Die Leichen von Butscha hätten sich bewegt, schrieb mir heute ein Freund. Er habe sich ein entsprechendes Video lange angeschaut, und da sei klar zu erkennen, wie einmal eine angebliche Leiche die Hand hebe, und dann eine andere im Rückspiegel aufstehe. Entsprechende Behauptungen machen heute in den sozialen Medien breit die Runde, und auch einige Portale griffen sie auf.
Ich bin nicht in Butscha gewesen und ich habe die Wahrheit nicht für mich gepachtet. Dennoch habe ich versucht, mich schlau zu machen – da ich in der Vergangenheit bereits selbst auf Verzerrungen in stark komprimierten Videos hereingefallen bin. Hier eine Kurz-Analyse dessen, was auf die Schnelle ausfindig zu machen war – und was eigentlich jeder an Recherchearbeit erledigen kann.
Tatsächlich bewegt sich beim ersten Hinsehen, vor allem in Zeitlupe, etwas bei einer Leiche, die aus einem fahrenden Auto am Straßenrand gefolgt wird. Doch dieser erste Eindruck, der gerade so stark verbreitet wird, ist falsch. Wie es dazu kommt, zeigt diese Super-Zeitlupe des betreffenden Videos – durch einen Regentropfen auf der Windschutzscheibe und die Verzerrung in der Komprimierung:
And here a slowed down and zoomed version. If you see an arm moving here, go see a doctor and i don't mean the one checking your eyes!pic.twitter.com/RgTqi6oRKi
— marqs (@MarQs__) April 3, 2022
Auch die angebliche „aufstehende“ Leiche im Auto-Außenspiegel steht nicht auf: Auto-Außenspiegel sind gekrümmt, das Blickfeld wird vergrößert, dazu kommt im vorliegenden Fall ein Kameraschwenk. Gibt man die Szene extrem langsam wieder, ist das zu erkennen.
Ein weiteres Argument, das im Netz verbreitet wird, ist der Zeitunterschied zwischen dem Abzug der russischen Truppen und dem Entdecken der Leichen. Der Bürgermeister von Buschta habe nach der Befreiung kein Wort verloren über Leichen auf den Straßen, so ein oft gelesener Hinweis. Wer so argumentiert, tut das aber unredlich, wenn er einen anderen wesentlichen Aspekt weglässt: Aus Angst, dass die Straßen in der Kleinstadt vermint wurden von den abziehenden russischen Truppen, war der Zugang zunächst gesperrt (nachzulesen auf Russisch hier, etwa mit deepl-Übersetzer). Minensucheinheiten sind in der Ukraine zudem in diesen Tagen im Hinterland der Front wohl eher gering gesät. Zudem hat eine Kleinstadt mehr als eine Straße – was man auch leicht auf Google Maps nachprüfen kann. Die Leichen wurden in Außenbezirken gefunden, nicht im Zentrum. Der vermeintliche Widerspruch scheint sich somit in Luft aufzulösen.
Zara Riffler, Autorin von Tichys Einblick, verweist zudem auf eine Analyse von Satellitenbildern. Die zeigt, dass die Leichen schon vor dem Abzug der russischen Truppen auf der Straße lagen.
Eine Analyse von Satellitenbildern der New York Times widerlegt Behauptungen Russlands, dass die Tötung von Zivilisten in #Bucha stattfand, nachdem russische Soldaten die Stadt verlassen hatten. https://t.co/YP1maIzmyG
— Zara Riffler (@ZaraRiffler) April 4, 2022
Moskaus Verteidiger behaupten, die Leichen gingen auf das Konto ukrainischer Verbände, die Butscha befreiten. Im Internet kursiert ein Video von einem Kommandeur des rechtsextremen Asow-Regiments, der sagt, man könne auf Zivilisten ohne blaue Armbinden schießen. Wo genau es aufgenommen wurde, wann und vor allem unter welchen Umständen ist allerdings unklar. Ebenso wie die Authentizität des Videos. Damit geht seine Aussagekraft gegen null.
