Mit Plastikbecher im Schwitzraum Geschichten zum Schmunzeln zwischen den Jahren

Hand aufs Herz: Haben Sie es nicht auch satt, ständig negative Nachrichten zu lesen? Bei denen man denkt, es seien „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“? Was sie aber leider nicht sind – denn es sind reale Neuigkeiten aus Deutschland. Über die Feiertage, zwischen den Jahren, möchte ich Ihnen ein Kontrastprogramm bieten, aus meiner Zeit in Russland. Zum Entspannen und Schmunzeln. Voilà:

Die bösen Wörter fallen meistens hinter verschlossenen Türen. Die Russen seien zu Demokratie nicht fähig, sie liebten Obrigkeitsstaat und harte Hand, zur Selbstorganisation seien sie nicht in der Lage: Auf beiden Seiten der Grenze sind von Politikern und Experten oft solche Worte zu hören. Bei schweißtreibenden Temperaturen und nur klamm bekleidet, ist mir jetzt mit Freunden der Gegenbeweis gelungen: Wissenschaftlich vielleicht nicht ganz beweiskräftig, aber dafür umso vielsagender.

Der Tatort: Meine Sauna im Süden des Moskauer Zentrums, nur ein paar Straßen vom legendären Donskoj-Kloster entfernt, auf dessen Friedhof Alexander Solschenizyn, Iwan Ilijn, Pjotr Tschaadajew und andere große russischen Geister ihre letzte Ruhe fanden. So gepflegt die Sauna mitsamt ihrem Schwimmbad und Fitness-Zentrum ist, so sehr verrohten doch zuletzt die Sitten: Der Schwitzraum glich zunehmend einer Wertstoff-Sammelstelle für Plastik-Becher aus dem Trinkwasser-Spender im benachbarten Schwimmbad. Dass diese in Ermangelung eines Aufguss-Eimers als Ersatzgefäße herhalten mussten, fand ich okay, obwohl Aufgüsse offiziell verboten sind. Aber dass die Becher danach in der Sauna liegen blieben, vor sich hin schmelzen, war nicht nur ästhetisch wenig erfreulich – das Plastik verdampft bei den hohen Temperaturen auch Schadstoffe.
„Was sollen wir denn machen?“

Reine Dekoration

Eher Geschmackssache, aber doch eine heikle, war auch die Angewohnheit einiger Gäste, den Schwitzraum zwar, wie in Russland üblich, züchtig mit Badekleidung bedeckt, dafür aber ohne Handtuch zu betreten – und als Schweißfänger statt besagtem Textil die Holzliegen zu missbrauchen. Auch die Duschen zwischen Schwitzraum und Schwimmbad schienen einige wackere Saunagänger nur für reine Dekoration zu halten. Ich bin nach mehr als einem Jahrzehnt in Russland weitgehend russifiziert, aber, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, kommt gelegentlich doch noch der Deutsche in mir zum Vorschein und diesem blieben die erwähnten Unsitten nicht fremd. Dennoch unterdrückte ich das, was ich für deutsche Pingeligkeit hielt, und hüllte mich in Schweigen.

Als ich zum ersten Mal einen anderen Gast über die Unsitten klagen hörte, dachte ich noch, er müsse wohl deutsche Vorfahren oder zumindest seinen Militärdienst irgendwo zwischen Karl-Marx-Stadt und Rostock abgeleistet haben. Beim zweiten Kläger ging ich davon aus, es einfach mit einem Querulanten zu tun zu haben. Erst als ich die fast wortgleiche Klage ein Dutzend Mal gehört hatte, war mir endgültig klar: Wie man es mit den (Sauna-)Sitten hält, ist weniger eine Frage der Herkunft als des guten Geschmacks. Einige meiner Gesinnungsgenossen hatten auch schon zaghaft versucht, bei der Geschäftsführung zu intervenieren – aber mehr als ein „Was sollen wir denn machen?“ war ihnen nicht beschieden.

So heckten wir einen Plan aus: Ein Hinweis-Schild in Eigenregie. Schließlich muss man für solche subversiven Schriftstücke nicht mehr Druckmaschinen in irgendwelchen gut getarnten Kellern anwerfen, seit es Windows und den Tintenstrahldrucker gibt. Prompt war ein DIN-A-4-Blatt entworfen, mit dicken Buchstaben und der höflichen Bitte, die Becher doch nach dem Aufguss wieder aus der Sauna mit rauszunehmen, da sie nicht für 100 Grad Hitze gemacht sind und schädliche Ausdünstungen von sich geben können, Handtücher unterzulegen und zu duschen, da niemand gerne im fremden Schweiß sitze oder bade.

