Von Alexander Wallasch
Vor elf Tagen interviewte ich eine Frau aus Poltava in der Zentralukraine. Wir kamen zusammen, weil ich einen Gesprächspartner in der Ukraine suchte, der deutsch spricht, die Ukrainerin leitet eine deutsche Sprachschule in ihrem Wohnort.
Im Gespräch bat sie mich darum, zu schreiben: „Beruhigen Sie die Deutschen!“ Über ihre eigene Situation sagte die Mutter von zwei kleinen Kindern:
„Ich würde nicht sagen, dass es ganz große Panik bei uns gibt. Natürlich haben die Menschen Sorgen, das ist ein Riesenproblem. Die Entwicklung sieht problematisch aus. Aber im Moment leben alle noch ihr normales Leben.“
Ich war erstaunt über diese fast stoische Gelassenheit. Heute erinnere ich mich in dem Zusammenhang an die 93-jährige Deutsche, die mir vor ein paar Tagen sagte:
„Man kann nichts ändern. Wir können nichts machen. Das kann nur eine Macht oder eine Masse. Und darum mache ich mir da nicht zu viele Gedanken, man muss einen Tag nach dem anderen nehmen.“
Heute früh um 7:56 Uhr bekam ich eine WhatApp Nachricht aus Potlava. Meine Gesprächspartnerin aus der Ukraine schrieb mir eine kurze Nachricht:
„Leider ist dieser Morgen überhaupt nicht gut. Wir fahren in die Westukraine.“
Ich frage zurück, ob wir telefonieren können. Sie antwortete: „Wahrscheinlich in ein paar Stunden, ich schreibe Ihnen.“ Dann eine weitere Nachricht: „Wir hoffen auf Frieden.“
Anschließend schickte sie noch ein Foto durch die Autowindschutzscheibe fotografiert auf eine Autoschlange vor ihr mit dem Kommentar: „An der Tankstelle.“ Und weiter: „Überall Schlangen.“
Auf weitere Nachfrage schreibt sie, dass sie in der Stadt bisher kein Militär gesehen hätte. Eine Stunde später ist noch keine weitere Nachricht gekommen.
Zwischenzeitlich telefoniere ich mit meinem Bruder, der gerade an unseren Großvater Eduard denken musste. Der hätte nämlich fast exakt auf den Tag genau vor 79 Jahren vor Charkow/Ukraine gelegen in Wehrmachtsuniform und dort als vorgeschobener Artillerist die Granaten in die belagerte Stadt gelenkt. Immer wieder wurde dabei die Meldetelefonleitung zerschnitten. Bei einer Reparatur schlug vor dem Fahrzeug eine Granate ein und explodierte darunter. Der Großvater wurde dabei am unteren Rücken verletzt.
Am frühen Morgen des 24. Februar 2022 meldeten ukrainische Nachrichtenagenturen starke Explosionen auch in Charkow. Ein Freund sendet erstes Filmmaterial von solchen Explosionen, die er von einer ukrainischen Webseite hätte, die Handy-Aufnahmen vom Konflikt veröffentlicht. Verifizieren lassen sich die kurzen Aufnahmen aber noch nicht.
Gestern hatte ich noch einen Film geteilt von einem professionell Klavier spielenden Wladimir Putin. Aber die Tonspur stellte sich später als gefälscht heraus. Sein Klavierspiel ist im Originalfilm doch recht kläglich. Aber wer bastelt solche Filme zusammen?
Fans von Putin? Ein deutscher Twitter-Account schrieb noch zur falschen Putin-Piano-Version: „Ich höre das Klavierspiel von Putin an und denke mir gerade, wie sehr die Tyrannen der westlichen Welt kein gutes Haar an diesem Mann lassen.“
Bedeutungslos bedeutungsschwanger
Über Nacht wurde in Berlin das Brandenburger Tor in den Farben der Ukraine angestrahlt. Ein Braunschweiger teilt das Bild per Twitter und schreibt „Eintracht“ darunter – Blau-Gelb sind auch die Farben seines Fußballvereins.
Und ich frage mich derweil, ob am Brandenburger Tor eine Friedenstaube auf blauem Grund nicht passender gewesen wäre – also, wenn überhaupt so ein Lichtzauber sein muss. Zwar greift Putin jetzt die Ukraine an, aber zweifellos haben auch russische Mütter Angst um ihre Söhne, so wie die ukrainischen Mütter auch.
Mein Großvater sprach perfekt russisch. Er liebte diese Sprache, meinen Bruder Gregor nannte er „Gregorowitsch“ und mich „Alexandrewitsch“. Im Krieg musste er gegen Russen kämpfen.
