Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Der alte Spruch von Michail Gorbatschow gilt auch für die Bundespressekonferenz. Wie immer hatte ich auch heute eine ganze Liste von Fragen vor mir liegen, die zum Teil auch von Lesern kommen (insbesondere Ärzten), und die ich langsam abarbeite. Da die Bundespressekonferenzen im Regelfall rund 60 Minuten dauern, oft auch etwas länger, war ich heute noch am Sortieren, als die Regierungssprecher-Pressekonferenz schon wieder rum war. Nach sage und schreibe weniger als 12 Minuten und sage und schreibe einem halben Dutzend Fragen. Ich schickte meine erste Frage hastig ab, nachdem das Thema Corona viel schneller drankam als erwartet und vor allem viel schneller – nach nur einer Frage – wieder zu Ende war. Aber ich kam zu spät – und nicht mehr dran. Grund für die Schnelligkeit war offenbar, dass kurz zuvor eine andere Bundespressekonferenz mit Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und RKI-Chef Lothar Wieler stattgefunden hatte, die mehr als 70 Minuten dauerte. Viele Kollegen seien wohl schon am Schreiben, meinte der Vorsitzende Tim Szent-Iványi vom Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Dennoch – m.E. blieben auch nach der Pressekonferenz mit Wieler und Spahn noch sehr viele Fragen offen. Und dass die Möglichkeit, sie zu stellen, verpasst wurde, finde ich sehr schade. Und es sagt auch viel über die Präferenzen in der deutschen Medienlandschaft aus.
Viel über die Art und Weise, wie Politik gemacht wird in Deutschland im Jahre 2021, sagt die Antwort von Jens Spahn auf meine Frage auf der ersten der beiden Bundespressekonferenzen am Freitag aus. Denn auf deren wesentlichen Teil – den Vorwurf des Regierungsversagens – ging der Noch-Minister mit keinem einzigen Wort ein. Das muss man erst mal schaffen! Stattdessen machte der Minister Stimmung gegen Ungeimpfte. Kann man sich da noch wundern, dass viele Kritiker ihm und anderen Politikern vorwerfen, mit dem Schaffen von Sündenböcken von eigenem Versagen abzulenken?
"Im Hinblick auf die bestehenden Reservekapazitäten sieht die Bundesregierung derzeit keinen Bedarf, den Aufbau weiterer intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten zu fördern."
7.5.2021
Intensivbetten-Zahl:
7.5.20: 32077
7.5.21: 23708
19.11.21: 22178
(davon mit Corona 3509). pic.twitter.com/vWG2CoZT7B— Boris Reitschuster (@reitschuster) November 19, 2021
Hier die Frage und die Antwort:
REITSCHUSTER: „FDP-Vize Kubicki sagt: ‚Sich impfen zu lassen, sei keine Frage der oder ist keine Frage der gesellschaftlichen Solidarität, schon gar nicht sind Menschen, die sich gegen eine Impfung entscheiden, für die Engpässe auf den Intensivstationen verantwortlich. Es ist viel mehr Ausweis staatlichen Versagens.‘ Wie stehen Sie zu diesem Vorwurf?“
SPAHN: „Ich finde diese Aussage hochproblematisch. Das ist einfach nicht mein Freiheitsverständnis. Mein Freiheitsverständnis bedeutet auch Verantwortung zu haben für den Nebensitzenden, für die Mitmenschen. Und ein Freiheitsverständnis, das sagt ‚Ich tu, was ich will, und ob‘s auch für andere Folgen hat, ist mir egal‘ ist nicht mein Freiheitsverständnis. So, da hab ich halt einen unterschiedlichen Freiheitsbegriff vielleicht zu Herrn Kubicki. Aber das halten wir in der pluralen Gesellschaft auch aus. Ich glaube nur nicht, dass dieses Freiheitsverständnis – jeder denkt nur an sich beim Impfen – uns irgendwie weiterbringt. Schon gar nicht in dieser Pandemie. Sondern das Impfen ist eine Entscheidung, die man für sich, natürlich auch zuerst, trifft, um sich zu schützen, vor allem vor Erkrankungen. Aber es ist immer auch eine Entscheidung, die andere mit betrifft. Und spätestens, wenn mir dann jemand sagt ‘Aber Spahn, geht Sie doch nichts an, ob ich mich impfen lasse, ob ich krank werde, ist doch meine Sache.‘, dann sage ich: ‘Ja, aber Spätestens die Pflegekraft und der Arzt sind dann irgendwie Mitbetroffen. Ist ja nicht nur irgendwie Ihre Sache, ob Sie krank werden, oder nicht. Es betrifft immer auch andere.‘ So, jetzt frage wir in unserem Gesundheitswesen natürlich nie, warum jemand krank ist, wollen wir auch gar nicht mit anfangen, wir behandeln alle, aber dass man zumindest mal den Gedanken bei sich hat, dass das, was man da entscheidet, nicht nur einen selbst betrifft, sondern im Zweifel auch die, mit denen mit denen man lebt im Umfeld, und vor allem auch diejenige, die es betrifft, wenn es schief geht, dafür werbe ich schon. Und ich würd‘ mir wünschen, dass das auch von allen, oder vielen führenden Meinungsmachern im Land mit eingeschätzt wird. Die Wahrheit ist einfach, hätten wir eine deutlich geringere Zahl von ungeimpften Erwachsenen in Deutschland, wäre für alle Menschen in Deutschland die Lage jetzt eine unterschiedliche. Da gibt’s nichts dran rumzudeuteln. Und ich finde, in einer solchen Pandemie ist das damit auch eine Frage von Solidarität.“
Den Aufkauf des Video-Materials habe ich mir heute gespart – weil es zu kurz war.
Und zum Schluss noch eine gute Nachricht: Der Versuch, mich aus der Bundespressekonferenz heraus zu bekommen, ist offenbar fürs erste gestoppt. In meinen Augen war dafür entscheidend, dass ich mir dank Ihrer Unterstützung sofort einen Anwalt nehmen konnte, und der für mich einstand. Ich danke ganz herzlich und freue mich, wenn Sie meine Arbeit weiter unterstützten, und damit sichern, dass ich weiter kritische Fragen stellen und kritische Artikel schreiben kann.
Bild: Screenshot ZDF, PK 19.11.2021
Text: br
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