Man weiß gar nicht mehr, worüber man sich mehr wundern und ärgern soll: Über die Dreistigkeit, mit der die Bundesregierung mit kritischem Wissen umgeht? Oder darüber, dass die meisten Journalisten das einfach als naturgegeben hinnehmen? Der heutige Auftritt von Merkels Sprecher Steffen Seibert und seine Anschuldigungen gegen mich sind ebenso bemerkenswert wie infam. Vor allem aber ist Seiberts Auftritt selbstentlarvend. Was ihn aber gar nicht sonderlich besorgen muss, da offenbar die meisten Journalisten zielsicher wegsehen.
Aber alles der Reihe nach. Wegen widersprüchlicher Angaben in den Medien machte ich mich am Mittwoch bei einem der zuständigen Ministerien schlau, ob die Frage nach einer Testpflicht in Lebensmittel-Geschäften nach der Ministerpräsidenten-Konferenz vom Tisch ist oder nicht. Die Antwort aus ministerialem Mund war, dass man es selbst nicht genau sagen könne. Also tat ich meine Pflicht als Journalist und befragte dazu Seibert. Der las aus dem Beschluss der Konferenz vor – an einer Stelle, wo Örtlichkeiten mit Testpflicht aufgezählt werden. Und keine Lebensmittel-Läden darunter sind. Was Seibert verschwieg: An anderer Stelle heißt es im gleichen Papier: „Wer nicht geimpft ist, muss sich absehbar regelmäßig testen lassen, wenn er in Innenräumen mit anderen Menschen zusammentrifft, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern.“
Da an der einen Stelle nicht steht, dass die Aufzählung abschließend ist, und die Definition an der anderen Stelle klar auch Lebensmittelgeschäfte einschließen kann, wollte ich von Seibert klipp und klar wissen, ob er eine Testpflicht für Lebensmittelgeschäfte ausschließen könne oder nicht. Wie so oft wand er sich um eine Antwort (nachzulesen im Wortlaut hier). Ich schrieb in meinem Beitrag: „Auf mein mehrfaches Nachhaken heute auf der Bundespressekonferenz antwortete Merkels Sprecher Seibert, alles sei eindeutig. Genau das ist es in meinen Augen aber nicht. So wie ich seine Antworten interpretiere, ist alles unklar und die Option, den Lebensmitteleinkauf für Ungeimpfte von einem Test abhängig zu machen, ist nicht vom Tisch. Aber machen Sie sich selbst ein Bild: Sehen Sie sich den Wortwechsel hier in meinem aktuellen Video von der Bundespressekonferenz an – oder lesen Sie es unten im Wortprotokoll nach.“
Genau das ist in meinen Augen sauberer, fairer Journalismus. Umso überraschter war ich, als Seibert dann heute extra noch einmal das Wort ergriff für eine Attacke auf mich (siehe hier). Er sagte: „Ich möchte zu einem anderen Coronathema zurückkommen, das Sie, Herr Reitschuster, am Montag aufgeworfen hatten. Sie hatten nach einer möglichen Testpflicht für Lebensmitteleinkäufe gefragt. Ich hatte Ihnen daraufhin sehr genau vorgelesen, für welche Bereiche des Lebens es Tests im Sinne der 3G-Regel geben soll. Nun sind Sie in ihrem Blog dennoch dabei, Menschen zu verunsichern, dass es eine solche Testpflicht für Lebensmitteleinkäufe geben könnte.“
Den gesamten Dialog lesen Sie unten – leider war er unfair, da der Vorsitzende mir das Mikrophon nicht anschaltete und ich mich nicht auf Augenhöhe wehren konnte. Dass ein Vorsitzender, der selbst Journalist ist, hier den Regierungssprecher vor kritischen Nachfragen zu heftigen Vorwürfen schützt, halte ich für einen neuen Tiefpunkt in der journalistischen Kultur in der Bundespressekonferenz. Es sagt viel über das Selbstverständnis des Vorstands dieses ausschließlich aus Journalisten bestehenden Vereins aus. Ebenso wie die Aussage des Vorsitzenden, das Thema würde die anderen Kollegen „jetzt weniger interessieren“. Ich denke, die Lebensmittelversorgung der Menschen sollte Journalisten sehr wohl interessieren.