Ich bekomme im Laufe des frühen Vormittags eine ganze Reihe weiterer Filme zugeschickt. Angeblich ebenfalls aus der Ukraine und von russischen Angriffen. Ein Kinderfahrrad an einem kleinen Krater im Asphalt. Daneben lugt unter einer Decke ein kleiner Adidas-Turnschuh heraus. Blut unterhalb des Lenkers. Der Fuß mit dem Schuh seltsam verdreht. Sind die Aufnahmen authentisch? Wissen die Eltern bereits. dass ihr Kind tot ist? Wohl nicht, sonst hätten sie den kleinen Leichnam schon von der Straße geholt.
Meine Interviewpartnerin schickt weiter Nachrichten per WhatsApp.
„Wir sammeln unsere Sachen und fahren los“, das Tanken hat auch geklappt: „Ja, nur lange gewartet, über eine Stunde.“ Und noch eine weitere Nachricht: „Vor dem Geldautomaten auch Schlangen, aber Geld gibt es.“
Hilfloser Deutscher Bundeskanzler
Währenddessen kann man überall in den sozialen Medien von Facebook bis Twitter neue verbale Fronten erleben. Nein, die Gräben aus der Corona-Debatte sind nicht die Gleichen. Die sich gegenüberliegenden eingefahrenen Haltungen verlaufen nicht mehr deckungsgleich: Nein, man kann nicht mit zwei verschiedenen Formen denselben Keks ausstechen.
Der deutsche Bundeskanzler Scholz erklärt am Morgen: „Die ist ein furchtbarer Tag für die Ukraine und ein dunkler Tag für Europa.“
Ich erinnere mich einen Moment lang sogar an diesen gravierenden Zeitpunkt, als die Familie am 11. September 2001 vor dem Fernseher saß, die Kinder noch ganz klein waren, und mit dem zweiten Flugzeug, das in den zweiten Turm des World Trade Centers einschlug, klar wurde, dass es sich hier um Terror oder gar Krieg handeln musste. Eine schmerzhafte Ungewissheit machte sich damals breit, was denn nun werden würde aus der Welt. Wird man seine Kinder noch schützen können?
Zum Ende des zweiten Weltkrieges wurde meine damals neunjährige Mutter mit ihrer Schwester, dem Bruder und ihrer Mutter auf der Flucht in der Tschechoslowakei in ein Lager gesperrt. Tägliche Prügel und Scheinerschießungen waren an der Tagesordnung. Die Schwester konnte das Wasser nicht mehr halten. Ganze Familien wählten den Freitod, Tote mussten aus ihren Schlingen gehoben werden.
Der Sohn kommt mit seinem Handy und zeigt weitere Filme, die aus der Ukraine stammen sollen. Eine Bildbeschreibung erzählt von eintausend toten ukrainischen Soldaten schon wenige Stunden nach den Angriffen.
Was passiert mit den russischstämmigen Ukrainern bzw. den Russen in der Ukraine?
Deutschland mag ja militärisch ein Federgewicht geworden sein, aber die Welt besitzt nach wie vor sein gigantisches Vernichtungspotenzial. Ein Weltkrieg zwischen Nato und Russland wäre das Ende. Und schon wird eine wie auch immer geartete Klima-Apokalypse zur Randnotiz, aber die Apokalypse scheint dennoch auf einmal so nah wie nie.
Hilflose Deutsche Außenministerin
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock twittert:
„Mit dem Angriff auf die #Ukraine bricht #Russland mit den elementarsten Regeln der internationalen Ordnung. Die Weltgemeinschaft wird Russland diesen Tag der Schande nicht vergessen. Wir werden gemeinsam mit unseren Partnern reagieren. Unsere ganze Solidarität gilt der Ukraine.“
Tatsächlich „Tag der Schande“ und „nicht vergessen“? Krieg ist immer das größte aller Übel. Söhne sterben auf beiden Seiten. Der bedingungslose Pazifismus der frühen Grünen ist hier längst verschwunden, die Generation der Kriegsdienstverweigerer geht in Rente. Olaf Scholz und seine Außenministerin haben in Russland nichts erreicht, versagt auf ganzer Linie.
Wie unsagbar klingt am heutigen Tag des Angriffs auf die Ukraine die Schlagzeile der Tagesschau zum Moskau-Besuch des deutschen Bundeskanzlers: „Scholz in Moskau: Letzte Chance für den Frieden?“
PS: Solange es technisch möglich ist, bleibe ich in Kontakt mit der ukrainischen Familie, die sich von Poltava aus Richtung West-Ukraine aufgemacht hat. Neuigkeiten werden hier ergänzt, oder in einem separaten Artikel zusammengefasst.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine.
Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann), schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“
Bild: Shutterstock
Text: wal
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