Schwitzen in der Kälte Geschichten zum Schmunzeln – Mein Neujahrs-Alternativ-Programm

Hand aufs Herz: Haben Sie es nicht auch satt, ständig negative Nachrichten zu lesen? Bei denen man denkt, es seien „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“? Was sie aber leider nicht sind – denn es sind reale Neuigkeiten aus Deutschland. Zum Jahresanfang möchte ich Ihnen ein Kontrastprogramm bieten, aus meiner Zeit in Russland. Zum Entspannen und Schmunzeln. Voilà – eine Geschichte von 2008:

Tippfehler bitte ich zu entschuldigen. Es gibt einen triftigen Grund. Ich sitze bibbernd vor dem Computer, in der Kälte. Meine Hände sind noch nicht blau, aber ein wenig zittrig. Obwohl ich sie immer wieder um die warme Tasse Tee halte, sind sie nicht mehr ganz zielsicher auf der Temperatur, Entschuldigung, ich meine die Tastatur. Herrje, die grauen Zellen sind offenbar auch schon unter Normalnull. Ja, das Klima in Moskau ist besorgniserregend abgekühlt. Nicht nur das Politische. Statt Altweibersommer haben wir einen Sibirien-Herbst. Und ausgerechnet im rohstoffreichsten Land der Erde sitzen jetzt Millionen Menschen in ihren Wohnungen und frieren.

Nicht, dass Gasprom aus Versehen oder aus Geiz den eigenen Landsleuten statt wie üblich den Nachbarländern die Versorgung abgestellt hätte. Es handelt sich auch nicht um ein kollektives Opfer für den Klimaschutz, oder gar ein landesweites Programm zur Abhärtung (zumindest kein offiziell bekanntes). Das alte sowjetische Heizsystem ist schuld daran, dass ich im dicken Pullover und Schal am Schreibtisch sitze und aussehe wie einst die Partisanen in den Wäldern. Fast alle Häuser in den großen Städten sind an die zentrale Fernwärme angeschlossen. Die Heizkörper in den Wohnungen haben keinen Regelknopf.

Jedes Grad zählt

Gesteuert wird der Wärme-Zufluss nur über die zentralen Regler in der nächstgelegenen Umschlagstation. Und die sind noch nicht angeschaltet. Denn alles geht in Moskau seinen amtlichen Gang. Zumindest dann, wenn es ein Nachteil für die einfachen Menschen ist (so ungern das die Putinisten und Putin-Versteher im Westen hören werden, aber sie haben auch leicht reden, schließlich sitzen sie im Warmen – noch dazu beheizt in vielen Fällen von dem Gas, dass man just uns in diesen kalten Momenten vorenthält).

Die offizielle Regel besagt, dass die Fernwärme erst dann anzuschalten ist, wenn die Durchschnittstemperatur an fünf Tagen nacheinander unter acht Grad liegt. Vergangene Woche was das Heizungs-Glück ganz nahe: An vier Tagen nacheinander kletterte das Quecksilber in den Thermometern nicht bis zu den magischen acht Grad. Aber der fünfte Tag machte dann mit etwas mehr Wärme alle Hoffnungen auf einen vorzeitigen Beginn der „Heizsaison“ zunichte – ohne dass die zwei, drei Grädchen mehr die ausgekühlten Wohnungen entscheidend aufgewärmt hätten. Die Stadtverwaltung zeigte zumindest etwas menschliche Wärme und legte den Heizschalter für 3819 Krankenhäuser, Geburten-Kliniken und Kindergärten um. Für die Durchschnittsbürger sollen die Heizungen „schon“ am 1. Oktober warm werden, kündigten die Beamten an. Aus ihrer Sicht mag das großherzig sein, meine Reaktion dagegen war eher verschnupft, denn wirklich warm wird einem dadurch im Moment nicht.

Für Russland-Anfänger muss noch dazu gesagt werden, dass einen der Heizungsstart in Moskau teuer zu stehen kommt. Einige Tage, bevor aus den Radiatoren – wie die Heizkörper auf russisch heißen – wirklich wohliges Warm strahlt, verwandeln sie sich in eine Art gigantischer Lautsprecher: Wie auch immer die Heizwerker es schaffen, ob es Testläufe sind, Reinigungs-Spülgänge oder das „Warmlaufen“: Das – noch kalte – Wasser wird offenbar mit so geschicktem Druck oder Intervall durch die Röhren geschickt, dass die gerippten Heizkörper tagelang die verschiedensten Geräusche von sich geben, vorzugsweise nachts: Zu den häufigsten Tonlagen, die einen am zuverlässigsten aus dem Schlaf reißen, gehören „breites Grunzen“, „undichte Toilettenspülung“, „Meeresrauschen“, „Gebirgsbach“, und – mit Verlaub – „Durchfall.“ Es gibt kein Entrinnen, allenfalls Wachsstöpsel für die Ohren.

