Nach Kritik am Kanzler – FDP-Mann mit Selbstanklage Wehe, einer spricht das Offenkundige über Scholz aus

Geht es Ihnen auch so, dass Sie manchmal in Ihrer ersten Reaktion emotional über das Ziel hinausschießen? Vor allem in Zeiten wie diesen, in denen die Emotionen besonders hoch kochen. Aber auch diese Überreaktion besagt ja etwas. Bei mir fiel sie heute besonders hart aus. Ich musste zuerst an die Stalinzeit denken, als ich den Twitter-Text des FDP-Politikers Marcus Faber von einem Freund zugeschickt bekam. Unter Stalin versuchten Politiker, sich durch Selbstbezichtigungen und besonders laute Entschuldigungen den Kragen zu retten, wenn sie in Ungnade gefallen waren. Natürlich ist es absolut abwegig, ja sträflich, die Bundesrepublik heute mit der Sowjetunion der 1930er Jahre gleichzusetzen, oder gar FDP-Chef Christian Lindner oder Kanzler Olaf Scholz mit Stalin. Aber was kann man dagegen tun, wenn man bei Selbstbezichtigungen von Politikern spontan als erstes an die Stalin-Zeit denkt? Und würden die Assoziationen wirklich so wild ausfallen, wenn mit unserer Demokratie noch alles in Ordnung wäre?

Aber zur Sache. In Fabers Tweet steht Folgendes: „Die Kommentierung des heutigen Verteidigungsausschusses war unangemessen und wurde dem Ernst der Lage nicht gerecht. Dafür entschuldige ich mich und werde meiner Fraktion am Dienstag, in ihrer nächsten Sitzung, anbieten von meinem Sprecherposten zurückzutreten.“

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Auslöser für Fabers Selbstgeißelung war ein Vorgang, der die „Bild“ zu folgender Überschrift veranlasste: „FDP verlässt Ausschuss-Sitzung wegen Kanzler Olaf Scholz – Union: Das demonstrative Verlassen sei ein „ungeheuerlicher Vorgang“. Weiter heißt es in dem Text der Boulevard-Zeitung: „Zerreißprobe für die Ampel-Regierung! Die FDP-Arbeitsgruppe hat die Sondersitzung des Verteidigungsausschusses aus Protest gegen die Antworten von Bundeskanzler Olaf Scholz (63, SPD) kurz vor Ende geschlossen verlassen.“ Faber sagte nach dem Verlassen des Sitzungssaals  zu Journalisten: „Leider wurden sehr viele Fragen  nicht beantwortet. Deswegen haben wir als Freie Demokraten kurz nach neun entschieden, dass wir die Sitzung jetzt verlassen.“

„Man komme sich ‘verarscht‘ vor“, beschreibt „Bild“ das Stimmungsbild bei den Liberalen: „Demnach wurde der Kanzler zum Krieg in der Ukraine befragt, antwortete stattdessen aber zum globalen Süden und zur Rolle Chinas in der Welt. ‚Er wollte Zeit gewinnen‘, hieß es.“ Aus der Union kam Verständnis dafür, dass den Liberalen der Kragen platzte. Der Bundeswehr-Experte Henning Otte sagte laut dem Blatt: „Bundeskanzler Scholz wurde am Ende nicht nur leiser und flüchtete in andere Themenfelder, sondern düpierte auch seinen Koalitionspartner FDP, denn er ignorierte sie schlicht. War das die Rache für die Einladung der Vorsitzenden Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP)? Koalitionsfrieden sieht anders aus.“

Scholz hat das gemacht, was er regelmäßig tut: Fragen einfach ignorieren und zynisch weglachen. Dass er dem Parlament Rechenschaft schuldig ist? Pustekuchen. Der „Spiegel“ und andere Sprachrohre der Regierung beschwichtigten sofort. „Der Kanzler habe sehr sachlich jede Frage beantwortet“, zitiert das Hamburger Blatt einen anderen Liberalen:  „Und es wäre ein Akt der Höflichkeit gewesen, die fünf Minuten bis zum Ende auch noch zu bleiben, zumal die ganze Sitzung sehr unaufgeregt verlaufen ist.“ Journalismus, der die Regierung in Schutz nimmt statt sie zu kritisieren.

Faber selbst ließ über die Fraktionspressestelle eine Mitteilung versenden, in der auf einmal alles ganz anders klang. Von einem „konstruktiven Besuch“ des Kanzlers ist da die Rede – und von einem völlig anderen Grund für den Auszug als in dem oben verlinkten Video von ihm persönlich angegeben :“Wegen Anschlussterminen mussten die Mitglieder meiner Fraktion nach und nach die Ausschusssitzung verlassen.“ Es tue ihm „sehr leid, dass ein anderer Eindruck entstanden ist, den ich hiermit entschieden zurückweise.“ Was für eine erniedrigende 180-Grad-Wende. Gegenüber dem Spiegel tischte Faber dann sogar noch heftiger auf: „Die Sitzung war von 8 bis 9 Uhr angesetzt. Wir sind um fünf nach 9 Uhr los, erst der eine, dann die anderen, weil wir der Meinung waren, die Sitzung steht an ihrem Ende.“ Dass er noch offene Fragen an Scholz habe, stehe in keinem kausalen Zusammenhang mit dem Hinausgehen – so zitiert der Spiegel Faber: „Und überhaupt, auch das stellt der FDP-Abgeordnete aus Sachsen-Anhalt noch einmal ausdrücklich fest: Man solle daraus nicht auf die Atmosphäre in der Ampel schließen.“ Was für eine Abbitte!

Der Spiegel beendet seinen Artikel dann mit dem Abdruck von Fabers eingangs zitierter Entschuldigung und seinem Rücktrittsangebot – das er mit  zynischem Spott quittiert, der im Stil an die Abrechnung mit „Abtrünnigen“ In der Regierungspropaganda in unfreien Systemen erinnert: „So endet der vermeintliche Protest gegen den eigenen Kanzler.“

Ob Leser des Hamburger Magazins so etwas wirklich glauben? Spiegel und Co. verschweigen tunlichst, dass Scholz seit Beginn des Ukraine-Krieges ein doppeltes Spiel spielt. Tut öffentlich so, als sei er stramm auf Seite der Ukraine, und hinter den Kulissen legt er Kiew Steine in den Weg, wo es nur geht. Ob beim Torpedieren von Sanktionen, oder bei Waffenlieferungen – denen er notgedrungen formal zustimmte, um die Koalition nicht zu gefährden, die er aber hinter den Kulissen bremst. Ein Spiel, das fast alle großen Medien – bis auf Bild und Welt – mitspielen. Und wehe, jemand macht die Lüge offensichtlich, wie jetzt FDP-Mann Faber – der einen Eklat einfach ehrlich als solchen benannte.

Nur gut, dass im Gegensatz zu Stalins Zeiten heute niemand mehr für eine abweichende Meinung oder offene Kritik an der Regierung erschossen wird. Heute wird man höchstens geächtet, diffamiert, aus der Bundespressekonferenz ausgeschlossen und/oder mit Psychoterror belegt (siehe meinen Artikel „Wie bei Kafka: Im Visier von Polizei und Banken“). Dass man allerdings für Kritik am Kanzler sofort zurücktreten muss, wenn man in einer der Regierungsparteien ist, war in demokratischeren Zeiten in der alten Bundesrepublik nicht so – bevor sie von der ehemaligen FDJ-Funktionärin Angela Merkel auf Linie gebracht wurde.

Bild: Shutterstock
Text: br

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