Geisterstimmen in Tschetschenien Merkwürdige Mathematik beim Urnengang

In Berlin gab es bei der Wahl vergangenen Sonntag mehr Stimmen als Wähler. Als ich heute diese unglaubliche Nachricht las (siehe hier), musste ich zurückdenken an einen Besuch in der russischen Teilrepublik Tschetschenien im Jahr 2003. Als Korrespondent berichtete ich damals über das dortige Referendum über die neue, Moskautreue Verfassung am 23. März. Und wurde vor Ort Zeuge, wie das Wahlergebnis offensichtlich gefälscht wurde. Tschetschenien ist dafür bekannt, dass die Wahlbeteiligung dort in manchen Wahllokalen bei über 100 Prozent lag – offenbar war bei einigen der Opportunismus größer als die Mathematik-Kenntnisse. Anbei mein Bericht von damals – aus meinem Buch „Wladimir Putin – Wohin steuert er Russland“ (erschienen 2004 bei Rowohlt Berlin):

Mit ängstlichem Blick verkündet der Mann im ausgefranzten Anzug die Erfolgsmeldung: „Von 1200 Wahlberechtigten haben 905 gewählt, das sind rund 75 Prozent“, sagt der Wahlleiter im Stimmlokal 377, einer Mittelschule, in der tschetschenischen Hauptstadt, und blickt in einem fort auf den Boden. Es ist der frühe Nachmittag des 23. März 2003. Dieser Sonntag im kalten kaukasischen Frühjahr ist ein historischer Moment – wenn es nach dem Kreml geht. Draußen an der Außenwand sind die Einschlagspuren einer russischen Granate zu sehen; die Anwohner beteuern, das gefährliche Geschoss sei in der Nacht eingeschlagen – abgeschossen von russischen Soldaten, die offenbar betrunken waren. Daneben hängt ein Plakat: „Kinder, seid vorsichtig, Spielzeuge können gefährlich sein!“ Die Bewohner der abtrünnigen Kaukasus-Republik Tschetschenien sind heute aufgerufen, über eine neue Verfassung abzustimmen – und sich zu entscheiden, ob sie künftig mit Moskau in einem gemeinsamen Staat zusammenleben wollen. Aus dem Westen gab es Beifall für die Abstimmung: Bundeskanzler Gerhard Schröder bescheinigte Wladimir Putin in dem Verfassungsprozess schon vorab „gute Ansätze, die Unterstützung verdienten“. Auch später äußerte sich der Kanzler positiv zu dem Urnengang.

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Im Stimmlokal 377 im Lenin-Bezirk in Grosny herrscht Leere. Rund 30 Soldaten bewachen das Gebäude, sagt der Wahlleiter. Ein paar alte Frauen in dicken Woll-Umhängen verirren sich durch die riesigen Korridore. Die ganze Garderobe gleich neben dem Eingang füllt eine gewaltige Gummi-Zisterne aus, die aussieht wie eine Wärmeflasche für einen Riesen. Es ist der Wasserspeicher für die ganze Gegend: Weil es kaum fließendes Wasser gibt in der zerstörten Stadt, holen sich die Nachbarn hier das kostbare Nass. An den Fenstern Militärs, mit den Gewehrläufen in Richtung Straße. Mit 75 Prozent Wahlbeteiligung schon am Nachmittag liegt das Stimmlokal 377 außerordentlich gut im Rennen – obwohl kaum Wähler zu sehen sind. Vor den Wahlhelferinnen liegen die Wahllisten auf viel niedrigen Schülertischen, so dass sich die Wähler tief bücken müssen, als würden sie sich verneigen. Auf jedem Blatt Papier sind 20 Wahlberechtigte eingetragen; diejenigen, die abstimmten, haben daneben unterschrieben. Doch merkwürdigerweise sind die Unterschriften-Felder fast überall so gut wie leer, wie sich beim Durchblättern der Wählerlisten herausstellt. Auf kaum einem Blatt haben mehr als ein Fünftel oder ein Viertel der Eingetragenen abgestimmt.

