Ein Gastbeitrag von Annette Heinisch und Gunter Weißgerber
Expertokratie beherrscht unser Leben. Experten waren es, die uns während Corona den Weg wiesen, allerdings nur die einer spezifischen Fachrichtung und nur die mit „nützlichen Meinungen“. Andere wurden weitgehend mundtot gemacht. Dass der gewiesene Weg nicht wirklich erfolgreich war, wird zunehmend deutlich. Aber die Regierenden waschen ihre Hände in Unschuld, sie folgten eben den Experten.
„Die Wissenschaft“ weist auch den Weg in der Klimapolitik. Die „Krise“ sei so gewaltig, dass drastisches Handeln „alternativlos“ sei, sonst stürbe der Planet. So meinten die Experten 2007, wegen des ansteigenden Meeresspiegels seien Kiel, Hamburg und Rostock in Gefahr. Tatsächlich ist davon nichts zu sehen, obgleich alle Ziele zur Reduktion von CO2 verfehlt wurden. Außer den Gefahren für Deutschlands Wirtschaft und Energieversorgung durch das Handeln aufgrund dieser Prognosen hat sich bisher nichts realisiert.
Als eklatante Fehleinschätzungen haben sich auch die Bewertungen vieler „Experten“ über die Chancen der Ukraine gegen Russland erwiesen. Wie man sich über die militärische Stärke Russlands und (umgekehrt über die ukrainische) dermaßen irren konnte, dürfte noch Generationen von Politikwissenschaftlern und Historikern beschäftigen.
Beginn der Aufarbeitung
Kürzlich erschien im Geopolitical Monitor, einer kanadischen Geheimdienstpublikation über politische und militärische Sicherheitsangelegenheiten, der erste Artikel zum Thema „How western experts got the ukraine war so wrong“ (Wie westliche Experten den Ukraine-Krieg so falsch verstanden haben), der die Rolle der sogenannten Experten und ihrer Fehleinschätzungen beleuchtet.
Taras Kuzio, Politikwissenschaftler an der „Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie“ und Autor der Bücher „Russian Nationalism and the Russian-Ukrainian War“ (2022) und „Fascism and Genocide: Russia’s War Against Ukrainians“ (erscheint 2023) schreibt:
“Ein bizarrer Faktor bei Russlands Invasion in der Ukraine ist, dass die meisten westlichen Experten in Bezug auf das russische Militär mit dem Kreml übereinstimmten, dass Russland über eine mächtige Armee verfügt, die die Ukraine innerhalb von zwei oder drei Tagen besiegen würde. Während es viele Analysen, auch von diesem Autor, darüber gibt, wie russische imperiale nationalistische Stereotype über Ukrainer dazu führten, dass die Russen die Ukrainer falsch einschätzten, wurde nicht untersucht, warum westliche Experten die Stärke der russischen Armee übertrieben und die Ukraine militärisch und als widerstandsfähige Gesellschaft heruntergespielt haben.” (Übersetzt aus dem Englischen).
Bereits seit der Krise 2014 (Invasion Russlands in die Ostukraine und auf die Krim) sei die Mehrheit der Experten der Ansicht gewesen, es sei sinnlos, der Ukraine Waffen zu liefern. Bei einer Umfrage im Jahr 2015 hätten 18 Experten gegen und nur neun für Waffenlieferungen an die Ukraine gestimmt. Die Gegner von Waffenlieferungen hätten in der New York Times und der Washington Post geäußert, Waffenlieferungen seien eine „very, very bad idea“, manche hätten gemeint, sie könnten ein „tödlicher Irrtum“ sein. Bekannte Vertreter der sogenannten realistischen Denkschule wie John J. Mearsheimer seien noch unerbittlicher gewesen, indem sie postuliert hätten, Waffen könnten der Ukraine ohnehin nicht helfen.
Die Fehleinschätzungen dieser Experten haben die Regierungen westlicher Staaten und die NATO dazu bewegt, die Ukraine nicht ausreichend zu unterstützen. Wenn Waffen geliefert wurden, dann für den erwarteten Partisanenkrieg.
Die Irrtümer der Experten seien vielfältig gewesen: Viele hätten der Behauptung Russlands geglaubt, es hätte seine Armee nach der Invasion in Georgien 2008, welche zahlreiche Schwächen aufwies, reformiert. Zudem seien Waffen und Ausrüstungsgegenstände schlicht gezählt und deren Anzahl verglichen worden. Aufgrund dieser stark vereinfachenden Sichtweise sei angenommen worden, dass die Ukraine sofort überwältigt werden würde.
