Lesen Sie heute Teil 24 von „Putins Demokratur“. Warum ich Buch hier auf meiner Seite veröffentliche, können Sie hier in meiner Einleitung zum ersten Beitrag finden.
Im Frühjahr 2006 gerät plötzlich eine neue Minderheit ins Visier der Politiker und Medien: Homosexuelle. Nachdem Pläne für eine Gay-Parade in Moskau bekannt werden, greifen mehrere hundert Skinheads und radikale Orthodoxe in der Nacht zum 1. Mai 2006, der Walpurgisnacht, den Moskauer Gay-Club »Renaissance event club« an.
Sie umzingeln das Gebäude, blockieren die Eingangstür, werfen mit Eiern, Flaschen und Steinen auf die Besucher und verprügeln sie. Neben antihomosexuellen und religiösen Parolen skandieren die Angreifer Sprüche wie »Russland den Russen«. Die Miliz greift nicht ein. Gegen 2 Uhr nachts rücken die Angreifer ab – merkwürdigerweise wohlorganisiert: Es stehen Busse bereit. Am nächsten Tag kommt es zu ähnlichen Angriffen auf weitere Gay-Clubs; einer wird angezündet.
Am 25. Mai treten in der bekannten Talkshow »Zur Barriere« im Sender NTW ein bekennender Homosexueller und die Vorsitzende des Familienausschusses der Duma zum Wortgefecht an. Sie warnt ihn vor Prügel, fordert Zwangsarbeit für ihn und beschimpft ihn lautstark – nach Kräften unterstützt vom Moderator – unter anderem als »Päderasten«, was in Russland linguistisch nicht ganz korrekt so viel bedeutet wie »Schwulensau«. Der Moderator macht sich über den Homosexuellen lustig; mehrmals betont er, Homosexualität sei widerwärtig und widernatürlich.
Ein Geistlicher in Kutte erklärt den Homosexuellen vor laufender Kamera für exkommuniziert; die »ekelhafte Neigung« gefährde gar die Hauptstadt, warnt der Priester zur besten Sendezeit: »Gott ist der größte Homophob des Universums, er hasst die Homosexuellen (…). Es gibt drei Todsünden, für die Gott Völker völlig vernichtet, die Legalisierung von Mord, Homosexualität und Hexerei.« Im Falle einer Homosexuellen-Demonstration würde Gott Moskau überschwemmen und vernichten.
Die Behörden verbieten denn auch eine für den 27. Mai geplante Homosexuellen-Kundgebung unter Verweis auf drohende Unruhen und »negative Reaktionen«. Dennoch versammeln sich mehr als hundert Demonstranten vor dem Moskauer Rathaus, darunter der Grünen-Bundestagsabgeordnete Volker Beck.
Rund 100 militante Gegendemonstranten skandieren Sprüche wie »Ehre für Russland« und greifen die Demonstranten an. Beck beklagt, die Polizei habe die Teilnehmer der Schwulen-Demonstration regelrecht festgehalten, so dass sie nicht flüchten konnten und den Neonazis hilflos ausgeliefert waren. Er sei von den Beamten »quasi direkt« den Angreifern »zugeschoben worden«, empört sich Beck. Der Abgeordnete wird trotz Diplomatenpasses festgenommen. Die Taktik der Polizei sei nicht aufgegangen, weil sie die Demonstranten nicht schützen konnte, sagt Beck später. Er unterstellt damit, dass die Miliz den Demonstranten helfen wollte oder sollte; dabei deutet alles auf das Gegenteil hin: dass die Beamten den militanten Gegendemonstranten beim Prügeln halfen. Bereits im Vorfeld der Demonstration hatten die Behörden angekündigt, mit aller Härte gegen Demonstranten vorzugehen. Auf der Polizeistation bittet Beck die Beamten um ärztliche Hilfe und Wasser, um seine blutende Kopfwunde auszuwaschen. Die Beamten lehnen die Bitte zunächst ab und geben Beck später verschmutztes Wasser, mit dem er sich infiziert. Seine Wunde muss im Krankenhaus genäht werden. Das Fernsehen ignoriert den Vorfall.
»Unser Leben, unsere Werte und unsere Traditionen – unsere Moral ist auf jede Art und Weise sauberer. Der Westen kann etwas von uns lernen und sollte nicht dieser verrückten Zügellosigkeit Vorschub leisten«, poltert Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow. »Jedes Land hat seine eigenen Gesetze. Es ist eine Tatsache, dass diese Demonstration nicht genehmigt war«, sagt Außenminister Lawrow auf einer Sitzung des Europarates, dem Russland seit Mai 2006 vorsitzt – quasi als oberster Hüter der Menschenrechte in Europa. Es bestünden unterschiedliche Meinungen über universell geltende Menschenrechte zwischen Europa und Russland, so die Gegenattacke Lawrows. Der Europarat solle sich mehr um die gefährdeten Menschenrechte der russischen Minderheit bei den neuen EU-Mitgliedern im Baltikum kümmern.