Mit etwas flauem Gefühl im Bauch machten wir uns daran, die quasi illegalen Flugblätter in der Umkleide und vor der Sauna aufzuhängen. In der Hoffnung, sie hätten eine Halbwertzeit von wenigstens ein paar Stunden. Umso größer war meine Überraschung, als ich am nächsten Tag feststellte, dass die Blätter noch hingen. Wie es das Schicksal wollte, musste ich tags darauf verreisen. Und ich traute meinen Augen nicht, als ich drei Wochen später, die Blätter immer noch an der alten Stelle vorfand: Die Tinte hatte zwar deutlich unter der Feuchtigkeit gelitten, aber alles war noch wunderbar zu entziffern. Im Schwitzraum war kein einziger Plastikbecher zu entdecken, alle Gäste saßen auf Handtüchern und alle duschten.

Alles Propaganda ...

Als ich am nächsten Tag wiederkam, gab es an der Rezeption eine tumultartige Szene: Eine Frau beklagte sich schrecklich, wie böse sie behandelt worden sei, und der Bademeister und die Kassiererin rieten ihr, sich an die Polizei zu wenden. „Was ist passiert?“, fragte ich die Kassiererin. „Die Frau hat einen anderen Besucher im Schwitzraum gebeten, ein Handtuch unterzulegen, und der hat sie daraufhin unflätig beschimpft“, antwortete die Kassiererin. Im Umkleideraum fehlte plötzlich jede Spur von dem Hinweis-Schild. Und auch an der Sauna waren nur noch Spuren von den alten Klebestreifen zurückgeblieben, an denen es befestigt war.

„Schade“, sagte ich mir, ein bisschen traurig. Und traute meinen Augen nicht, als ich kurz darauf wieder in die Umkleide ging: Das Papier hing plötzlich wieder da. Ich lief zur Sauna – und vor ihr stand der Bademeister und brachte auch dort eigenhändig das Hinweis-Blatt wieder an – die Tinte war nicht mehr zerlaufen, er muss also das Original entweder abgeschrieben oder kopiert und ausgebessert haben. „Was ist passiert?“, fragte ich. „Irgendein Idiot hat das im Zorn abgerissen, aber jetzt hat alles wieder seine Richtigkeit, jetzt hängt es wieder“, sagte mir der Bademeister nichtsahnend. „Was für eine Frechheit, da hat jemand die Hinweis-Schilder weggerissen“, schimpfte später auch die Kassiererin. „Wo jetzt endlich diese Unsitten aufgehört haben!“

In Deutschland wäre das Hinweispapier als „ungenehmigtes Plakat“ sicher binnen Minuten entfernt worden; in Russland bekam es quasi offiziellen Status, weil alle von seinem Sinn überzeugt waren. Seit jener Zeit habe ich keinen Plastikbecher mehr im Schwitzraum gesehen und kommt doch einmal jemand ohne Handtuch herein, bittet ihn in der Regel gleich jemand höflich, sich etwas unterzulegen.

 Ähnliche Erfahrungen wie in der Sauna lassen sich auch im Verkehr machen. Schien es noch vor einigen Jahren in Moskau für jeden Autofahrer Ehrensache, nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern an jeder grünen Fußgänger-Ampel und an Zebrastreifen dreist die Vorfahrt zu nehmen, gibt sich heute die Mehrheit der Autofahrer ganz galant und bremst auch für Fußgänger. So oft ich Autofahrer nach dem Warum fragte, so oft bekam ich die gleiche Antwort: Sie hatten diese Sitte bei Reisen im Westen gesehen und fanden sie nachahmenswert.

Ständige Lügen

Nach meinen Erfahrungen in der Sauna bin ich überzeugt: Auch wenn die Russen sich vielleicht keine Demokratie nach unseren Rezepten wünschen, was ihr gutes Recht ist – wenn sie sich ein ehrliches Bild machen könnten und nicht ständig Lügen vorgesetzt bekämen, würden sie sich einige der Vorteile unseres Systems – etwa den Rechtsstaat – für sich selbst wünschen und gleichzeitig das Nachahmen von vielem Negativen vermeiden.

Doch statt mit der Qual der Wahl sind die Russen mit Propaganda konfrontiert, die ihnen das Fernsehen und die großen Medien von früh bis spät eintrichtern. Übersetzt auf unser Beispiel würde die etwa so lauten: Fußgänger in Russland wollen gar keine Vorfahrt, sie sind dafür nicht reif und brauchen dafür noch Zeit, die Straßen in Russland sind so groß, dass Autofahrer einfach keine Rücksicht nehmen könnten auf Fußgänger, weil sonst der Verkehr stockt und Chaos ausbricht, außerdem sind die russischen Autofahrer die besten weltweit und die Fußgänger lieben es, wenn sie ihnen vor die Füße fahren, nirgends auf der Welt gibt es eine Straßenverkehrsordnung, die wirklich gültig ist, alles nur Show, nirgends haben Fußgänger Rechte, das ganze ist nur feindliche Propaganda der USA, und gerade dort werden die Fußgänger ebenfalls mit Füßen getreten – nur wird das dort besser verschleiert.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Bild: Shutterstock

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