Dabei seien die schlechte Organisation und das Fehlen von Disziplin in der russischen Armee nicht berücksichtigt worden. Das weitgehende Fehlen von Organisation und Disziplin habe nun bereits zu der Frage geführt, ob es sich bei der russischen Armee überhaupt um eine Armee im eigentlichen Sinne handele oder ob sie nicht eher als eine Art militärische Gruppierung bezeichnet werden müsse, in welcher die Armee weder überall noch jederzeit das Kommando habe („a kind of military grouping in which the army is not in command everywhere, and not always“).
Tatsächlich ähnele die russische immer noch der ehemaligen sowjetischen Armee in ihrer Mentalität, hierarchischen Struktur, wegen ihrer schlechten Offiziere, dem schlechten Ausbildungsniveau, der schlechten Disziplin und schlechter Logistik sowie der Korruption. Speziell die Folgen der Korruption seien fatal unterschätzt worden.
In ihrer Mehrheit haben diese Experten wahrscheinlich bis 1989 auch geglaubt, dass die DDR an zehnter Stelle der Industrienationen gestanden haben solle. Hier kommt Helmut Schmidt in den Sinn, der den Diensten der Bundesrepublik unterstellte, diese hätten mehr die Zeitungen des Ostblocks gelesen und gesammelt als zwischen deren Zeilen die Realitäten zu suchen. In gewissem Sinne sind diese Experten und deren nachgewachsene Kohorten noch immer Opfer ihres Trugbildes vom alten Ostblock und vom sowjetischen Nachfolgestaat Russland.
Der zaristische, sowjetische und jetzige russische Soldat war und ist für die Befehlshaber nur „Muschik“, zu hunderttausenden verheizbares menschliches Material. Ein Leibeigener ohne staatsbürgerliche Stimme. Rechtlos, der Willkür von oben und der seitens seiner Mit-Muschiks hilflos ausgeliefert.
Vor der brutalen Militärmacht Sowjetunion hatten die Ostblockvölker Angst. 1953 Ostdeutschland, 1956 Ungarn, 1968 ČSSR – die sowjetischen Kolonialvölker wussten, wie Moskaus Panzer rollen, morden und zerstören können. Hierin lag auch die Furcht der Ostdeutschen begründet, die in Leipzig und vielen anderen Städten 1989 auf die Straße gingen. Im Juni 1989 drohte Egon Krenz Richtung Leipzig den dortigen Friedensgebetsteilnehmern und frühen Demonstranten demonstrativ mit der „chinesischen Lösung“. Die SED und ihr MfS hätten 1953 gern wiederholt. Gorbatschow versagte gegen den Widerstand der sowjetischen Hardliner die Rückendeckung durch seine Panzer. Allein zu Haus ließ es die DDR-Partei- und Staatsführung nicht auf das Niederkartätschen der friedlichen Revolutionäre ankommen. Dank Gorbatschows Zurückhaltung entledigten sich die Ostdeutschen ihrer Furcht und wuchsen zu einem Millionenheer von Demonstranten an. Im Baltikum dagegen ließ Gorbatschow die sowjetische Militärmaschine auf die Bevölkerung los.
Gorbatschow ist längst Geschichte. In Russland herrschen schon lange Gorbatschows alte Widersacher und deren Brut. Russland ist Besitz seines Geheimdienstes und praktiziert genau das, was Gorbatschow 1989 nicht tat. Russland marschiert immer wieder in seine Nachbarländer ein. Russlands Krieg in der Ukraine ist Moskaus Antwort auf den „Maidan“, der wiederum der ukrainische „Leipziger 9. Oktober 1989“ ist. Was den Ostdeutschen 1989/90 gelang – Freiheit, Demokratie, Sicherheit – das will Russland den Ukrainern drei Jahrzehnte später mit den Mitteln von 1953, 1956 und 1968 verwehren.
Der tiefere Grund für die Deutsche Einheit von 1990 liegt in der damaligen Gewissheit, die Sicherheit vor der Rückabwicklung der Friedlichen Revolution könne es nur in der NATO geben. Das wussten auch die anderen früheren „Brudervölker“ der Sowjetunion und drängten deshalb ebenfalls in die NATO. Insofern ist „NATO-Osterweiterung“ Euphemismus. Nicht die NATO hat sich nach Osten ausgeweitet, der Osten hat sich im Westen in der NATO zum eigenen Schutz eingehegt. Dazu ein Bild: Das letzte Haus in östlicher Richtung in der Dorfstraße bewohnt ein dorfbekannter Schläger. Zu ihrem Schutz haben die Bewohner der anliegenden Grundstücke Schutz beim starken Nachbarn am westlichen Ende der Dorfstraße gesucht und gefunden.
