Angela Merkel fordert einen neuen, harten Lockdown. Sie stützt sich dabei auf ein Papier der Akademie der Wissenschaften Leopoldina, für die auch ihr Mann tätig ist, und das heftig kritisiert wird (siehe hier). „Diese Stellungnahme verletzt die Prinzipien wissenschaftlicher und ethischer Redlichkeit“ – so die vernichtende Kritik eines Leopoldina-Wissenschaftlers an dem Papier aus dem eigenen Haus, das nur viereinhalb Seiten Inhalt umfasst und das Schicksal von 83 Millionen Menschen in Deutschland bestimmen könnte, wenn es nach der Kanzlerin geht (siehe hier).
Was nicht vorkommt in diesem Papier und was auch die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten vergessen zu haben scheinen, wie auch die Presse: Offizielle Vertreter der Weltgesundheitsorganisation WHO warnen vor genau solch einem Lockdown. So etwa Dr. David Nabarro in einem Interview mit Spectator TV. Nabarro ist Arzt und einer von sechs Sonderberichterstattern der WHO, die anlässlich der SARS-CoV-2-Pandemie ernannt wurden. Nabarro sagt in dem Gespräch: „Wir müssen lernen, einen Weg zu finden, mit diesem Virus zu koexistieren, und zwar einen, der nicht in großem Maß mit Leiden und Tod verbunden ist. Das heißt, wir brauchen einen Mittelweg: Das Virus in Schach halten und gleichzeitig die Wirtschaft und das soziale Leben am Laufen zu halten. Wir denken, das ist machbar.“
Weiter führte der Arzt aus: „Wir bei der Weltgesundheitsorganisation befürworten Lockdowns nicht als Hauptmittel, um das Virus zu kontrollieren. In unseren Augen sind Lockdowns nur dafür gerechtfertigt, um Zeit zu gewinnen. Und zwar Zeit, um umzuorganisieren, um sich neu aufzustellen, um die eigenen Ressourcen neu auszutarieren, und um medizinisches Personal zu schützen, das erschöpft ist. Aber im Großen und Ganzen raten wir von Lockdowns ab.“
Ich habe am 28. Oktober auf der Bundespressekonferenz Merkels Sprecherin Martina Fietz, mit der ich früher gemeinsam beim Focus gearbeitet habe, das Zitat des WHO-Mannes vorgetragen und gefragt, wie die Bundesregierung zu diesen Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation steht. Und vor allem, ob diese vier Punkte, die Nabarro aufzählte, in Deutschland zutreffen. Fietz sagte, sie kenne die Aussage im Einzelnen nicht. Sie führte aus: „Wir sind in keiner Situation, in der unser Gesundheitswesen schlecht aufgestellt wäre. Im Gegenteil!“ Jeder könne angemessen behandelt werden. Es sei wichtig, dies auch bei steigenden Corona-Zahlen zu gewährleisten. Alle Wissenschaftler seien sich einig, dass zur Eindämmung der Neuinfektionen eine Reduzierung der persönlichen Kontakte notwendig sei. Ich fragte nochmals nach, ob ich ihre Aussage dahingehend werten kann, dass keiner der vier Punkte, die laut WHO für einen Lockdown sprechen, in Deutschland erfüllt sei. Fietz antwortete erneut ausweichend: „Ich möchte jetzt nicht auf diese Äußerung eingehen, weil ich sie nicht genau kenne. Ich habe Ihnen dazu gesagt, was ich dazu sagen kann“ (Anzusehen ist die Szene hier.).
Das ist bemerkenswert. Hier taucht zwangsläufig die Frage auf: Wollen Bundesregierung und Landesregierungen gegen eine Empfehlung der WHO handeln? Oder verschweigen sie uns, dass doch einer der Punkte, welche die WHO als Legitimation für einen Lockdown sieht, in Deutschland zutreffen? Wäre dies der Fall – und ein Lockdown nötig, um Zeit zu gewinnen, „um umzuorganisieren, um sich neu aufzustellen, um die eigenen Ressourcen neu auszutarieren, und um medizinisches Personal zu schützen, das erschöpft ist“, würde dies die Frage nach einem möglichen Regierungsversagen aufwerfen: Denn warum wurde all dies nicht in den vergleichsweise ruhigen Sommermonaten getan?
Warum greifen die Medien nicht die Empfehlung der WHO auf und konfrontieren unsere Regierungen damit?
Unter anderem warnt Nabarro auch vor einem starken Anstieg der Armut in Folge der Anti-Virus-Maßnahmen. Weltweit könne die Armut rasant zunehmen, so der Mediziner. Insbesondere die Unterernährung von Kindern werde sich verdoppeln wegen ausfallender Schulmahlzeiten: „Das ist eine schreckliche weltweite Katastrophe. Deshalb appellieren wir an alle Regierungschefs: Hört auf damit, Lockdowns als Hauptmittel einzusetzen, um das Virus zu kontrollieren. Entwickelt ein besseres System, um dies zu tun. Arbeitet zusammen und lernt voneinander”. Weiter sagt der Mediziner: „Denken Sie daran, Lockdowns haben vor allem eine Folge, die man nie unterschätzen darf: Sie machen die Armen noch ärmer!“
Faszinierend, dass dies in unserer Politik und unseren Medien, für die Armut sonst regelmäßig ein zentrales Thema ist, heute eher eine untergeordnete Rolle spielt. Corona hat die politischen Maßstäbe neu gesetzt. Je hilfloser, ja chaotischer das Handeln der Regierung wirkt, umso mehr scheint ein striktes Einhalten ihrer Linie heute über allem zu stehen.
Bild: Stuart Miles/Shutterstock
Text: red