Ein Gastbeitrag von Iris Zukowski
Gewalterfahrungen und sexueller Missbrauch in der frühen Kindheit wirken sich lebenslang auf die Betroffenen aus. Die hochemotionalen Ohnmachtsgefühle und verdrängten Ereignisse werden im Verlauf des Lebens meist durch Neurosen kompensiert und können sich in Identitätsstörungen mit einer gestörten Selbstwahrnehmung ausdrücken.
Einmalige traumatische Ereignisse, wie Unfälle oder Verlusterfahrungen, führen zu weitaus weniger komplexen Identitäts- und Entwicklungsstörungen als chronische Traumatisierungen. In beiden Fällen erscheinen Kinder schreckhaft, zurückhaltend oder aggressiv und zeigen psychosomatische Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen, Schlaf- oder Durchschlafstörungen. Die psycho-vegetativ erhöhte Erregbarkeit geht oft mit Impulsivität einher und wird leicht mit Symptomen einer Hyperaktivitätsstörung verwechselt.
Chronisch traumatische Ereignisse haben tiefgreifende Folgen für die Selbstwahrnehmung – die eigene Körperwahrnehmung und die Identitätsfindung. Sie lösen ein breites Spektrum psychischer Erkrankungen aus wie Depression, Angststörungen, dissoziative Störungen, somatische Störungen oder Borderline-Störungen. Auch eine Psychopathologisierung kann durch chronische traumatische Erfahrungen ausgelöst werden und zu einer lebenslangen antisozialen Persönlichkeitsstörung werden. Die Betroffenen verleugnen oder verharmlosen das frühkindliche Trauma und spalten es innerlich ab.
Frühkindliche sexuelle Traumatisierungen werden je nach Persönlichkeitstypus und Ereignisdichte sehr unterschiedlich „bewältigt“ oder verdrängt. Der eher introvertierte Persönlichkeitstypus erfährt die Tat vor allem als Bestätigung seines mangelnden Wertes. Das verankerte „Wertlos“-Selbstbild wird als solches erfahren und auch gelebt. Dieser Typus kann als Erwachsener entweder unsicher oder sexuell befangen sein oder im Gegenpol die traumatischen Erfahrungen in der Pornoindustrie oder in der Prostitution exemplarisch wiederholen, was zur (unbewussten) Bewältigungsstrategie des Traumas wird. Das (ehemalige) Opfer übernimmt die Regie über die traumatische Situation und bestimmt, ob es zur Verfügung steht und was es dafür bekommt.
Eine extrovertierte starke (kindliche) Persönlichkeit sieht die Ursache, dass die Tat geschehen konnte, vor allem in seiner Schwäche. Entwertung und Schmerz werden durch Hass oder offen ausgelebte Aggressionen kompensiert. Das Kind entscheidet sich, niemals wieder ohnmächtig sein zu wollen. Es entkoppelt seine Gefühle, um die Erniedrigung weder im Außen zu offenbaren, noch sie sich selbst eingestehen zu müssen. Dadurch kann es auch eine gewisse Macht über den Täter entwickeln und erkennt, wie es den Täter (und andere) manipulieren kann. Als Kompensat der erlebten Ohnmacht wechselt der psychopathologisierte Opfertyp später selbst in eine Täterrolle, insbesondere bei einer Idealisierung des Täters – was geschehen kann, wenn dieser im direkten Umfeld des Kindes lebt und nicht nur negativ erlebt wird, sondern das Opfer auch hervorhebt oder beschenkt.
Betroffene, die nicht verdrängen, sondern im Verlauf ihres Lebens nach Antworten und Lösungen suchen, bezeichnen sich selbst häufig als „Survivor“. Dieser Typus stellt sich der Herausforderung, das Trauma mit therapeutischer Hilfe innerlich zu bewältigen, die Traumatisierungen aufzudecken und die emotionale Ladung beispielsweise imaginativ und damit neuronal aufzulösen. So kann das Erlebte psychisch integriert werden, ohne ständig (unbewusst) auf die Gegenwart einzuwirken. Der Survivor hat zwar Schlimmes erlebt, kann aber dennoch ein recht normales Leben mit einem Partner oder einer eigenen Familie führen.