Auf den Widerspruch zwischen den 70 Prozent Wahlbeteiligung und den leeren Wählerlisten angesprochen, erklärt der Wahlleiter, ein Tschetschene, blumig, dies habe mit Mathematik zu tun. Wieder sieht er in einem fort zur Seite, vorbei an den offiziellen Kreml-Beamten, die die ausländischen Journalisten bei der Pressereise durch Tschetschenien am Wahltag auf Schritt und Tritt begleiten. Erst nach langem Hin und Her ist der tschetschenische Wahlleiter einverstanden, die Wahlzettel nachzählen zu lassen. Nach hastigem Nachzählen mit viel Getuschel kommt er nur auf 420 Wähler – wo doch am Anfang von 900 die Rede war. Die restlichen 480 Stimmzettel seien einfach in „Krankenhäusern und Altenheimen und so weiter gesammelt“ worden. Ob 480 Altersheim-Insassen und Krankenhaus-Patienten bei 1200 Wahlberechtigen nicht merkwürdig viel seien? Na ja, antwortet der Wahlvorstand vielsagend, berät sich auf tschetschenisch mit seinen Kollegen, und verweist dann auf „Zusatzlisten“: Wähler, die nicht in die Wählerverzeichnisse eingetragen sind. Zeigen könne er die Zusatzlisten nicht, da seine Helfer gerade mit ihnen in ein Krankenhaus gefahren seien. Der Mann redet stockend, und seine Augen werden immer trauriger, und es scheint, als wollten Sie etwas ganz anderes sagen als sein Mund: „Warum quälst Du mich so mit meinen Fragen? Was kann ich denn dafür? Du weißt genauso gut wie ich, was los ist!“.

Den Einwand, dass bei so einem Wahlverfahren keinerlei Kontrolle möglich ist, da jedermann überall abstimmen kann, egal ob stimmberechtigt oder nicht, und sogar ein und dieselbe Person in beliebig vielen Wahllokalen abstimmen kann, weist der Wahlvorsteher müde und energielos zurück: „In Russland geht es ehrlich zu, wir sind ein ehrliches Volk“. Er sagte „bei uns in Russland“, nicht „bei uns in Tschetschenien“. Und er lächelt bitter. Damit lässt er Raum für Interpretationen. Es sei eben schwierig, nach dem Krieg vollständige Wählerverzeichnisse zu haben, schon allein, weil so viele Menschen geflohen seien und nicht mehr da wohnten, wo die gemeldet waren, beteuert der oberste Urnen-Aufseher – alles durchaus richtig, wenn auch keine schlüssige Erklärungen für Abweichungen solcher Größenordnung.

Doch selbst wenn es keine „Geisterstimmen“ gegeben hat und tatsächlich 480 ehrliche „Fremdwähler“ ins Wahllokal Nummer 377 gekommen sind, kam die hohe Wahlbeteiligung nur dank eines mathematischen Hütchenspieler-Tricks zustande: „905 von 1205 Wahlberechtigten haben gewählt“, womit die Wahlbeteiligung bei 75 Prozent lag, hatte der Wahlleiter verkündet. Der Kniff: Er hat die 480 „zusätzlichen Wähler“ nur bei der Zahl der abgegebenen Stimmen, aber nicht bei der Zahl der Wahlberechtigten hinzugerechnet. Die Zahl der Nicht-Wähler ist damit mit einem Schlag um die Hälfte geringer, und statt auf korrekte 53,7 kommt man auf 75 Prozent. Als einer der Männer aus der Wahlkommission, der etwas abseits steht, die Prozentzahl „53“ hört, mischt er sich hastig ins Gespräch ein: „Machen Sie sich keine Sorge, bis zum Abend kriegen wir die 80 Prozent hin. Alles wird sein, wie es uns gesagt wurde!“

Der Mann hält sein Versprechen. Das offizielle Ergebnis am Tag nach der Wahl laut Wahlkommission: 983 abgegebenen Stimmen bei 1149 Wahlberechtigten im Wahllokal 377 – obwohl es am Vortag schon am frühen Nachmittag 1205 Wahlberechtigte plus 480 „Zusatzwähler“ gegeben hat – also mindestens 1685 Wahlberechtigte. Der Sprecher des Wahlkomitees bestätigt dagegen auf Anfrage, es habe in diesem Wahllokal keine „Zusatzstimmen“ gegeben. Es muss sich also um Geisterstimmer handeln. Moskau meldet am Abend knapp 80 Prozent Wahlbeteiligung – genau die Zahl, die der Wahlhelfer im Wahllokal 377 schon am Nachmittag versprochen hat – „Alles wird sein, wie es uns gesagt wurde“, und eine Zustimmung von 96 Prozent – eine Zahl, die wie aus Sowjetzeiten anmutet.

Wladimir Putin spricht in Moskau vor den Fernsehkameras von einer „höchst demokratischen“ Entscheidung „für den Frieden“. Das letzte große Problem in Bezug auf Russlands territoriale Integrität sei nun gelöst, glaubt der Präsident: „Wir hatten ein positives Ergebnis erwartet, aber das übertrifft alle Erwartungen.“ Anderthalb Monate nach der Wahl teilt die „Gemeinschaft der russisch-tschetschenischen Freundschaft“ mit, dass der moskautreue amtierende Präsident Tschetscheniens, Achmat Kadyrow, im Zentralen Wahlkomitee diejenigen Mitarbeiter von Wahlkommissionen mit Geldprämien ausgezeichnet hat, die sich während des Referendums besonders gut bewährt haben. Der erste Preis, dotiert mit 50.000 Rubeln, ca. 1500 Euro, geht an den Leiter des Wahllokales Nr. 377 – den Mann mit den bemerkenswerten Rechenkünsten.

