Der Anteil von Patienten mit der Diagnose COVID-19 in den Krankenhäusern in Deutschland war weitaus geringer als gemeinhin angenommen, wie ein Gutachten des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung an den Tag brachte. In Auftrag gegeben hat es das Bundesgesundheitsministerium. Alle Patienten mit der Diagnose COVID-19 brachten es demnach 2020 auf 1,93 Millionen Verweildauertage in den deutschen Kliniken. Setzt man sie in Verhältnis zur Zahl der Verweildauertage aller Patienten, 101,02 Millionen, kommt man auf 1,9 Prozent. Also knapp zwei Prozent. Der Mediziner Gunter Frank, der die Angaben, die monatelang kaum bis gar nicht bemerkt wurden, jetzt entdeckte und auf sie aufmerksam machte, nennt diese zwei Prozent eine „Skandalzahl“: „Und die sollen die Krankenhäuser an den Rand der Belastung gebracht haben? Jedes Jahr werden Patienten mit infektiösen Atemwegserkrankungen in dieser Größenordnung stationär behandelt.“ Selbst als der Anteil der Corona-Patienten am größten war, in der zweiten Dezemberhälfte, lag er nur bei knapp 5 Prozent aller Betten.
In den Medien fand die unglaubliche Zahl kaum Widerhall. Ich sprach sie gestern auf der Bundespressekonferenz an und fragte Spahns Sprecher Sebastian Gülde nach diesen Zahlen. Seine Antwort: „Ich muss jetzt ganz ehrlich gestehen: Ich weiß nicht, in welchem Zusammenhang diese Zahlen jetzt genannt werden bzw. ob sie auch in einem solchen Zusammenhang stehen. Von daher müsste ich das tatsächlich nachreichen.“
Während die Bundesregierung auf den Bundespressekonferenzen oft sogenannte „Nachreichungen“ ankündigt und solche dann nicht erfolgen, kam diesmal tatsächlich eine. Und die hat es sogar in sich. Deshalb dokumentiere ich sie hier in voller Länge:
Sehr geehrter Herr Reitschuster,
in der gestrigen Regierungspressekonferenz stellten Sie folgende Frage: Laut einem Gutachten des Leibniz-Institutes für Wirtschaftsforschung, die das BMG selbst beauftragte, betrug der Anteil von Patiententagen mit der Diagnose COVID-19 in den Krankenhäusern 2020 1,9 Prozent. Laut Bundesregierung waren die Krankenhäuser am Rande der Überlastung durch COVID-19. Wie passt das zusammen?
Hierzu kann ich folgende Informationen nachtragen:
Im Bericht des Beirats nach § 24 KHG (Analysen zum Leistungsgeschehen der Krankenhäuser und zur Ausgleichspauschale in der Corona-Krise) vom 30. April 2021 ist ausgeführt, dass im Jahr 2020 bei den nach Fallpauschalen abrechnenden Krankenhäusern 1,9 % der Betten insgesamt und 3,4 % der Intensivbetten mit COVID-19-Patientinnen und -Patienten belegt waren (S. 9f. des Berichts). Hierbei handelt es sich um durchschnittliche Belegungszahlen, die keine differenzierten Aussagen zur regionalen oder zeitlichen Bettenbelegung enthalten. Diese durchschnittlichen Belegungszahlen schließen nicht aus, dass es in bestimmten Regionen und zeitlich befristet zu einer Überlastung von Krankenhäusern gekommen ist. Dies war z. B. im Dezember 2020 in Sachsen der Fall, sodass zur Entlastung der Intensivstationen und insbesondere der Beatmungsplätze in sächsischen Krankenhäusern COVID-19-Patientinnen und -Patienten in Krankenhäuser in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern verlegt worden sind. Nicht zuletzt aus diesem Grund haben Bund und Länder zusammen mit Intensivmedizinern das sog. Kleeblattkonzept entwickelt, über das im Notfall COVID-19-Intensivpatientinnen und -Patienten aus Regionen mit hohem Infektionsgeschehen kurzfristig in weniger stark betroffene Regionen verlegt werden können. Dass es eine flächendeckende und dauerhafte Überlastung der Krankenhäuser auf Grund der Pandemie gegeben hat, ist von der Bundesregierung im Übrigen nicht behauptet worden.
Mit freundlichen Grüßen
Sebastian Gülde
Tatsächlich – dass es „eine flächendeckende und dauerhafte Überlastung der Krankenhäuser auf Grund der Pandemie“ gebe, hat die Bundesregierung explizit nie behauptet. Aber sehr wohl hat sie im Duett mit den Medien doch zumindest bei vielen Menschen durch Andeutungen und Halbtöne diesen Eindruck erweckt.
