Hand aufs Herz: Haben Sie es nicht auch satt, ständig negative Nachrichten zu lesen? Bei denen man denkt, es seien „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“? Was sie aber leider nicht sind – denn es sind reale Neuigkeiten aus Deutschland. Zum Jahresanfang möchte ich Ihnen ein Kontrastprogramm bieten, aus meiner Zeit in Russland. Zum Entspannen und Schmunzeln. Voilà – eine Geschichte von 2008 – die in meinen Augen heute noch aktueller ist als damals:
„Angsthase“ und „Pessimist“ sind die eher harmloseren Ausdrücke, die ich mir anhören muss. Böse Zeitgenossen verdrehen ihre Augen, sehen mich an, als hätte ich einen Ausschlag, lachen hämisch und meinen mitleidig: „Na, dann viel Spaß“. Ein Freund triezte mich sogar schon als „Goldfinger“. Das war nicht unbedingt nett gemeint, auch wenn ich ein großer Fan von Gert Fröbe bin, der diesen Bösewicht im gleichnamigen James-Bond-Film von 1964 verkörperte. Anders als Auric Goldfinger, der selbst seine Gespielinnen vergoldet am liebsten hatte, verbindet mich keine leidenschaftliche Beziehung zu dem gelb glänzenden Edelmetall. Dass ich jetzt plötzlich dem Charme des Goldes erliege, ist vielmehr auf das zurückzuführen, was ich vor vielen Jahren in Russland erlebt habe.
Es muss am 22. Januar 1991 gewesen sein, als ich gerade im Restaurant Praga am Arbat saß. Valentina, ein dauergelockter Engel im schwarzen Rock und weißer Schürze, hatte in diesen eher hungrigen Tagen wieder einmal Tischlein-Deck-Dich gespielt: Irgendwo muss ich ihre breite russische Seele und wohl auch ihren Schwiegermutter-Instinkt gerührt haben, als ich mich, förmlich ein Strich in der Landschaft, während ihrer Schicht an der gewaltigen Warteschlange vorbei in die Lobby des Praga geschlichen hatte. Für zehn Dollar deckte sie mir seither regelmäßig einen Tisch auf, wie ihn sonst in diesen harten Perestroika-Zeiten mit leeren Geschäften nur Apparatschiks und Untergrund-Größen erwarten durften: Krim-Sekt, Kaviar, georgischer Käse, moldauischer Wein, die sowjetische Variante des modernen All-Inclusive.
Als ich mich an besagtem Abend an all die Köstlichkeiten machte in dem festen Vorsatz, mich wieder einmal für mindestens drei Tage im Voraus satt zu essen, fühlte ich mich plötzlich in eine Wechselstube versetzt: Hatten die wichtigen und mehr oder weniger soliden Herren an den Nachbartischen früher nie die geringste Aufmerksamkeit an mich, den armen Studenten aus dem Westen, vergeudet, so kamen nun gleich mehrere zu mir an meinen Tisch und fragten mich mit Engelszungen, ob ich ihnen nicht einen 50 oder 100-Rubel-Schein wechseln könne, da sie – zumindest in Sachen Kleingeld – knapp bei Kasse seien. Ich hatte selbst nur einen 100-Rubel-Schein in der Tasche und konnte ihnen nicht dienen.
Je später der Abend, umso mehr und um so aufgeregter bestellten die anderen Gäste. Irgendwann kam Valentina, meine kulinarische Fee, mit einer derart finsteren Miene aus der Küche, dass ich schon fast befürchtete, der Käse sei aus oder der Chefkoch habe beim Flambieren schwere Verbrennungen erlitten. Doch was mir die Arme zu sagen hatte, war noch viel schlimmer: Gerade sei ein Erlass Gorbatschows veröffentlicht worden, der ab Mitternacht alle 50- und 100-Rubel-Scheine für ungültig erkläre. Den weit aufgerissenen Augen meiner ärmsten Valentina war zu entnehmen, dass sie offenbar nicht alle Gäste wie mich gegen „Valuta“, also Devisen, verköstigte, und auch selbst der regierungsamtlichen Willkür nicht ganz unbeschadet entkommen würde. Obwohl ich schon in ägyptischen Mittelklasse-Hotels Urlaub machte und auch in Londoner Pubs zu Besuch war, habe ich in meinem Leben noch nie erlebt, dass so viel und so schnell getrunken und gegessen wurde wie im Praga an diesem Abend: Die Gäste schienen es geradezu für eine Frage der Ehre zu halten, ohne Rücksicht auf gesundheitliche Spätfolgen so viel von ihren 50- und 100-Rubel-Scheinen auszugeben und zu verköstigen, wie nur irgendwie möglich – Hauptsache, dem Staat im letzten Moment noch ein Schnippchen zu schlagen.