Im Zentrum des Traumageschehens stehen die Überwältigung und der Zusammenbruch des Ichs des Kindes – dem sich langsam entwickelnden Anteil der Persönlichkeit, der das Seelenleben und die Psyche des Heranwachsenden organisiert (Hartmann 1965). Die Negierung des kindlichen Ichs durch den missbräuchlichen Täter hat gravierende Auswirkungen auf die Bildung des Selbstbildes. Es können sehr diffuse Gefühle über den eigenen Körper entstehen, die sich der Integration ins Ich entziehen (vgl. Cohen, J. [1980] Structural Consequences of Psychic Trauma: A New Look at ‚Beyond the Pleasure Principle‘. International Journal of Psychoanalysis 61, 421–432).
Die Objektbeziehungstheorien betrachten die mangelnde Integration „böser“ und „guter“ Selbst- und Objektbilder sowie die narzisstische Abhängigkeit des Traumatisierten vom Misshandler, die sich im späteren Lebensverlauf exemplarisch wiederholen kann. Jede chronische frühkindliche Traumatisierung führt zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen im Selbst- und Selbstwertgefühl sowie in den Objektbeziehungen. Das Kind „muss, um sich selbst als Objekt lieben zu können, gewissermaßen einen Umweg über das idealisierte Objekt als Stütze seines Ich-Ideals machen“ (Grunberger [1971] Vom Narzißmus zum Objekt, S. 250, Suhrkamp), sowie die narzisstische Abhängigkeit des Traumatisierten vom Misshandler auf sich nehmen:
„Das misshandelte Kind vermag sich durch die früh einsetzende Aufspaltung in Wunsch- und Realobjekt (…) gegen die beängstigende Wirklichkeit zu sichern und schützt sich zugleich durch die Etablierung des Größen-Selbst vor der Bewahrung seiner Ausgeliefertheit“ (Windaus [1987] Zur Psychoanalyse der Kindesmisshandlung, Psyche 41, S. 347). Die Unterwerfung unter ein selbst erschaffenes Ich-Ideal – was durch die Wahl eines bestimmten Pronomens ausgedrückt werden kann – begleitet von der Aufspaltung in fantasierte gute und böse Objektvorstellungen, die auf unsere Gesellschaft projiziert werden können – sind mögliche Folgen frühkindlicher sexueller Traumatisierungen.
Ein therapeutisches Fallbeispiel:
„Er konnte nicht sehen, dass sich seine Bedürfnisse von denen der anderen unterscheiden. Einerseits hatte er das Gefühl, andere mussten grenzenlos für ihn da sein, andererseits meinte er, er müsse sich grenzenlos an andere anpassen. Das Wohlwollen (Akzeptanz) anderer zu erhalten, erschien ihm wichtiger, als auf seine eigenen Affekte zu achten. Im Verlauf der weiteren Behandlung spaltete der Patient zunehmend zwischen den idealisierten, „nur guten“ unbekannten Mitmenschen und den versagenden „nur bösen“ (…); die Spiegelung seiner Wirkung auf andere Menschen löste in ihm starke Wut aus (…) bis dass der Patient den Einzeltherapeuten bedrängte, dieser solle ihn anal penetrieren und ihn dabei ständig mit dem Kopf auf den Boden schlagen. Somit kam es zu einer Reinszenierung sowohl des somatischen Makrotraumas, als auch der traumatischen Objektbeziehungskonfiguration.“ (Therapeutischer Umgang mit primitiver Übertragungskonstellation bei der Behandlung eines schwerst gestörten Patienten, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht, Beck 1986, S. 43 f.)
Früh sexualisierte und missbrauchte Kinder erleben die Abspaltung und Fragmentierung ihres Ichs in der chronischen Traumatisierung als Teil ihrer „normalen Entwicklung“. Durch die traumatisch gestörte Identitätsbildung können sich Persönlichkeitsstörungen ausbilden:
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist häufig begleitet von selbstschädigendem Verhalten, Gefühlen von innerer Leere und Dissoziationserlebnissen. Typisch sind instabile, aber sehr intensive zwischenmenschliche Beziehungen mit raschen Stimmungswechseln und schwankendem Selbstbild aufgrund der gestörten Selbstwahrnehmung.