Lat night, Sergey "Boatsman" Korotkikh, infamous Neo-Nazi & member of Azov, posted a video titled "The BOATSMAN BOYS in Bucha". At the 6 second mark you can clearly hear the dialogue:
"There are guys without blue armbands, can I shoot them?"
"Fuck yeah" pic.twitter.com/n8WY1D0xRe— Russians With Attitude (@RWApodcast) April 3, 2022
Dass Verteidigungstruppen im eigenen Land Zivilisten abmelden, klingt, gelinde gesagt, etwas bizarr. Zudem gibt es diverse Berichte von Augenzeugen über die Grausamkeit der russischen Truppen (auch hier auf meiner Seite). Nach aktuellen Berichten beweist auch der Verwesungszustand der Leichen, dass sie bereits länger auf den Straßen bzw. in Massengräbern lagen.
Unabhängige internationale Ermittler, die nach Angaben der ukrainischen Behörden vor Ort kommen sollen, können sicher bald ein detailliertes Bild zeichnen. Auch wenn unsere Medien leider wirklich sehr viel lügen – nicht alles ist nur deshalb automatisch Fake, weil es dort steht.
Interessant ist, wie sich die Öffentlich-Rechtlichen auch in Sachen Butscha blamierten. Monitor-Chef Georg Restle etwa behauptete vor einem Millionenpublikum in der ARD, die Ukrainer würden keine Journalisten in die Kleinstadt lassen und man könne sich deshalb kein eigenes Bild machen. Gleichzeitig waren aber diverse Journalisten in der Stadt und berichteten übereinstimmend von den Bildern des Grauens. Dort war auch Katrin Eigendorf vom ZDF, die ich persönlich gut kenne und deren Angaben ich vollen Glauben schenke (ja, es gibt bei den Öffentlich-Rechtlichen auch sehr redliche und solide arbeitende Kollegen).
Ich habe selbst die russischen Truppen in Kampfeinsätzen erlebt, etwa in Tschetschenien, und komme nicht umhin zu konstatieren, dass Grausamkeit und Brutalität im Umgang mit Zivilisten ihnen nicht fremd ist. Schlimmer noch: Er zieht sich wie eine Handschrift durch ihre Einsätze. Das beschreibt auch der Historiker und Gewaltforscher Jan Claas Behrends im Interview mit dem Schweizer SRF: „Diese Armee tritt nicht nur nach aussen sehr gewalttätig auf, sondern ist auch gegen ihre Wehrpflichtigen sehr gewalttätig. So kann solche Gewalt möglich werden. Zudem machten die Truppen die Erfahrung, dass Gewalttäter in den eigenen Reihen durch russische Gerichte nicht bestraft werden. Das geschah weder in Afghanistan, noch in Tschetschenien. Insofern gibt es ein historisches Muster. Ein historisches Muster ist auch die Tendenz, eigene Gräueltaten dem Gegner zu unterstellen wie das Massaker an polnischen Offizieren von Katyn im Zweiten Weltkrieg oder als Inszenierung abzutun. Diese Methode ist nicht neu und nicht auf Russland beschränkt: Sie nutzten schon die Nazis.
