen Autounfall verwickelt werden.

Nicht nur bei Drohungen bleibt es gegenüber dem Bürgermeister der nordrussischen Hafenstadt Archangelsk. Nachdem Alexander Donskoi im Oktober 2006 ankündigte, er wolle 2008 als Präsidentschaftskandidat antreten, droht ihm der Putin-Beauftragte für Nordrussland, Ilja Klebanow, am Telefon. Da seine Kandidatur mit dem Kreml nicht abgesprochen sei, müsse er mit ernsthaften Problemen rechnen, wenn er sie nicht zurückziehe. »Wir können ein Strafverfahren gegen dich einleiten. Dann verlierst du alles, was du hast.« Tatsächlich beginnt die Staatsanwaltschaft im November 2006 mit Ermittlungen gegen den Regionalpolitiker, der bei Umfragen in seiner Stadt einen Beliebtheitsgrad von 76 Prozent erreichte und mehrfach den Kreml und die Korruption öffentlich kritisierte. Im Juli 2007 treten maskierte Beamte eines Sondereinsatzkommandos seine Wohnungstür ein und schleifen den nur mit Unterwäsche bekleideten Mann rücksichtslos in einen Milizwagen. Zwei Tage wird Donskoj wie ein Schwerverbrecher im Gefängnis festgehalten, vor Gericht wird er in einem Gitterkäfig vorgeführt: Ein klares Signal an alle, die es wagen, den Männern im Kreml Paroli zu bieten.

Dabei hätte der Kreml von seinen Widersachern kaum etwas zu befürchten, weil die Wahlergebnisse ohnehin zurechtgebogen würden, behauptet die Moskauer Opposition. Tatsächlich treibt die »gesteuerte Demokratie« manchmal absurde Blüten. So kam Präsidentschaftskandidat Achmat Kadyrow in Tschetschenien im Jahr 2003 in einigen Wahllokalen auf mehr als 100 Prozent. Die Oppositionszeitung Nowaja gaseta veröffentlicht zehn Tage vor der Duma-Wahl im Dezember 2003 bereits das angebliche Endergebnis – nach »Vorgaben«, die ein Beamter im Präsidialamt der Zeitung zukommen ließ. Und tatsächlich ähnelt später das tatsächliche Wahlergebnis diesen »Vorgaben«. Die Opposition klagt über massive Manipulationen und Fälschungen bei den Wahlen. Unliebsame Kandidaten streichen die Wahlkommissionen zuweilen einfach von den Listen.

Ein Gesetz vom Juni 2002 verbietet Journalisten im Wahlkampf jede Analyse. Ein Mitglied der Wahlkommission erklärt den Sinn dieser Vorschrift: Wenn ein Kandidat mietfreies Wohnen versprochen hat, ist es statthaft, darüber zu schreiben. Nicht zulässig – da Analyse – wäre hingegen ein Hinweis darauf, dass derselbe Kandidat ein identisches Versprechen nach den letzten Wahlen gebrochen habe. Nach Ansicht des Chefs der Wahlkommission bedroht das neue Gesetz nicht die Meinungsfreiheit, sondern die Freiheit zu lügen.

Die liberale Jabloko-Partei untersucht nach der Duma-Wahl 2003 die von den Wahlhelfern unterzeichneten Wahlprotokolle aus 14 065 Wahllokalen. In 2 648 Fällen stimmen die Ergebnisse nicht mit den später von der Zentralen Wahlkommission veröffentlichten überein. Insgesamt ergibt sich eine Differenz von 433 356 Stimmen. In mehreren Wahllokalen werden Beobachter Zeugen, wie Unbekannte ganze Stöße von Wahlzetteln in die Urnen werfen. Die OSZE bezeichnet die Wahl als frei, aber nicht fair.

Neue Gesetze erhöhen seit 2005 die Hürden für die Gründung und das Fortbestehen von Parteien. Die geplante Einführung elektronischer Stimmzählungsgeräte ohne nachprüfbare Wahlzettel öffne neuen Methoden der Wahlfälschung Tür und Tor, fürchten die Kommunisten, zumal für die automatische Stimmenzählung der Geheimdienst zuständig sei. Der liberale Abgeordnete Wladimir Ryschkow ist überzeugt, dass die Idee freier und ehrlicher Wahlen völlig ad absurdum geführt werde und eine »Konterrevolution im Wahlsystem« im Gange sei. Von den russischen Wählern glauben nach einer Umfrage vom Juli 2005 55 Prozent nicht daran, dass die Wahlen die Meinung des Volkes widerspiegeln; nur 31 Prozent sind der Auffassung, alles ginge ehrlich zu.