Persönlichkeitsstörung als Folge eines Traumas
Die multiple Persönlichkeitsstörung ist eine dissoziative Identitäts-Störung (MPS): Als Ursache werden Abweichungen von der typischen Gehirnentwicklung aufgrund von extremen traumatischen Erlebnissen in der frühen Kindheit vermutet. Funktionelle und anatomische Veränderungen des Gehirns sind bei Betroffenen im Erwachsenenalter nachgewiesen worden. Es können zwei oder mehrere unterschiedliche Persönlichkeiten innerhalb des Betroffenen abwechselnd aktiv sein.
Die narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) kann ebenfalls durch Traumatisierungen in der Kindheit ausgelöst werden. Kennzeichnend sind ein Mangel an Empathie, die Überschätzung der eigenen Bedeutung und Fähigkeiten, ein gesteigertes Verlangen nach Anerkennung und Beachtung.
Narzissten wollen anderen imponieren und im Mittelpunkt stehen, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Selbst zeigen sie kaum zwischenmenschliches Einfühlungsvermögen und geben anderen auch keine emotionale Wärme. Menschen mit NPS neigen dazu, die Personen in ihrem unmittelbaren Umfeld emotional zu missbrauchen, besonders Sexualpartner und Kinder, um ihren Selbstwert auf Kosten anderer zu erhöhen. Narzissmus kann sich sehr unterschiedlich ausdrücken – in selbstverliebter Grandiosität, Opfer-Narzissmus oder in chronisch schwelender Wut, die bei der kleinsten Kritik (als subjektiv empfundene Kränkung) explodieren kann. In Amerika wird der Anteil von Narzissten an der Gesamtbevölkerung mittlerweile auf 16 Prozent geschätzt. (C. Malkin)
In der woken Neudefinition unseres Menschseins – das die sexuelle Orientierung ins Zentrum stellt und sie so zur Pseudo-Basis der Identitätsbildung macht – ist das Konstrukt Geschlechtervielfalt ein Hauptanliegen. Wenn eine Ideologie Facetten der Sexualität, die bislang ein privates Geschehen waren, ins Zentrum der Identitätsbildung stellt, wirft das aus psychologischer Sicht Fragen auf: Könnten eine (unbewusste) Pseudo-Traumabewältigungsstrategie im Außen – und als solche nicht erkannte Identitätsstörungen – eine Bewegung gebären, die unsere Gesellschaft und den normalen Menschen indirekt als „böse“ und falsch definieren, um sich selbst als „gut“ und richtig wahrnehmen zu können?
„Immer wieder zeigen sich in psychoanalytisch-sozialpsychologischen Texten psychologistische Verkürzungen, gar Naturalisierungen und Biologisierungen gesellschaftlicher Verhältnisse und Phänomene, die deren überindividuelle Eigendynamiken nicht erkennen. Auf der anderen Seite finden sich aber auch soziologistische oder ›kulturistische‹ Reduktionen, welche die Widersprüche in den Subjekten ausblenden, oder ›idealistische‹ Perspektiven, die das Naturmoment im Menschen ignorieren.“ (Freie Assoziation, Zeitschrift für das Unbewusste in Organisation und Kultur, 2012)
Um diesen Diskurs mit einem Zitat von Nelson Mandela abzurunden: „Bildung ist die wichtigste Waffe, die du verwenden kannst, um die Welt zu verändern.“ Wir sollten uns die Frage stellen: Wer will diese Welt wie und warum verändern, wenn woke Bücher, die mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet sind, Einzug in unsere Schulen halten können?
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Iris Zukowski – Diplom-Psychologin, Hypnotherapeutin und Sachbuchautorin: „Was uns heute unterhält, kann uns morgen töten.“ Ruhland Verlag 2017. Sie war einige Jahre Dozentin für Neuromarketing und ist seit 2018 SOS-Initiatorin zur Aufklärung über die weitreichenden Effekte von frei verfügbarer Pornografie.