Die westlichen Experten können sich noch immer nicht die russisch-sowjetische Korruption vorstellen. Die Sowjetunion war in ihren Grundfesten korrupt. Ohne Korruption keine Sowjetunion. Ohne Korruption keine sowjetischen Nachfolgestaaten. Die Korruption in der Ukraine ist wie die Korruption in Weißrussland Ergebnis der sowjetischen Korruption. Im Gegensatz zu Russland befreit sich die Ukraine seit 1991 aus dem sowjetischen „Muschik“- und Korruptionserbe und ist dabei auf gutem Wege.
Ein erhellender Artikel
Demgegenüber seien die militärischen Fähigkeiten der Ukraine ignoriert oder krass unterschätzt worden. Auch der Faktor, dass die Ukraine eine Bürgergesellschaft ist, sei in ihrer Bedeutung verkannt worden. Russland habe eine vertikale, hierarchische Führungsstruktur, die Bürger sind Objekt staatlichen Handelns. In der Ukraine hingegen gebe es eine horizontal organisierte ausgeprägte Zivilgesellschaft und Freiwilligenbewegung.
“Die Ukrainer haben seit 1990 drei Volksrevolutionen organisiert, um ihre Rechte einzufordern; Russlands letzte Revolution war vor über hundert Jahren.” („Ukrainians have organized three popular revolutions since 1990 to demand their rights; Russia’s last revolution was over a hundred years ago.”)
Die Auswirkungen dieser gesellschaftlichen Struktur, die über ein hohes Maß an Selbstorganisationsfähigkeit und Widerstandskraft verfügt, sei von den Experten vollständig ignoriert worden.
Während das Maß und die Folgen der Korruption in Russland unterschätzt worden seien, seien diese in der Ukraine übertrieben worden. Zugleich seien die russischen Behauptungen über eine Spaltung der Ukraine zwischen dem angeblich pro-russischen Osten und dem als nationalistisch bezeichneten pro-westlichen Westen der Ukraine geglaubt und übernommen worden. Tatsächlich aber habe es diese Spaltung nicht gegeben, auch russisch sprechende Ukrainer seien ukrainische Patrioten.
Kuzio sieht den Grund für diese fatalen Fehleinschätzungen darin, dass der Blick des Westens auf die Ukraine quasi als Anhängsel Russlands eine Folge der Art und Weise sei, wie postkommunistische Studien an Universitäten und Think Tanks angelegt seien. Westliche Experten würden meinen, sie seien Experten für alle ehemaligen Sowjetstaaten, wenn sie viel über Russland wüssten. Dieses sei nicht zutreffend und auch nicht üblich, beispielsweise gelte ein Argentinien-Experte nicht als Experte für ganz Latein-Amerika.
Aus diesem Grund hätten viele Experten die Ukraine „through the eyes of Moscow“ gesehen. „Bestenfalls wurde die Ukraine als, nun ja, Russland angesehen; aber vielleicht schlimmer. Sie galt als instabil, anfällig für Aufstände und der Gnade ihrer Oligarchen ausgeliefert – korrupter, gespaltener, unruhiger als der Gigant nebenan. Und weil sie als schwacher Staat angesehen wurde, ging man davon aus, dass die Ukraine angesichts einer russischen Invasion zum Untergang verurteilt sei.” Kuzio weist daraufhin, dass westliche Experten sehr zurückhaltend ukrainische Originalquellen nutzen, was er bereits 2020 in seinem Buch „Crisis in Russian Studies“ thematisiert und als akademischen Orientalismus bezeichnet hat.
Bewertung
Tatsächlich ist das schiere Ausmaß an Fehleinschätzungen der Experten ein bemerkenswerter Umstand. Dafür dürften mehrere Faktoren maßgeblich sein.
Objektiv zutreffend dürfte die Feststellung sein, dass die Bewertung der Situation durch die Brille Russlands geschah.
Ein Aspekt ist der von Kuzio erwähnte Inhalt der Studien, der russlandzentriert ist. Allerdings kann das nicht der alleinige Grund für die Fehleinschätzung sein, denn vertieftes Wissen über Russland hätte z. B. das Maß an Korruption und Kleptokratie in den Fokus gerückt.
Zudem dürfte eine Wechselwirkung vorliegen: Aufgrund des weit verbreiteten Desinteresses an den ehemaligen Mitgliedstaaten der UdSSR und der nahezu ausschließlichen Fixierung auf Russland, die in Deutschland besonders stark ausgeprägt ist, wurde die Struktur dieser Studien so beibehalten.