Im Mai 2007 wollen die schwulen Aktivisten im Rathaus eine Petition für Versammlungsfreiheit abgeben. Auf eine Demonstration verzichten sie nach den Erfahrungen vom Vorjahr aus Angst vor den aggressiven Gegendemonstranten. Dennoch wiederholt sich alles: Schon auf dem Weg zum Rathaus kommt es zu Tumulten und erneut zu Angriffen von Rechtsradikalen, die Parolen wie »Tod den Schwulen« skandieren. »Vor meinen Augen haben sie einen von uns niedergeprügelt. Ich rief die Polizei, bat sie, einzuschreiten. Stattdessen nahmen sie mich fest«, berichtet der italienische Europa-Abgeordnete Marco Cappato.
Auch Volker Beck wird erneut festgenommen – und mit ihm mehrere russische Schwulen-Aktivisten. Während der deutsche Abgeordnete nach kurzer Zeit wieder auf freien Fuß kommt, bleiben seine Mitstreiter über Nacht in Polizeigewahrsam. Nach den brutalen Rechtsradikalen setzt ihnen dann am nächsten Tag ein Gericht zu. Dort spielen sich Szenen ab wie aus einem Kafka-Roman. »Sie sind frei«, sagt die Richterin zu Nikolaj Alexejew.
Doch der schmächtige Anführer der russischen Schwulen-Szene schüttelt nur den Kopf, als die Frau in der schwarzen Richterrobe die drei Worte vor sich hin nuschelt. »Von einer Festnahme ist mir nichts bekannt, Sie waren die ganze Zeit auf freiem Fuß«, fügt Richterin Tatjana Newerowa hinzu. Die Frau um die vierzig mit Föhnfrisur und einer Stimme, die kaum zu hören ist, vermeidet jeden Augenkontakt mit Angeklagtem und Zuhörern.
Alexejews Anwalt ringt um Luft, bevor er entgegnet: »Aber Euer Ehren, mein Mandant war 24 Stunden in Haft, die Miliz hat ihn hierhergebracht, ins Gericht, als Gefangenen, Sie müssen das doch wissen, Euer Ehren.« Die Richterin starrt weiter auf den Tisch vor sich: »Ich weiß von nichts, und das geht mich auch nichts an. Jetzt ist er frei. Für alles andere sind andere Gerichte zuständig.« Der Anwalt läuft rot an. »Aber Sie müssen doch wissen, dass er die ganze Zeit eingesperrt war, Sie müssen das zu Protokoll nehmen!« Die Richterin blickt zur Seite: »Das hat nichts mit unseren Verfahren zu tun. Bleiben Sie bei der Sache!«
Ein paar Meter weiter auf den Zuhörerbänken sitzt der Abgeordnete Beck und schüttelt immer wieder ungläubig den Kopf, wenn ihm sein Dolmetscher den Wortwechsel zwischen Richterin, Angeklagtem und Anwalt übersetzt. Es sind ungewöhnliche Szenen für einen deutschen Abgeordneten, hier im Moskauer Friedensgericht Nummer 369, einem roten Backsteingebäude ein paar Gehminuten von der Lubjanka entfernt, dem berüchtigten Geheimdienstsitz. »Hier bitte, hier haben wir Fotos, die belegen, dass der Angeklagte unschuldig ist, dass die Vorwürfe gegen ihn falsch sind«, sagt der Anwalt, Alexander Ostrowski, und wedelt mit einem Bündel Bilder Richtung Richtertisch: »Ich beantrage, die Bilder als Beweismittel zuzulassen.« Die Richterin verlässt für fünf Minuten den Gerichtssaal. »Antrag der Verteidigung abgelehnt«, nuschelt sie nach ihrer Rückkehr vor sich hin. Es folgt eine Erklärung, so leise gesprochen, dass sie im Zuhörerraum nicht zu verstehen ist.
