Von reitschuster.de
Österreich startet am heutigen Montag einen der größten Feldversuche des Landes in der Frage, wie weit man gehen kann, wieder eine bestimmte Gruppe von Bürgern aus dem öffentlichen Leben auszuschließen. Ab dem 15. November 2021 gilt ein Lockdown für Ungeimpfte.
Und die Regierung hat gleich angekündigt, sie denke über weitere Verschärfungen nach. Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) teilte mit, dass es in einer Videokonferenz eine entsprechende Vereinbarung zwischen Spitzenvertretern der Regierung in Wien und den einzelnen Bundesländern gegeben hätte.
Ist damit die Büchse der Pandora geöffnet worden? Am Mittwoch soll entschieden werden, noch zusätzlich für alle Bürger nächtliche Ausgangssperren zu verhängen. Die Geimpften sollen dann schon wissen, wem sie das zu verdanken haben.
Bei der Frage, wann es hierzulande oder bei unseren österreichischen Nachbarn wohl zuletzt so eine Ausgangssperre gegeben haben könnte, sind wir bei unserer Recherche für den Moment im Tannheimer Tal in Tirol hängengeblieben. Ein wunderschöner Flecken Erde, die Orte heißen hier Nesselwänge, Grän oder Schattwald.
Dort nämlich lebt ein neunzigjähriger Historiker, der für eine kleine Zeitung sein Erinnerungsschatzkästchen geöffnet und erzählt hat, dass die Bevölkerung gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, 1945 und 1946, schon einmal unter einer „zwangsweise eingeschränkten Bewegungsfreiheit“ zu leiden hatte.
Er empfand es aber zu der Zeit als Teenager als nicht so schlimm: „Das hat vor allem damit zu tun, dass die Menschen damals allgemein weniger mobil waren.“ Und die harte Arbeit hätte die Ausgangssperre sozusagen von selbst erledigt: „Man hat abends die Haustür zugesperrt und das Licht gelöscht und das war’s dann auch“, schildert er lakonisch die Verhältnisse.
Aber was bedeutet das heute, 75 Jahre später, für ganz Österreich, wenn mit den Ungeimpften eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen nicht mehr vor die Tür darf?
Und so, wie es der Alte erinnert, waren 1945/46 alle Menschen gleichsam betroffen. Als Historiker vermied er den Vergleich mit den ab 1938 unter Ausgangsverbote gestellten österreichischen Juden.
Als Ende 2020 noch nicht absehbar war, dass es in Österreich wieder Ausgangsverbote gegen eine ganz bestimmte Gruppe geben könnte, schäumten die großen Gazetten des Landes. Der Standard titelte aufgeregt: „Corona-Leugner vergleichen Lockdown mit Ausgangsverbot für Juden 1938.“ Querdenker würden sich oftmals mit Opfern im Dritten Reich vergleichen, hieß es da.
Ein knappes Jahr später titelte der Standard dann: „Lockdown für Ungeimpfte – was heißt das, und wie geht es weiter?“ Der Artikel will verunsicherten Lesern Fragen beantworten:
Frage: Was genau gilt für Menschen, die nicht vollständig geimpft oder aber genesen sind – und daher keinen 2G-Nachweis erbringen können?
Antwort: Sie unterliegen Ausgangsbeschränkungen, dürfen also ihren unmittelbaren Wohnbereich nur für wenige, eingeschränkte Zwecke verlassen: um sich impfen zu lassen, zur „Befriedigung religiöser Grundbedürfnisse“, um den Friedhof zu besuchen, um Gefahr für Leib und Leben abzuwenden, arbeiten, zur Schule, zur Uni, zum Arzt, spazieren oder zu einem Gerichtstermin zu gehen.
Erstaunlich ist hier zunächst, in welcher Seelenruhe die Zeitung Zustände beschreibt, welche sie ein Jahr zuvor wohl noch für apokalyptische Querdenkerfantasien gehalten und sich deshalb Vergleiche mit 1938 verboten hatte.
Ist dieser verächtliche Zynismus eigentlich ein Versehen oder eiskalt Absicht: Ungeimpfte dürfen ihre Wohnung nur verlassen, „um sich impfen zu lassen“? Das muss man erst einmal hinbekommen und da will man ganz schnell drüber hinweggehen, damit man diese Zeilen nicht mit Zeilen von bestimmten historischen Gazetten vergleichen kann.
Gibt es Ausnahmen, fragt der Standard weiter. Und liefert folgende Antwort:
Ja, für Kinder unter zwölf Jahren und Menschen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können, gelten diese Ausgangsbeschränkungen nicht.
