Gebot der Menschlichkeit Wenn man den Menschen die Luft zum Atmen nimmt, hat man keine humane Gesellschaft mehr

Ein Gastbeitrag von Sönke Paulsen

In Unrechtsstaaten ist es rückblickend einfach, die Menschen zu loben, die sich über Regeln hinweggesetzt haben. Meist unmenschliche Regeln, die von der Masse der Bevölkerungen befolgt wurden. Denken wir an die Apartheid in Südafrika oder an die Sklaverei. Denken wir auch an unsere jüngere Geschichte, den Nationalsozialismus und den Kommunismus. Überall gab es Einzelne oder kleine Gruppen, die unmenschliche Regeln unterlaufen haben. Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ beschreibt den Mut, der erforderlich war, sich dem Nazi-Regime zu widersetzen. Mut war auch erforderlich, im Kommunismus religiöse Gemeinschaften aufrechtzuerhalten oder eine unabhängige Gewerkschaft aufzubauen, die tatsächlich die Interessen der Arbeiter vertrat und sich gegen den totalitären sowjetischen Machtanspruch wehrte. Die Rede ist von der polnischen Solidarność in den Achtzigern.

Warum das alles noch erwähnen? Jeder weiß es.

Die Sache ist die, dass auch demokratische Länder Regeln setzen, die unmenschlich sind, zumindest für eine Minderheit unmenschlich sein können. Wie ist es, wenn Menschen Impfungen ablehnen, wenn das, was für die meisten gut ist, eben für einige auch die Hölle sein kann? Wie ist es, wenn Kinder die Schulpflicht nicht aushalten oder junge Mädchen vor Scham dem Schwimmunterricht fern bleiben, unerträgliche Ängste entwickeln, wenn sie gezwungen werden, daran teilzunehmen. Wie ist es, wenn Menschen die Quarantäne nicht aushalten und Alleinlebende nur noch „gewerbliche zwischenmenschliche Kontakte“ haben, die Beziehungen ersetzen müssen, aber plötzlich wegfallen, weil Kontaktbeschränkungen angeordnet werden?

Alles Regeln, die in demokratischen Gesellschaften angeordnet werden und für einzelne schlimmer sind als das Leben in einer Diktatur.
Wie weit kann man den Menschen einhegen, um ihn passgerecht für eine normierte Zukunft zu machen? Mit solchen Themen beschäftigt sich die Zukunftsforschung und findet nicht immer die besten Lösungen. Wenn die Zukunft geplant werden soll, bleiben die Bedürfnisse vieler Menschen unberücksichtigt und manche Umstände einer „wünschenswerten“ Zukunft werden so zur Dystopie.

Selbstfahrende Autos und Busse, Roboter in der Krankenpflege und ein normiertes Nahrungsangebot können für manche Menschen die seelische Vernichtung bedeuten. Eine digitalisierte Welt setzt Regeln, die Menschen in die Vereinsamung zwingen oder auch in existentielle Armut. Natürlich geben Politiker immer vor, auf diese Fälle zu achten, Entwicklungen menschlich gestalten zu wollen, Ausnahmen zu schaffen, wenn es nicht anders geht. Aber ist das tatsächlich so?

Man kann Zweifel haben. Denn die Idee, die normative Gewalt von Regeln durch neue angepasstere Regeln abzumildern, entspricht oft nicht der Realität. Was nützt es jemandem, wenn er wegen eines psychisch ausgelösten „Asthma Bronchiale“ von der Maskenpflicht befreit wird und dann doch mehrfach täglich beschimpft, ausgesondert und zur Rede gestellt wird. Nichts!

Regeln sind eine Form von gesellschaftlicher Gewalt und die extreme Zunahme von Regeln, die wir in den letzten Jahren auch in demokratischen Gesellschaften haben, ist eine Zunahme von gesellschaftlicher Gewalt.

Die Menschlichkeit entscheidet sich dann, fast vergleichbar mit schlimmen Unrechtssystemen, daran, ob es in den betroffenen Gesellschaften Menschen gibt, die bereit sind, die Regeln zu unterlaufen, um anderen Menschen, welche die Regeln nicht einhalten können, eine Tür aufzumachen.

Das Gebot der Menschlichkeit gilt auch in Zeiten der Pandemie!

Meine Mutter ist über Achtzig und alleinlebend. Sie lebt davon, tagsüber ihre Kontakte beim Bäcker, im Bus, in Geschäften und Cafés zu haben. In Hamburg wird die 2Gplus-Regel praktiziert und oft recht gnadenlos eingehalten. Ihr Spielraum ist minimal, obwohl sie geimpft ist. Die Pandemie ist für sie ein psychischer Überlebenskampf, den sie in Berlin weniger ausgeprägt hätte, weil hier die Regeln nicht immer so genau genommen werden. Vermutlich würde es ihr in einem anderen Land, in dem man an das Unterlaufen von Regeln zum Schutz der Menschlichkeit gewöhnt ist, noch besser gehen. Aber sie ist nun mal an ihre Heimatstadt, an ihr Land gebunden.

Regeln mögen erforderlich sein. Die Regelungswut, die wir in unseren Gesellschaften inzwischen erleben, wirkt aber immer mehr wie das soziale Pendant zu überregulierten Märkten in der Wirtschaft. Sie würgt die Menschen ab und bringt sie in die Defensive. Das Leben ist dann kaum noch auszuhalten.

Ein neues Verhältnis zu Regeln ist genauso wichtig für den vielzitierten Weg der Gesellschaft in die Zukunft wie der digitale Umbau und ein verändertes ökologisches Verständnis. Wenn man den Menschen die Luft zum Atmen nimmt, kann man nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, eine humane Gesellschaftsordnung zu vertreten. Auch wenn dadurch das Klima besser wird und Infektionskrankheiten effektiv bekämpft werden. Was nützt es?

Solange das so ist, müssen Regeln auch unterlaufen werden und das ist ein Gebot der Menschlichkeit.

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Sönke Paulsen ist freier Blogger und Publizist. Er schreibt auch in seiner eigenen Zeitschrift „Heralt“. Hier finden Sie seine Fortsetzungsgeschichte „Angriff auf die Welt“ – der „wahre“ Bond.

Bild: Shutterstock
Text: Gast

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