Die Inflation galoppierte
Mit der Reform wollte Gorbatschows Ministerpräsident Pawlow, später als Putschist kurzzeitig in Haft, offiziell gegen „Falschgeld“ vorgehen, was natürlich einem Schießen mit SS-20-Raketen auf Spatzen bzw. schräge Vögel gleichgekommen wäre. In Wirklichkeit ging es vor allem darum, den Schwarzmarkt zu bekämpfen – nach dem Motto, dass ehrenhafte Bürger ohnehin keine großen Scheine besitzen, und sie ja schließlich in geringen Mengen gegen neue tauschen dürften – tagelanges Schlangestehen vor den Staatsbanken inklusive. Auch wenn ich damals mit einem Hunderter – er muss wohl um die 30 Mark wert gewesen sein – noch halbwegs mit einem blauen Auge davon kam, saß der Schreck sehr tief: Hatte ich vorher meine Großmutter immer milde belächelt, wenn sie mir von ihren Erlebnissen mit der Inflation in den 20er Jahren erzählt hatte, musste ich nun mit einer gewissen Ehrfurcht an ihre Berichte denken.
Und zwar immer öfter. Denn mein 100-Rubel-Schein, der damals über Nacht per Ukas wertlos wurde, wäre auch so bald kaum noch für eine Schachtel Streichhölzer gut gewesen: Die Inflation galoppierte in diesen wilden Jahren. Und bis heute mache ich mir Vorwürfe, dass ich damals meinen Vermieter Sascha und seine Mutter, Anna Georgiewna nicht hartnäckig genug beraten habe. Anna Georgiewna, gebeugt von der Last der Jahre und Veteranin der sozialistischen Arbeit (keine Beschreibung, sondern eine offizielle Auszeichnung) hatte damals eine solide Summe als so genanntes „Sarggeld“ auf die Seite gebracht, ich glaube, es müssen rund 6.000 Rubel gewesen sein, mehr als zwei Jahresgehälter: Damit sollte ihr Sohn Sascha, wegen einer Behinderung arbeitslos, später ihre Beerdigung finanzieren.
Anna Georgiewna und Sascha, Gott habe sie selig, verstanden nie viel von Geld, und wollten das auch gar nicht; wenn ich sie als meine „Vermieter“ bezeichne ist das deshalb streng genommen üble Nachrede, nahmen sie doch von mir nie auch nur eine Kopeke, obwohl sie nur Freunde von Freunden von mir waren. Im Gegenteil: Sie verköstigten mich auch noch nach Kräften, und wehrten sich jedes Mal hartnäckig, wenn ich mich irgendwie revanchieren wollte. Ganz der Westler, dem nichts heilig ist, riet ich Anna Georgiewna und Sascha, ihr „Sarggeld“ lieber auszugeben, bevor es die Inflation auffrisst. Als Kronzeugin musste meine Großmutter und ihre Geschichte von der Inflation in Deutschland herhalten. „Sascha träumt ein Leben lang von einem Videorecorder, erfüllen Sie sich diesen Traum, bevor Sie für das Geld nur noch einen Laib Brot kaufen können“, sagte ich, wieder und wieder. Doch nicht oft genug. Ein Jahr später konnten Anna Georgiewna und Sascha von den 6.000 Rubeln zwar noch ein Paar Laib Brot kaufen, aber nicht einmal mehr ein Kilo Fleisch.
Mein alter Käfer...