Da muss dann also der elfjährige Junge Besorgungen machen, weil seine ungeimpften Eltern das Haus nicht verlassen dürfen? Eine traurige Vorstellung für viele. Und wem hierzu keine Analogien einfallen, der kann historisch nicht besonders gut bewandert sein, der gehört möglicherweise sogar zu jener Klientel, die nichts dabei findet, Impf- und Corona-Maßnahmenkritiker als Nazis zu beschimpfen.
Aber nochmal zu den konkreten Maßnahmen in Österreich: der Grüne Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein hatte betont, dass vor allem die Ungeimpften am erneuten Lockdown schuld seien.
Der jetzt beschlossene Teil-Lockdown gilt vorerst bis zum 24. November, was ihm den Charakter eines Versuchsballons gibt: Betroffen sind in Österreich rund zwei Millionen der neun Millionen Bürger. Diese zwei Millionen dürfen das Haus nicht verlassen. Oder wenn, dann nur aus bestimmten Gründen.
Rainer Will, der Geschäftsführer des Handelsverbands, beziffert für Welt gleich einmal, was dieser eingeschränkte Lockdown für den österreichischen Handel bedeuten könnte: Umsatzeinbruch von bis 350 Millionen Euro wöchentlich seien zu befürchten, wenn die Ungeimpften nicht wie gewohnt einkaufen.
Die Welt schrieb dazu: „Der Schritt soll die Bereitschaft zu einer Impfung weiter erhöhen.“ Aber worum geht es hier? Um aktive Gefahrenabwehr, um eine Impfkampagne mit allen Mitteln oder gar um zwei Fliegen mit einer Klappe oder um etwas vollkommen Anderes?
Die Impfquote in Österreich liegt aktuell etwas unter der deutschen bei 65 Prozent.
Der Bundeskanzler des Nachbarlandes betont ganz selbstbewusst, dass die neuen Maßnahmen nur die „Unterkante“ seien, die einzelnen Länder seien frei darin, noch strengere Regeln zu erlassen.
Aber wie sollten die aussehen? Wird man irgendwann zu Hause an den Heizkörper gebunden oder gleich verhaftet, wenn man heimlich ungeimpft ausfliegen wollte? Nein, konkret macht es schon Wien vor, wie man das noch steigert: Dort müssen jetzt auch Geimpfte und Genesene bei allen Veranstaltungen von mehr als 25 Personen einen PCR-Test machen. Andere Bundesländer werden sicher nachziehen oder selbst weitere eigene Ideen entwickeln.
Selbstredend kam die Reaktion der FPÖ prompt, deren Chef schrieb via facebook, sein Land hätte nun ein „Corona-Apartheidssystem“.
Was hier jetzt noch fehlt, ist der Strafenkatalog bei Missachtung. Überprüft werden sollen die Maßnahmen stichprobenartig. Es werden demnach Personen wahllos auf der Straße kontrolliert, die sich durch was auch immer verdächtig machen, Ungeimpfte zu sein?
Aber woran erkennt man sie? Daran vielleicht, dass diese Menschen enger an der Hauswand gehen oder schneller als andere von Hauseingang zu Hauseingang huschen? Konkret will die Polizei eigens Streifen abstellen, um die Einhaltung der Vorschriften zu überwachen. Bei Verstößen drohen bis zu 1450 Euro Strafe.
Dass es sich hierbei insgesamt um eine großangelegte Volkserziehungsmaßnahme mit den Mitteln des Freiheitsentzugs handelt, wird sogar indirekt eingestanden: Die schon seit zwei Wochen geltenden bisher verhängten Einschränkungen für Ungeimpfte (z.B. 3G-Regel am Arbeitsplatz und die 2G-Regel im öffentlichen Leben) hätten Wirkung gezeigt. Die Zahl der Impfungen sei tatsächlich in Österreich „sprunghaft angestiegen“, berichtet die Tagesschau online.
Zum Abschluss noch einmal zurück zum 90-Jährigen aus dem Tannheimer Tal, der sich noch recht gut an die Ausgangssperren von 1945 erinnern konnte. Damals, so erzählt er, hätte sich keiner vor Krankheiten gefürchtet:
„Wir hatten gerade den Krieg durchstanden, da konnte es nicht mehr schlimmer werden. Wir waren eher erleichtert, die größten Gefahren hinter uns zu haben. Diese Erfahrung fehlt den meisten Menschen heute zum Glück.“
Weshalb die Ausgangssperren einst und jetzt nicht miteinander vergleichbar seien, weiß er ebenfalls noch zu beantworten: „Die Ursachen sind anders – und die Zeiten auch.“ Eine sibyllinische Antwort, die noch viel Interpretationsspielraum lässt.
Bild: Shutterstock (Symbolbild)
Text: reitschuster.de
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