Dann muss Volker Beck in den Zeugenstand und berichtet seine Version der Geschehnisse: »Die Milizionäre schrien, sehr laut, sehr aggressiv, sie hielten einige von uns fest und schüttelten uns.«
Der Anwalt hakt nach: »Herr Beck, ging die Aggression von den Beamten aus?« Mit einem Mal wird die Richterin laut, ihre Stimme ist plötzlich gut zu hören: »Die Frage ist gestrichen, sie ist unzulässig, es geht hier um das Fehlverhalten des Angeklagten, nicht um die Miliz.«
Die Protokolle der Miliz seien falsch, sagt der Anwalt und wedelt mit zwei Dokumenten durch die Luft: »Sie sind unterschrieben von einfachen Beamten, die darin schildern, wie sie Alexejew aufgegriffen haben. Aber es waren keine einfachen Beamten, die ihn festnahmen, sondern hohe Offiziere, mit Sternen auf den Schulterklappen, das können wir anhand der Fotos beweisen.« Die Richterin blickt auf ihren Tisch: »Für diese Frage ist dieses Gericht nicht zuständig, es geht hier um das Fehlverhalten des Angeklagten, nicht der Miliz. Über die können sie sich an einem anderen Gericht beschweren.« Der Anwalt schüttelt den Kopf:
»Aber das ist doch die entscheidende Frage hier …« Die Richterin lässt
ihn nicht ausreden: »Ich sagte doch, dafür sind wir hier nicht zuständig. Bleiben Sie bei der Sache!«
»Ich habe während der Festnahme kein Wort gesagt und mich nicht widersetzt«, sagt plötzlich der Angeklagte Alexejew mit stockender Stimme. Die Richterin unterbricht ihn: »Darum geht es gar nicht, das wird Ihnen auch nicht vorgeworfen.« Alexejew scheint den Überblick verloren zu haben. Nach der Festnahme war noch von Verstoß gegen das Versammlungsrecht die Rede, dann von Widerstand gegen die Staatsgewalt. Abends hieß es, wenn er den Mund halten und kein Aufsehen machen würde, könne er mit einigen Tagen Arrest davonkommen. Doch dann berichteten die Medien weltweit über seinen Fall, ausländische Regierungen protestierten. Am Montagmorgen war dann wieder alles ganz anders: Die Rede war nun von einem Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung. Alexejew und seine beiden Gefährten sollen verbotenerweise die Fahrbahn betreten haben – gegen die Anweisung der Miliz. Dafür drohen ihm fünfzehn Tage Arrest.
»Alexejew war keinen Meter von mir entfernt, und ich stand direkt am Rathaus«, beteuert Beck. »Ich habe ihn die ganze Zeit im Blick gehabt, er war keine Sekunde auf der Fahrbahn. Wir standen da, ruhig und friedlich. Wir hatten keine Flugblätter, keine Plakate, nicht einmal auf unseren T-Shirts waren Aufschriften. Wir wollten nur die Petition im Rathaus abgeben. Plötzlich kamen Milizionäre, schrien ihn an und stießen ihn in einen Milizbus.« Ein anderer Zeuge sagt, die Miliz habe die Fahrbahn abgesperrt – der Angeklagte hätte sie beim besten Willen gar nicht betreten können. Die Richterin geht ins Besprechungszimmer.
»Sie bespricht sich jetzt wohl mit sich selbst«, scherzt ein Zuhörer bitter. Nach ein paar Minuten kommt sie zurück. »Die Sitzung wird vertagt auf den 9. Juni«, sagt sie. Es folgt eine Begründung, die so leise ist, dass man sie nicht vernehmen kann.
Im russischen Fernsehen wird das Verfahren mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen sehen Russlands Fernsehzuschauer am Montag etwa im Gazprom-Sender NTW einen kurzen Bericht über einen englischen Gay-Aktivisten, der sich am Sonntag bei dem Polizeieinsatz in Moskau ein blaues Auge einfing. Der Mann, so heißt es zum Abschluss, sei auch schon in anderen Ländern unangenehm aufgefallen und in Handgreiflichkeiten verwickelt gewesen.
Draußen auf dem Gang unterhalten sich der Anwalt, Beck und einige Zuhörer. »Das wurde nur vertagt, weil jetzt noch die Presse darüber schreibt, weil jetzt die Abgeordneten da sind. In zehn Tagen kräht kein Hahn mehr danach, dann kann man aburteilen«, sagt eine junge Frau. Der Anwalt klagt, dass ihm die ganze Sache das Wochenende auf der Datsche vermasselt habe: »Ich hatte noch frei, aber ich bin trotzdem gekommen. Auch bei Ihnen in Deutschland gab es Zeiten, in denen Homosexuelle vom Staat angegriffen wurden. Erst die eine Minderheit, dann die andere und dann wir, die Juden.« Er schluckt: »Ich hoffe, ich habe meine Lektion aus der Geschichte gelernt – und deshalb ist es so wichtig, den Anfängen zu wehren. Und was wir hier erleben, ist leider mehr als nur ein Anfang.«
Neben Kaukasiern, Schwarzen, Juden und Homosexuellen müssen sich auch Sinti und Roma auf Feindseligkeiten einstellen. Die Iswestia berichtet im Mai 2006 ausführlich über eine Betrügerbande aus Sinti- und Roma-Frauen und erteilt ihren Lesern »sieben Ratschläge« zum »Schutz gegen Zigeunerinnen«: »Fangen Sie kein Gespräch an mit einer Vertreterin dieses Volkstammes«, empfiehlt die Gazprom-Zeitung, »erlauben Sie es einer Zigeunerin nicht, Sie zu berühren … Sagen Sie sofort, dass es Ihnen unangenehm ist, wenn sie Sie anlangt« und »wenn Sie spüren, dass Sie bereits unter die Wirkung ihrer Hypnose geraten sind, atmen Sie tief ein und schreien Sie aus ganzer Kraft: ›Miliz‹«.
Den vorherigen, zweiundzwanzigsten Teil – Jude als Feind – finden Sie hier.
Den ersten Text der Buchveröffentlichung finden Sie hier.
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