Den Vorwurf der Verunsicherung muss ich an Seibert zurückgeben. Der Beschluss ist zweideutig, seine eigenen Ministerien konnten ihn nicht deuten auf Nachfrage von mir, und er drückte sich um eine klare Aussage. Genau das verunsichert die Bevölkerung. Mir genau das dann vorzuwerfen, wenn mein Mikrophon abgeschaltet ist, im Windschatten des Vorstands, halte ich – diplomatisch ausgedrückt – für extrem schlechten Stil. Im Fußball würde man von einem groben Foul sprechen.
Nachdem Merkel mit Spott statt mit Fakten auf meine Fragen antwortete, ist offenbar auf der nach unten offenen Richterskala für dreisten Umgang mit Journalisten eine neue Ebene erreicht. Für Journalismus-Studenten späterer Jahrgänge werden Veranstaltungen wie die heutige Bundespressekonferenz sicher ein wertvolles Anschauungsmaterial bei der journalistischen Vergangenheitsbewältigung sein. Sie werden sich wundern und ihre Professoren fragen, wie es so weit kommen konnte. Und die werden wohl antworten, dass alle doch nur das Beste wollten.
Sehen Sie hier meinen Video-Bericht von der heutigen Bundespressekonferenz (und hier die gesamte Veranstaltung in ganzer Länge):
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SEIBERT: Ich möchte zu einem anderen Coronathema zurückkommen, das Sie, Herr Reitschuster, am Montag aufgeworfen hatten. Sie hatten nach einer möglichen Testpflicht für Lebensmitteleinkäufe gefragt. Ich hatte Ihnen daraufhin sehr genau vorgelesen, für welche Bereiche des Lebens es Tests im Sinne der 3G-Regel geben soll. Nun sind Sie in ihrem Blog dennoch dabei, Menschen zu verunsichern, dass es eine solche Testpflicht für Lebensmitteleinkäufe geben könnte.
Da will ich einfach noch einmal sagen: Der Beschluss von Bund und Länder ist eindeutig die Liste. Das kann jeder nachlesen. Wir haben sie ja auch immer wieder vorgetragen. Ich erinnere einfach noch einmal daran: Der Zugang zur Basisversorgung hat im gesamten Verlauf der Pandemie, seit Anfang 2020, jedem zu jeder Zeit offen gestanden. Auch in den schwierigsten Zeiten der Pandemie waren Lebensmittelgeschäfte nie für irgendjemanden geschlossen. Solche Befürchtungen entbehren wirklich jeder Grundlage. Das will ich nur zur Beruhigung oder zur Richtigstellung sagen. Ich dachte eigentlich, dass es am Montag schon ziemlich klargeworden sei.
ZURUF REITSCHUSTER: Sie haben das am Montag nicht ausgeschlossen, als ich Sie gefragt hatte.
SEIBERT: Nein, das habe ich nicht. Ich habe Ihnen genau vorgelesen, was ich jetzt, glaube ich, nicht noch einmal tun möchte: Tests sollen Voraussetzungen sein für Und dann kommen die Punkte a) bis f). Das ist der Beschluss von Bund und Ländern. Das andere habe ich Ihnen jetzt gesagt.
ZURUF REITSCHUSTER: Ich habe Sie gefragt
VORS. SZENT-IVÁNYI: Pardon, Herr Reitschuster, können Sie das bitte nachher bilateral klären und nicht hier vor versammelter Mannschaft,
ZURUF REITSCHUSTER: Wenn ich angesprochen werde
VORSITZENDER SZENT-IVÁNYI: Weil das die anderen Kollegen jetzt weniger interessiert.
ZURUF REITSCHUSTER: Wenn man gegen mich Vorwürfe erhebt, dann muss ich fairerweise auch
VORS. SZENT-IVÁNYI: Ich habe Ihnen ja die Möglichkeit gegeben, sich zu äußern, und das haben Sie
ZURUF REITSCHUSTER: (ohne Mikrofon, akustisch unverständlich)
VORSITZENDER SZENT-IVÁNYI: Nein, ich habe, weil Sie laut genug geredet und sich das Wort selbst genommen haben.
ZURUF REITSCHUSTER: (ohne Mikrofon, akustisch unverständlich)
VORSITZENDER SZENT-IVÁNYI Ich habe Sie zu Wort kommen lassen, Herr Reitschuster.
ZURUF REITSCHUSTER: Aber es ist nicht beantwortet.
VORSITZENDER SZENT-IVÁNYI: Können Sie jetzt bitte Schluss machen? Danke!
ZURUF REITSCHUSTER: Unter Protest!
Bild: Shutterstock
Text: br