„Russland wäre allerdings nicht Russland, würde man nicht jede Verantwortung für bereits dokumentierte Kriegsverbrechen abstreiten, ohne gleichzeitig neue anzudrohen“, schreibt die „Welt„: „In einem Autorenstück auf der Website der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti wird unverblümt die Vernichtung der ukrainischen Eliten und die ‚Denazifizierung‘ der breiten Masse der Bevölkerung gefordert.“ Fazit der Zeitung: „Einerseits will der Kreml die Bevölkerung auf neue Enthüllungen russischer Kriegsverbrechen vorbereiten – um die Verantwortung dafür sofort zu leugnen. Andererseits verfolgt die zunehmende mediale Entmenschlichung von Ukrainern das Ziel, russische Kriegsverbrechen zu relativieren und für alternativlos zu erklären.“
Gelogen wird im Krieg tatsächlich meistens von beiden Seiten. Das Maß der Dreistigkeit der Lügen unterscheidet sich aber. 2014 sagte Putin, die „Soldaten ohne Hoheitsabzeichen“ auf der Krim seien keine russischen Militärs – nur um Wochen später das Gegenteil zuzugeben. Nach dem Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 über der Ostukraine 2014 verbreiteten Moskauer Propagandisten, es sei ein Geisterflugzeug gewesen, in das die CIA Leichen geladen habe. Moskau sagt, es gebe keine ukrainische Sprache und kein ukrainisches Volk, wirft den Ukrainern aber gleichzeitig vor, ihre Sprache anderen aufzudrängen und nationalistisch zu sein. Außenminister Lawrow sagte jetzt, Russland führe keinen Krieg in der Ukraine. In Sachen Butscha verwickeln sich die Propagandisten und ihre Helfer in die typischen Widersprüche: Sie behaupten einerseits, die Leichenszenen seien inszeniert und es habe sich um Schauspieler gehandelt, und parallel, die gleichen Leichen seien Opfer ukrainischer Verbände. Was denn nun?
Galgenhumor
Die Behauptung Moskaus und seiner Unterstützer, die Leichen von Butscha seien inszeniert, wird in einem kurzen russischsprachigen Text mit dem für Russland ebenso wie für die Ukraine typischen Galgenhumor aufgespießt. Ich habe ihn für Sie übersetzt und zusammengefasst: „Seit dem 24.2. sind die ukrainischen Faschisten völlig durchgedreht. Vergewaltigen und töten die eigenen Frauen und Kinder, zerstören ihre eigenen Städte, nur um den edlen Putin zu diskreditieren. Wie blöd muss man sein, um diese irre Kreml-Propaganda zu glauben?“
Vielleicht hat es weniger mit Blödheit zu tun als mit Verdrängung – weil nicht wahr sein kann, was nicht wahr sein darf. Ebenso wie bei Corona wäre das Eingeständnis, sich getäuscht zu haben oder getäuscht worden zu sein, zu schmerzhaft. Deshalb ist der Drang, die Realität den eigenen Überzeugungen anzupassen, groß. Besonders dramatisch ist, dass auch Menschen, die in Sachen Corona die Propaganda in den deutschen Medien durchschaut haben, nun der Propaganda der russischen Medien auf den Leim gehen.
Doch ist es eine zwar laute, aber kleine Minderheit. Eine größere Zahl hat aus verständlichen Gründen den Glauben an die Politik und Medien insgesamt verloren und fühlt sich auch in Sachen Ukraine-Krieg ratlos – was ich gut nachvollziehen kann. Und was vielleicht auch mir so ginge, würde ich nicht das System Putin aus nächster Nähe kennen. Und hätte ich nicht selbst erlebt, dass die Verzerrung der Realität und Propaganda dort Ausmaße hat, die selbst die bei uns schon erschreckenden Auswüchse geradezu potenziert und die man sich als im Westen sozialisierter Mensch nicht ausmalen kann.
PS: Die oben beschriebenen Mechanismen erklärt meine russische Kollegin Ekaterina Quehl auf meiner Seite:
PPS: Aus meiner Zeit in Russland und den Recherchen für mein Buch „Putins verdeckter Krieg“ weiß ich, wie aktiv der Kreml auf Trolle setzt, im Internet wie in aktiven Medien. Auch in Deutschland. Dass dieses Thema von den großen deutschen Medien und der Politik völlig totgeschwiegen wird, wundert mich sehr. Sei weit ich davon entfernt bin, jeden kritischen Kommentator als Troll zu sehen – Gott bewahre – so offensichtlich ist, dass hier auch gewisse Netzwerke vorhanden sind, mit massenhaften Kommentaren wie auf Knopfdruck zu beliebiger Uhrzeit und teilweise identischen Besonderheiten in Rechtschreibung und Grammatik.
Bild: Max Trebukhov, LB.ua
Text: br
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