Koalition plant Quadratur des Wahlrechts Ein Wahlsieg soll künftig kein sicherer Wahlsieg mehr sein

Nein, liebe Leserinnen und Leser, Sie haben sich nicht verlesen. Und ja – ich persönlich tue mich schwer, druckfreie und sachliche Formulierungen für das zu finden, was unser Parlament gerade plant. Denn in gestandenen Demokratien wie etwa Großbritannien mit seinem Mehrheitswahlrecht ist es selbstverständlich, dass der Kandidat mit den meisten Stimmen auch ins Parlament einzieht. In Frankreich nimmt man es noch genauer – bekommt im ersten Wahlgang keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit, kommen die beiden Bestplatzierten in die Stichwahl.

Die Väter des Grundgesetzes haben sich in Deutschland für einen Zwitter zwischen Mehrheitswahlrecht und Verhältniswahl entschieden. Prinzipiell werden die Sitze im Parlament nach dem Stimmenanteil der Parteien in den jeweiligen Bundesländern vergeben. Diese Verhältniswahl hat den großen Nachteil, dass es die Macht der Parteien stärkt – Parteigremien entscheiden faktisch, wer die Mandate bekommt – und die direkte Verbindung zwischen Wähler und Gewählten schwächt. Deshalb hat unser Wahlrecht auch das Element des Mehrheitswahlrechts – per Erststimme entschieden die Wähler, wer aus ihrem Wahlkreis als Direktkandidat in den Bundestag einzieht.

David
Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Dieses Zwitter-System hat unter anderem einen entscheidenden Nachteil: Wenn eine Partei mehr Wahlkreise gewinnt, als ihr nach der Landesliste im Verhältniswahlrecht Mandate zustehen, entstehen solche „Überhangmandate“: Regelmäßig ist das etwa bei der CSU in Bayern der Fall. Früher wurden solche Überhangmandate nicht ausgeglichen. Sie konnten den Wählerwillen enorm verzerren und sogar die Regierungsbildung entscheidend beeinflussen. Deshalb wurden sogenannte Ausgleichsmandate eingeführt. Die sollen die Verzerrung durch die Überhangmandate ausgleichen. Das Problem dabei: Der Bundestag wird regelmäßig aufgebläht. Eigentlich sollte er 598 Sitze haben, was schon sehr viel ist im Vergleich zu anderen Ländern. Durch 138 Übergang- und Ausgleichsmandate sitzen 736 Abgeordnete (oder muss man gendergerecht „Abgeordnetende“ schreiben?) im Reichstag und machen den Bundestag damit zum größten Parlament der Welt (auch das kein Schreibfehler – der Bundestag sitzt im Reichstagsgebäude).

Das kostet nicht nur den Steuerzahler Abermillionen – es sorgt auch für Frust bei Abgeordneten, wenn sie nicht beschäftigt werden. Weswegen man zusätzliche Gremien schafft, damit kein Gefühl der Überflüssigkeit aufkommt. Seit Langem herrscht bei den Parteien weit reichender Konsens, dass der Bundestag wieder auf das ohnehin üppige Normalmaß zurechtgestutzt werden muss.

Wie das nun geschehen soll nach dem Willen der Ampel, lässt sich aber an Absurdität kaum überbieten. Und bemerkenswert ist, wie die meisten großen Medien diese Absurdität zielstrebig verschleiern. Der Vorschlag der Koalition sieht vor, dass unter Umständen direkt gewählte Kandidaten nicht ins Parlament einziehen – und zwar dann, wenn ihre Partei im jeweiligen Bundesland nicht genug Zweitstimmen bekommt. Für diesen Fall sollen die Wähler jetzt noch eine „Ersatzstimme“ erhalten. Mit der sollen Wähler den Kandidaten bestimmen, der ihnen am zweitliebsten ist.

Keine Liebeshochzeit

Nein, Sie haben sich nicht verlesen. Das ist tatsächlich so. Künftig habe es dann also auch noch eine Ersatzstimme. Was im Restaurant noch durchgehen würde – wenn man gleich ein Ersatzessen bestellen müsste – wäre etwa bei einer Hochzeit schon schwierig – einen Ersatz-Mann oder eine Ersatz-Frau zu benennen, würde dem Gedanken einer Liebeshochzeit nicht ganz gerecht. Aber auch eine Wahlentscheidung hat ja etwas von einem Bund, wenn auch nicht fürs Leben, so doch für vier Jahre. Und dass der Auserwählte, also der Kandidat mit den meisten Stimmen, dann unter Umständen den Stinkefinger gezeigt bekommt und nicht ins Parlament darf, spricht dem Grundprinzip von Wahlen einfach Hohn.

Entsprechend scharf kritisiert die Pläne denn auch Unions-Fraktionsvize Sepp Müller – sie sei zu kompliziert, meint er: „Weil zukünftig hätten Sie dann drei Stimmen und der Wahlsieger im Wahlkreis ist am Ende gar nicht der Wahlsieger, sondern der zweite und wenn alles ganz komisch läuft, zieht der Drittplatzierte mit Drittstimme dann in den Deutschen Bundestag ein. Das soll man mal dem Wähler draußen erklären. Das ist nicht nachvollziehbar.“

Auch die Linken-Abgeordnete und Vize-Präsidentin des Bundestages, Petra Pau, kritisiert diese Möglichkeit: „Das heißt, die Wählerstimmen unter den Tisch fallen lassen und diese Abgeordneten nicht zulassen. Das halte ich für verfassungswidrig.“ Wobei ich hier gar nicht darauf eingehen will, wie pikant es ist, dass ausgerechnet eine Abgeordnete der ehemaligen SED hier – völlig korrekt – die Verfassungswidrigkeit erkennt, die früher Mitarbeiterin beim Zentralrat der FDJ war, eine Traueranzeige für den früheren Stasi-Vize Markus Wolf veröffentlichte und unter Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz stand. Dass sie nun hier mehr Verfassungstreue an den Tag legt als die Regierung, ist bizarr.

Die Pläne zeigen, wie sich viele Volksvertreter von den normalen Bürgern und der normalen Vernunft entfernt haben – auf die absurde Idee mit der Ersatzstimme muss man erst einmal kommen!

Bild: Shutterstock
Text: br

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