Putin-Kritiker fühlen sich immer wieder wie im absurden Theater – wie Wladimir Lyssenko im Obersten Gericht. Sieben Kartons hatte der Ex-Abgeordnete im Frühjahr 2007 in das Hohe Haus schleppen lassen. Der Inhalt: 63 000 Registrierkarten als Beweis, dass seine seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion existierende Republikanische Partei mehr als 50 000 Mitglieder hat. Denn diese Mindestzahl schreibt das neue Parteiengesetz vor. »Bitte lassen Sie nachzählen«, flehte Lyssenko den Richter an. »Nicht nötig«, befand der. Sein Urteil: Die Republikaner haben weniger als 50 000 Mitglieder und sind deshalb fortan keine Partei mehr.

Im Frühjahr 2007, ein gutes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen, wird Wladimir Tschurow, ein Schulfreund und enger Vertrauter von Wladimir Putin, neuer Chef der einflussreichen Obersten Wahlkommission. In einem Interview mit der Zeitung Kommersant verrät er seinen obersten Glaubenssatz: »Gesetz Nummer eins« sei, dass Putin immer Recht habe. Auf die Gegenfrage, was zu tun sei, wenn der Präsident doch einmal einen Fehler mache, antwortet Tschurow: »Wie kann Putin Unrecht haben?«

Für die Ernennung des Putin-Freundes und Physikers zum obersten Aufseher der Wahlen musste die Duma extra das Gesetz ändern. Bis dahin durften nur Juristen den Posten besetzen. Kritiker haben große Zweifel an der Unabhängigkeit Tschurows. Nach wenigen Monaten im Amt moniert Tschurow in einem Interview mit der Iswestia, im Westen übliche Meinungsumfragen seien Humbug. Die Wahlprognosen, mit denen anhand der Befragung von Wählern nach dem Verlassen der Wahllokale das Wahlergebnis in der Regel sehr genau prognostiziert wird, seien unzuverlässig, so der Petersburger: Er habe mit eigenen Augen gesehen, wie Mitarbeiter der Meinungsforschungsinstitute im Westen die entsprechenden Unterlagen in einem Café selbst ausgefüllt hätten, statt die Wähler zu befragen. Mit Blick auf den Westen sagte Tschurow: »Wir führen die Wahlen viel besser durch als sie (andere Länder) selbst. Das ist völlig offensichtlich. Unsere Methoden der Prüfung sind viel raffinierter als bei ihnen.« Kritiker finden es merkwürdig, dass Zeitungsberichten zufolge die Zahl der Wähler in Russland sehr viel langsamer abnehme als die Zahl der Russen. Die Opposition argwöhnt, man trage Verstorbene absichtlich nicht aus den Wählerlisten aus, um zu manipulieren und diese »toten Seelen« – frei nach Gogol – mitwählen zu lassen. Putin-Freund Tschurow wolle mit seinen Aussagen offenbar verhindern, dass – wie in der Ukraine 2004 – nach den Wahlen Berichte über Wahlfälschungen für Unruhe bei den Russen sorgen. Kremlkritiker erinnern an ein Motto des früheren Sowjetdiktators Stalin: »Entscheidend ist nicht, wen die Menschen wählen, sondern wer die Stimmen auszählt.«

Die Fortsetzung finden Sie in Kürze hier auf meiner Seite – den zweiten Teil des Kapitels „Militarisierung der Macht“. 

Die Fortsetzung finden Sie in Kürze hier auf meiner Seite: Zynismus statt Marxismus.
Den vorherigen, achten Teil – Spiel ohne Regeln – finden Sie hier.
Den vorherigen, siebten Teil – Militarisierung der Macht – finden Sie hier (Teil 2).
Den sechsten Teil – Militarisierung der Macht – finden Sie hier (Teil 1).
Den fünften Teil – Putins bombiger Auftakt – finden Sie hier.
Den vierten Teil – Die Herrschaft der Exkremente – finden Sie hier.
Den dritten Teil – Mit Stalin in die Zukunft – die verratene Revolution – finden Sie hier.
Den zweiten Teil – „Der Gas-Schock – Moskaus Warnschuss“ – finden Sie hier.
Den ersten Text der Buchveröffentlichung finden Sie hier

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