Dass selbst bei den Intensivbetten die Belegung mit COVID-19-Patienten weitaus geringer war, als gemeinhin angenommen, ist eine neue Facette – die offenbar bisher selbst durch das Raster der kritischen Öffentlichkeit gefallen ist. Zumindest weitgehend. Man muss sich das vergegenwärtigen: Die drastischen Corona-Maßnahmen mit ihren weitreichenden Folgen und massiven Einschnitten der Grundrechte wurden ja vor allem mit der Situation in den Krankenhäusern allgemein und im Spezifischen mit der auf den Intensivstationen gerechtfertigt. Wer die Medien verfolgte, bekam oft den Eindruck, ein Großteil der Patienten dort sei mit Corona infiziert. Und dann waren es über das Corona-Jahr 2020 gerechnet nur 3,4 Prozent. Dass es wie gesagt zu einzelnen Schwerpunkten und Problemen kam, war allgemein bekannt; erfahrene Mediziner sagen, das sei durchaus üblich und normal. Aber selbst wenn dem nicht so wäre – rechtfertigt es bei einem Schnitt von 3,4 Prozent Corona-Positiver auf den Intensivstationen all die dramatischen Einschnitte? Und warum wird diese Zahl, die seit Monaten in dem Papier zu finden ist, nicht breit in der Öffentlichkeit diskutiert? Sie taucht nur vereinzelt und in Fachmedien auf.
Wobei hier noch die Frage dazu kommt, ob unter „COVID-19-Patienten“ nur solche mit der Hauptdiagnose COVID-19 gezählt werden – oder auch solche, die aus anderen Gründen auf die Intensivstation kamen und dann dort auch noch positiv getestet wurden.
In dem Gutachten des Leibniz-Instituts heißt es auf Seite 12 zu Beginn des Kapitels mit der Überschrift „Behandlungen in Zusammenhang mit Covid-19“: „Insgesamt wurden im Jahr 2020 172 248 Behandlungsfälle mit der Nebendiagnose U07.1 (Covid-19, Virus nachgewiesen) behandelt. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich um Fälle, nicht Personen handelt, da verlegte Patienten entsprechend mehrfach zählen. Die Patientinnen und Patienten waren im Median 71 Jahre alt.“
Hoch interessant auch Fußnote 8: „Da die Nebendiagnose U07.1 gemäß der ICD-10-GM“ (der amtlichen Klassifikation zur Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung in Deutschland) „dann, ‚wenn Covid-19 durch einen Labortest nachgewiesen ist, ungeachtet des Schweregrades des klinischen Befundes oder der Symptome‘ kodiert werden soll, dürfte es sich hierbei um eine gemischte Gruppe handeln, die sowohl Patientinnen und Patienten mit keinen oder milden Symptomen als auch solche mit schwerem Verlauf umfasst.“
Bestätigt das die Vorwürfe von Kritikern der Corona-Politik, jeder Patient mit positivem Test, auch ohne Symptome, werde als Corona-Patient in der Statistik geführt?
Weiter heißt es in der Fußnote: „Nicht berücksichtigt sind hier Fälle mit der Nebendiagnose U07.2, die laut ICD-10-GM nur genutzt werden sollte, wenn COVID-19 klinisch-epidemiologisch bestätigt ist und das Virus nicht durch Labortest nachgewiesen wurde oder kein Labortest zur Verfügung steht. Dies waren zusätzliche 289 323 Fälle, d.h. mehr als bestätigte Fälle.“
Für mich als Laie erschließt sich das nicht. Wenn jemand im Krankenhaus ist, wo die Testmöglichkeiten vorhanden sind, wie kann es da sein, dass COVID-19 klinisch-epidemiologisch nachgewiesen wurde, aber es keinen Test gab? Ich freue mich auf Antworten von Fachleuten und reiche diese gerne nach.
Weiter steht in den Fußnoten: „Das RKI berichtet bis zum Ende der KW 53 (2020) auf der Basis von rund 75% der Covid-Fälle mit diesbezüglichen Angaben (n= 1 326 751) von 131 714 Personen, deren Covid-Erkrankung zu einem stationären Aufenthalt geführt hatte. Unter der Annahme, dass die fehlenden 25% ähnlich häufig hospitalisiert waren, ergäben sich damit rund 175 000 Personen und damit eine nur gering vom InEK“ (Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus) „abweichende Zahl; allerdings ist durchaus realistisch, dass die wahre Hospitalisierungsquote bei diesen 25% niedriger war. Allerdings berichtet das RKI von stationär aufgenommenen Personen, während das InEK auf Basis der bis zum Jahresende entlassenen Fälle berichtet, womit die noch 2020 aufgenommenen, aber noch in stationärer Behandlung befindlichen Covid-Patienten nicht erfasst werden.
Heißt das, die Zahl der Corona-Patienten könnte deutlich geringer sein als angenommen?
Fragen über Fragen!
Generell muss man dazu sagen, dass die Zahlen, auf denen das Gutachten beruht, im Wesentlichen für die Rechnungsstellung bereitgestellt wurden und dies hinsichtlich ihrer Aussagekraft berücksichtigt werden müsste, wie mir ein befreundeter Arzt schrieb. Er hält es auch für unglücklich, dass hier im Wesentlichen auf Abrechnungsdaten gesetzt wird – daher etwa Corona als „Nebendiagnose“. Der Mediziner, selbst Chefarzt einer deutschen Klinik, versprach mir noch eine weitere Analyse des Gutachtens. Ich bin sehr gespannt darauf und werde sie ggf. nachreichen (wenn die Bundesregierung das darf, darf ich es auch).
Hier finden Sie mein zusammenfassendes Video von der Bundespressekonferenz gestern. Die gesamte Bundespressekonferenz von heute finden Sie hier. Die Bilder muss ich aufkaufen, umso dankbarer bin ich für Ihre Unterstützung – nur diese ermöglicht die Veröffentlichung (für Ihre GEZ-Gebühren bekommen Sie die Bilder nicht).
Text: br