Am Wahltag selbst haben sich vor dem Stimmlokal Nr. 377 im Lenin-Bezirk mehr Zuschauer versammelt, als innen Wähler antreten. „Ich stehe hier den ganzen Tag, und es ist so gut wie niemand in dieses Wahllokal rein gegangen. Erst jetzt, als dieser Bus mit Journalisten herangekarrt wurde, sind plötzlich Wähler aufgetaucht – die wurden wohl extra herkommandiert“, sagt der Bauarbeiter Lomali und sieht sich vorsichtig um, ob niemand zuhört. Frieden und Freundschaft mit Russland könne es nur geben, wenn Moskau seine Truppen abzieht, glaubt der 47-jährige: „Ich lebe in einer Ruine, ohne Wasser, wir haben kaum Strom, sechs Menschen in einer halb zerstörten Wohnung, und ich habe keine Arbeit. Was mich am meisten fertig macht, ist der Zynismus der Russen. Da sagt der Chef der Wahlkommission in Moskau, seht her, die Amerikaner kämpfen gegen Terroristen mit Waffen, und wir in Tschetschenien mit Wahlen; dabei bringen sie uns seit zehn Jahren um.“

Nicht alle Tschetschenen sind vor den Wahllokalen so skeptisch wie der Bauarbeiter Lomali. „Vielleicht ändert das Referendum irgend etwas; irgend eine Hoffnung brauchen wir doch, es kann doch nicht ewig so weitergehen bei uns“, sagt ein älterer Mann in der Stadt Gudermes und wirft seinen Wahlzettel in die Urne aus Karton – demonstrativ offen und ungefaltet, so dass jeder sehen kann, dass er für die Verfassung stimmt. Fast alle werfen ihre Wahlzettel so ein. „Ich weiß nicht, wer schuld ist, es sind alles die gleichen Gauner“, pflichtet ihm eine Frau bei, die 52 Jahre alt ist und aussieht wie 75: „Ich habe kein Geld, kein Essen für meine Kinder, weiß nicht, wie ich meinen kleinen Enkel satt bekommen soll. Gestern habe ich den ganzen Abend geweiht. Drei Söhne sind im Krieg gefallen, einer ist Kriegsinvaliden, und mein Mann ist auch tot. Mein kranker Sohn bekommt 14 Euro Rente, ich verdiene 20 im Monat. Wir leben in einem halb zerbombten Haus. Wenn es auch nur die geringste Chance gibt, dass etwas besser wird, greife ich nach jedem kleinen Strohhalm – deshalb stimme ich für die Verfassung. Obwohl ich kaum Hoffnung habe.“

Plötzlich fahren zwei neue schwarze Mercedes-Geländewagen vor; ein Dutzend junger, kräftiger Männer mit Kalaschnikows springt heraus, gefolgt von einem Mann der typischen tschetschenischen Pelzmütze; mit seinem gepflegten Wollmantel und seiner weiß gepunkteten Krawatte wirkt er vor den zerbombten Häusern und den Fernsehkameras wie ein Starregisseur vor einer Kriegsfilm-Kulisse. Es ist Achmed Kadyrow, der Leiter der moskautreuen tschetschenischen Verwaltung: „Es ist eine feierliche Erscheinung, ein regelrechter Massenansturm auf die Wahllokale, mit richtigen Wartenschlangen. Selbst zu Sowjetzeiten habe ich so einen Andrang auf die Wahllokale in Tschetschenien nicht gesehen.“ Wieder tauchen die viel zitierten 80 Prozent Wahlbeteiligung auf – als sei er ein Hellseher, verspricht Kadyrow sie schon am Vormittag. Was passiert, wenn es keine Mehrheit für die Verfassung gibt, fragt ein Journalist. „Das ist ausgeschlossen“, antwortet der Verwaltungschef mit einem verschmitzten Lächeln: „Wir haben gut mit den Leuten gearbeitet.“ Es könne nichts schief gehen.

In einem anderen Wahllokal versucht einer der Mitarbeiter der moskautreuen Verwaltung, unbelauscht ins Gespräch zu kommen. „Alles ist zu ertragen, nur nicht der Terror. Dass sie nachts kommen, Leute aus dem Bett holen, die nie mehr zurückkehren. Jede Nacht fürchtest Du, dass Du der nächste bist. Was hat das mit Anti-Terror-Kampf zu tun?“ Der Mann erzählt von einem Freund, der an einem russischen Posten nicht rechtzeitig anhielt – und sofort erschossen wurde.

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Polizeipräsident a.D. analysiert die Übersterblichkeit – und klagt an: schockierender Klartext.

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