So oft ich die beiden danach sah, so oft erinnerten sie mich an das „Sarggeld“. „Hätten wir nur auf Dich gehört“, sagte Anna Georgiewna, und die für ihr gegerbtes Gesicht viel zu jungen, hellblauen Augen füllten sich mit Tränen. „Nein, ich hätte hartnäckiger sein müssen“, versuchte ich sie zu trösten. Dabei bin ich auch selbst nicht glimpflich davon gekommen: Meinen alten Käfer, mit dem ich 1991 aus Deutschland nach Russland gekommen war, hatte ich für 1.000 Mark versichert, was damals wohl mehr war als mein ganzes Vermögen. Als mein Herzstück knapp 12 Monate später zu meinem Entsetzen wie chinesisches Feuerwerk lichterloh abbrannte, bekam ich für den Totalschaden kaum noch 100 Mark. Weil ich die Versicherung in Rubel abgeschlossen hatte, war sie fast wertlos geworden.
Nach all dem Erlebten komme ich mir heute denn auch oft vor, als stecke ich in der Haut meiner Oma. „Du lebst in einer anderen Welt, Deine Ängste sind veraltet, heute würde sich so etwas nie wiederholen“, hatte ich mir früher immer leise gedacht, wenn sie mir erzählte, dass Papiergeld eben doch nur Papier ist. „Du lebst in einer anderen Welt…“ – diese Gedanken sehe ich heute hinter dem freundlichen Lächeln meiner Freunde, wenn ich ihnen erzähle, warum ich heute ein gewisses Misstrauen habe gegen unsere Währung. Wenn ich jetzt in den Nachrichten höre, wie viele Billionen Dollar die USA wieder für Konjunktur-Pakete ausgeben wollen, stelle ich mir unwillkürlich vor, wie US-Notenbankchef Ben Bernanke in der Druckerei auf einen Schalter drückt und mit einem breiten Grinsen die Maschinen anwirft, damit sie Millionen neuer Dollarscheine drucken. Und ich versuche gar nicht daran zu denken, dass die Staatsverschuldung heute so hoch ist, dass sie der Staat kaum noch zurückzahlen kann – und deshalb die Versuchung immer größer werden wird, all diese Schulden einfach zu annullieren, durch eine Währungsreform oder Inflation.
Panisch mögen solche Gedanken sein, unrealistisch, unwissenschaftlich, und weiß der Teufel was noch. Aber wer einmal erlebt hat, wie sein Geld im Geldbeutel wertlos geworden ist, bekommt diese Gedanken nicht mehr los. Und inzwischen gibt es sogar einige ganz ketzerische Wirtschafts-Experten wie Max Otte, die beklagen, dass die meisten Manager und Banker von heute Krisen und Inflation bislang eben nur aus dem Geschichtsbuch und aus Omas Erzählungen kennen – und dass sie deswegen sträflich naiv seien und die Risiken unterschätzten.
Es mag altmodisch sein, naiv und unvernünftig – ich bin auf Nummer sicher gegangen und habe mir von meinen Ersparnissen, so bescheiden sie auch sind, auch einen Batzen Gold gekauft. Als ich das unlängst einem Banker erzählte, schüttelte der mit dem Kopf und sah mich an, als sei ich ein Jünger einer obszönen Sekte. Doch ich hatte mich gewappnet: „Wenn Sie heute eine Zeitreise machen müssten ins Jahr 2050, was würden Sie mitnehmen – Aktien, Geldscheine, oder Gold?“ Gold sei totes Kapital, entgegnete mir der Banker, und außerdem unterliege es großen Wertschwankungen. Es folgte ein ganzer Schwall von Argumenten gegen das gelbe Edelmetall. Sicher hat der Mann Recht. Er ist schließlich vom Fach. Doch all die Nachteile, die er aufzählte, sind eben quasi die Gebühr, die ich für den ruhigeren Schlaf bezahle, sage ich mir. Und mehr als ein Paar Laib Brot, wie meine Vermieter Sascha und Anna Georgiewna damals für ihr Erspartes noch bekamen, werden meine paar Unzen Gold garantiert auch in dreißig Jahren noch wert sein.
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