Ein Gastbeitrag von Annette Heinisch
In dem viel diskutierten Beitrag „Was geht die Ukraine auch mit kurzem Rock auf die Straße“ vertreten Gunter Weißgerber und ich die Ansicht, dass der Offene Brief von Intellektuellen und Künstlern eine Phantomdebatte ist, weil die Lieferung „schwerer Waffen“ Deutschland nicht zur Kriegspartei macht, jene also keine Eskalation darstellt. Panik und Hysterie sind bekannte Phänomene sowohl der Klima- als auch der Coronathematik, die sich von der Realität weitgehend entkoppelt haben. Ebenso wie bei anderen Themen sind die Panikgetriebenen bereit, Todesopfer in Kauf zu nehmen, wobei ihr Verhalten in der Regel hochmoralisch verkleidet wird.
Nun wurde die bereits aus dem März dieses Jahres stammende Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes zur Frage der Waffenlieferung mit dem Titel „Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme“ bekannt. Diese kommt zur exakt gleichen Rechtsauffassung wie die Verfasser des o. g. Beitrags: Durch Waffenlieferungen wird man ganz eindeutig nicht zur Kriegspartei.
Der Wissenschaftliche Dienst zitiert u. a. – ebenso wie die Verfasser des o. g. Artikels – den Bonner Völkerrechtler Stefan Talmon mit seinen Ausführungen zur Entwicklung des Völkerrechts vom Neutralitätsgebot zum sogenannten „non-belligerency“. Bestätigt wird die Auffassung, dass Waffenlieferungen gleich welcher Art und welchen Umfangs nicht dazu führen, dass man Konfliktpartei wird:
Gilt es also, der Verletzung des Gewaltverbotes (Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta) durch einen Aggressor-Staat als Staatengemeinschaft entgegen zu treten, ist heute kein Staat mehr zur „Neutralität“ gegenüber den Konfliktparteien verpflichtet. Jeder Staat kann und darf den angegriffenen Staat unterstützen, ohne dabei selbst Konfliktpartei werden zu müssen; dabei nimmt der unterstützende Staat eine nicht-neutrale, gleichwohl aber am Konflikt unbeteiligte Rolle ein. Diese Rolle (nonbelligerency) ist zu unterscheiden von der kollektiven Selbstverteidigung/Nothilfe gem. Art. 51 VN-Charta. Auch hier wird dem angegriffenen Staat militärische Hilfe geleistet – aber als Konfliktpartei.
Bei Unterstützungsleistungen auf der Grundlage von non-belligerency bleibt der Umfang von Waffenlieferungen, aber auch die Frage, ob es sich dabei um „offensive“ oder „defensive“ Waffen handelt, rechtlich unerheblich.
Die aufgeregte Reaktion ob des Beschlusses, der Ukraine auch „schwere“ Waffen zu liefern, entpuppt sich mithin zunehmend als eine auf Hysterie beruhende Phantomdebatte, die an der Wirklichkeit schlicht vorbei geht.
Für Juristen interessant ist die Frage, ab wann eine Partei denn nun tatsächlich Kriegspartei wird. Klar ist, dass sie es bei Waffenlieferungen nicht ist und umgekehrt, dass dieses bei der Beteiligung an Kampfeinsätzen zweifellos der Fall ist. Dieses wurde im Artikel von Weißgerber und mir ebenfalls so dargestellt, der Wissenschaftliche Dienst bestätigt es:
Rechtlich weitgehend unumstritten erscheint neben dem Bereich des non-belligerency auch der Bereich der Konfliktteilnahme durch Drittstaaten (co-belligerency): Das Eingreifen mit eigenen Streitkräften, d.h. die unmittelbare Beteiligung an den Konflikthandlungen mit militärischer „Man-Power“, machen einen unterstützenden Staat zweifelsohne zur kriegsführenden Konfliktpartei („co-belligerent).
Aber was gilt für den Bereich dazwischen, den Graubereich?
„Grauzonen eröffnen stets Möglichkeiten für rechtlich unterschiedliche Interpretationen und Bewertungen durch alle Beteiligten – auch hinsichtlich der Frage, ob eine Konfliktbeteiligung (durch Drittintervention) vorliegt oder nicht.“, so der Wissenschaftliche Dienst.
Unklarheiten ergeben sich z. B. hinsichtlich der Übermittlung von Geheimdienstinformationen oder der Übergabe von Kampfflugzeugen auf einem NATO-Stützpunkt. Anders als Waffenlieferungen ist die Frage, ob eine Ausbildung an diesen Waffen den Ausbilder zur Kriegspartei macht, nicht eindeutig geklärt. Der Wissenschaftliche Dienst zitiert dazu den Bochumer Völkerrechtler Pierre Thielbörger, der im Interview mit der NZZ vom 13. Februar 2022 („Krieg in der Ukraine: Deutschland hätte das Recht, direkt anzugreifen“) ausführte:
„An sich sind Waffenlieferungen allein noch keine Kriegshandlung. Es gibt keine Staatenpraxis, die das annimmt. Anders könnte es sein, wenn es eine Beratungsleistung gibt, wie Waffen zu gebrauchen sind. Aber auch hier bleibt die Betrachtung des Einzelfalls ausschlaggebend.“
In dem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes wird nicht untersucht, wie zum Beispiel die Einweisung durch zivile Mitarbeiter des Herstellerunternehmens zu bewerten ist. Würde Deutschland zur Kriegspartei, wenn Rheinmetall ukrainische Soldaten in den Marder einweist? Das würde den Begriff der Kriegspartei sehr weit aus- und wahrscheinlich sogar überdehnen.
Soweit sich Maßnahmen im Graubereich befinden, machen sie einen Staat also nicht zwingend zur Kriegspartei, es kommt vielmehr auf den Einzelfall an. Nahezu jeder, der einmal bei einem Anwalt war, kennt den Satz „Das kommt darauf an.“ – genau dies ist hier der Fall.
Wiederum eindeutig ist die Rechtslage, ob es rechtmäßig wäre, die Ukraine militärisch zu unterstützen. Die Antwort ist eindeutig „Ja“:
„Die Teilnahme eines NATO-Staates an dem russisch-ukrainischen Konflikt zugunsten der Ukraine wäre völkerrechtlich zulässig – Art. 51 VN-Charta erlaubt die kollektive Nothilfe/Selbstverteidigung zugunsten des angegriffenen Staates. Für den am Konflikt teilnehmenden Staat, welcher der Ukraine Nothilfe leistet, bedeutet dies, dass er dem VN-Sicherheitsrat die auf der Grundlage von Art. 51 S. 2 VN-Charta ergriffenen Maßnahmen sofort anzuzeigen hat. Für den Aggressor Russland bedeutet die Konfliktteilnahme eines Drittstaates dagegen: Jeder potentielle russische Angriff gegen Drittintervenienten… wäre unstreitig ein (erneuter) Verstoß gegen das Gewaltverbot und damit völkerrechtswidrig.“
Fazit
Die Verfasser des „Offenen Briefes“ schüren grundlos Panik. Waffenlieferungen eskalieren nicht, daher ist die Hysterie völlig unangebracht. Es handelt sich um eine reine Phantomdebatte, die Deutschland ins Abseits führt. So gesehen ist es ein Sturm im Wasserglas.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Annette Heinisch. Studium der Rechtswissenschaften in Hamburg, Schwerpunkt: Internationales Bank- und Währungsrecht und Finanzverfassungsrecht. Seit 1991 als Rechtsanwältin sowie als Beraterin von Entscheidungsträgern vornehmlich im Bereich der KMU tätig.
Text: Gast