Wer zuletzt lacht, lacht am besten

Wenn dann erst einmal das warme Wasser in die Heizkörper fließt, was Gott sei Dank eher geräuschlos geschieht, ist die Wärme total. Weil sich in den meisten Wohnungen die Heizung nicht steuern lässt und es keine Ventile gibt, von Thermostaten ganz zu schweigen, kann im Winter bei sibirischen Minusgraden oft nur das Öffnen der Fenster davor retten, dass das heimische Wohnzimmer zur Sauna wird: Die Stadtverwaltung geht auf Nummer sicher und heizt mit allem, was sich verbrennen lässt. Nicht zu unrecht: Die gleiche Wärmezufuhr, die in einer Wohnung in der Mitte eines Häuser mit neuen Fenstern für fast schon karibische Temperaturen sorgen kann, ist für die Eckwohnungen nebenan mit alten Fenstern, durch deren Ritzen der Nordwind pfeift, nur ein Minimalschutz vor dem Absturz in arktisches Klima. „Weil die Temperatur nur jeweils für ganze Straßenzüge zu regeln ist, friert die eine Hälfte der Menschen, während die andere schwitzt“, erklärte mir einmal ein Fachmann mit dampfender Stirn.

Der Mann erklärte mir auch, warum die Kommunalbetriebe oft noch bis weit in den warmen Mai hinein volle Pulle heizen, während wir jetzt im September frieren: „Das zugeteilte Öl und Gas muss verfeuert werden, denn wenn nicht alles verbraucht ist, bekommen wir für den nächsten Winter weniger zugeteilt, aber das könnte nicht reichen, wenn es ein strenger Winter wird.“ Trotz solcher Widerlichkeiten, die auch klimapolitisch nicht ganz korrekt sind, wäre es eine Sünde, sich zu beklagen. Denn bei allen Problemen mit der Feinabstimmung und allem Hang zum Extremen – im Großen und Ganzen bekommen die Moskauer Stadtwerker uns Schutzbefohlene unbeschadet durch den Winter, mal mehr oder mal weniger warm.

Was nicht überall in Russland so ist. Die Stadt Kamensk-Uralsk etwa an der Grenze zwischen Europa und Asien meldete dieser Tage heftige Probleme mit der Wärmeversorgung – in zwei Krankenhäusern, einer Geburtenklinik und mehreren Kindergärten und Schulen blieb es kalt. Mancherorts verwandelt sich der Heizkreislauf in einen Teufelskreis: Weil die Fernwärme ausblieb, griffen die Bewohner von Perwouralsk zu Elektro-Heizgeräten – womit sie das Stromnetz überlasteten, was wiederum zu Stromausfällen führte.

Aber dennoch: Sie sollten sich hüten, nun vom warmen Deutschland aus in hämische Gedanken oder gar Schadenfreude zu verfallen. Denn wer zuletzt lacht, lacht am besten. Und ab 1. Oktober werden das wir in Russland sein. Sie in Deutschland müssen inzwischen bei jeder Drehung des Thermostats an Ihrer Heizung sauber kalkulieren und nachdenken, wo sie das verheizte Geld anderweitig einsparen; zudem müssen Sie sich noch mit Gewissensbissen wegen des Treibhauseffekts plagen.

Wir in Moskau haben diese Qual der Wahl nicht, genauer gesagt haben wir eine ganz andere, mit reinem Gewissen: Im tiefsten Winter bei 25 oder 26 Grad Raumtemperatur zu schwitzen oder die Fenster aufzumachen. Mangels Alternativen, da ohnehin geheizt wird, ist beides klimaneutral – wenn man nicht so weit geht wie ein Professor in Ufa im Ural, der in seinem Büro zu meinem Erstaunen die Überhitzung durch den Radiator dadurch ausglich, dass er die Klimaanlage zur Kühlung einschaltete.

Ich habe inzwischen eine Methode gefunden, mit der ich mich jetzt, in diesen eisigen Septembertagen mit kalten Radiatoren über das Frieren hinwegtröste: Ich denke daran, was ich in Deutschland für eine – selbstgesteuerte – Heizung zahlen würde, und wie billig mir das fremdbestimmte Heiz-Regime in Moskau kommt: 650 Rubel kostet die Wärme aus dem Füllhorn für eine Durchschnittswohnung im Monat – knapp 18 Euro. Seien Sie ehrlich – würde es Ihnen da nicht auch warm ums Herz? Und würden Sie für so wohlige finanzielle Aussichten nicht auch gerne ein paar Tage im September auf die Heizung verzichten?

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Bilder: Boris Reitschuster

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