Es stellt sich daher die Frage, woher diese Fixierung kommt. Ein Aspekt mag die pure Angst vor einer Atommacht sein. Ein weiterer könnte sein, dass Universitäten ein Nährboden für autoritäre bis totalitäre Ideologien sind. Anhänger kommunistischer und sozialistischer Ideologien waren dort stark vertreten. Generell ist Idee, top – down in großen, zentralistischen Staatswesen alles regeln zu können, besonders in Akademikerkreisen weit verbreitet. Staaten, die den Weg in die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit gehen, erscheinen daher eher suspekt. Die Wandlung der Linken in sogenannte Linksliberale oder Grüne ändert an deren Grundeinstellung nichts; diese wirkt dann wie eine Brille, die zu einer selektiven Wahrnehmung führt.
Da diese Kreise Politik auf verschiedenste Weise beeinflussen, die Presse zudem als Verstärker dient, liegt eine Art geschlossener Kreislauf vor. In diesem werden abweichende Meinungen kaum toleriert und werden zu Außenseiterpositionen. Somit dürfte nicht nur die eigene Grundeinstellung zu selektiver Wahrnehmung führen, sondern auch purer Opportunismus: Es ist besser nichts zu sagen, was die Mächtigen nicht hören wollen.
Leider ist erst kürzlich das Buch „Der Krieg gegen die Ukraine“ erschienen. Verfasserin ist Prof. Dr. Gwendolyn Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) und Vertreterin der Einstein-Professur für Vergleichende Demokratie und Autoritarismusforschung an der Berliner Humboldt-Universität. Sasse legt dar, dass es tatsächlich keinen Abspaltungswillen der russischsprachigen Bevölkerung auf der Krim und in der Ostukraine gab. Sie zeichnet minutiös die Freiheitsbewegung des Maidans nach und korrigiert das weit verbreitete Bild der Lenkung von außen oder durch rechte Gruppierungen. Es wäre für eine objektive Betrachtung zielführender gewesen, wären die dort akribisch aufgezählten Tatsachen und Einschätzungen früher veröffentlicht worden. Allerdings musste jeder Verfasser einer solchen Dokumentation mit öffentlicher Diskreditierung rechnen, denn die Russlandfreundlichkeit sowie die Angst vor Russland ist vor allem in Deutschland stark ausgeprägt.
Opportunismus dürfte auch in anderer Hinsicht ein Faktor gewesen sein: Jeder, der auf die bewährten Strategien zur Wahrung oder Herstellung des Friedens hinweist, wird als Kriegstreiber diskreditiert. Darüber hinaus ist mit dem Thema Verteidigung und dafür nötige Aufrüstung keine Wahl zu gewinnen, daher wäre ein entsprechender Expertenrat schlicht nicht opportun.
Auf wenig Gegenliebe wäre auch der Hinweis eines Experten gestoßen, dass eine selbstständige Bürgergesellschaft eine erhebliche Widerstandskraft aufbringe.
Wenn aber der objektive Rat nicht opportun ist, wird die Politik den Rat bekommen, den sie hören will. Dafür sorgt sie ohnehin schon mit der Auswahl der Experten. Es gab eine beträchtliche Anzahl, die Waffenlieferungen an die Ukraine befürworteten. Deren Einschätzungen haben sich als zutreffend erwiesen, aber bis heute wird nicht auf sie gehört.
Es gibt sicherlich zahlreiche Gründe für die krassen Fehleinschätzungen. Mitursächlich dürften Aspekte wie einseitige Ausbildung, selektive Wahrnehmung und Opportunismus in vielen Varianten sein.
Selbst wenn die Experten korrekt und neutral arbeiten, sollte eines nicht vergessen werden: Es gibt keine Experten für die Zukunft. Die Zukunft liegt im Dunkeln; wie sie sich entwickelt, muss sich zeigen. Wer meint, sie vorhersagen zu können, ist kein Experte, so jemanden nennt man Wahrsager.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Annette Heinisch. Studium der Rechtswissenschaften in Hamburg, Schwerpunkt: Internationales Bank- und Währungsrecht und Finanzverfassungsrecht. Seit 1991 als Rechtsanwältin sowie als Beraterin von Entscheidungsträgern vornehmlich im Bereich der KMU tätig.
Gunter Weißgerber war Montagsdemonstrant in Leipzig, Mit-Gründer der Ost-SPD und saß dann 19 Jahre für die SPD als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. 2019 trat er aus der Partei aus. Der gelernte Bergbauingenieur ist heute Publizist und Herausgeber von GlobKult. Im Internet zu finden ist er unter www.weissgerber-freiheit.de.
Bild: Screenshot UATV EnglishText: Gast