Die neuen Wahlrecht-Phantasien der beliebten Ampelkoalition Was ist das wahre Ziel der Neuregelung?

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Rießinger

Der Phantasie bei der Gestaltung des Wahlrechts sind kaum Grenzen gesetzt. So hat man bei der Wahl des preußischen Abgeordnetenhauses seit 1849 das Dreiklassenwahlrecht praktiziert, bei dem die Wähler nach ihrem Steueraufkommen in drei Klassen eingeteilt wurden und jede der drei Klassen die gleiche Anzahl an Wahlmännern stellte, auch wenn beispielsweise noch 1908 die Klasse der am höchsten Besteuerten nur vier Prozent der Wähler umfasste. Ähnliches wäre auch heute denkbar; man könnte beispielsweise die Wählerschaft in Impfklassen einteilen und das Gewicht der Stimmen von der Anzahl der ertragenen Covid-Impfungen abhängig machen. Oder auch, um die aktuell favorisierte Krise ins Spiel zu bringen, den CO2-Fußabdruck eines jeden Wahlberechtigten bestimmen und zur Gewichtung seiner Stimme verwenden – je schlimmer der CO2-Ausstoß, desto niedriger die Stimmengewichtung.

Ganz so weit ist die beliebte Ampelkoalition bei der Gestaltung des neuen Wahlrechts für den Deutschen Bundestag nicht gegangen, sie hat sich nur bemüht, unliebsame Konkurrenten von den Futtertrögen des Parlaments fernzuhalten. Insbesondere die Sitze der CSU sind das Objekt der koalitionären Begierde, dessen man sich mit einem einfachen Trick bemächtigen will. Bei der Bundestagswahl 2021 erzielte die nur in Bayern antretende CSU zwar 2.788.048 Erststimmen, was immerhin zum Gewinn von 43 der vorhandenen 46 bayrischen Wahlkreise ausreichte, aber nur 2.402.827 Zweitstimmen und damit 5,2 Prozent der bundesweit abgegebenen gültigen Wählerstimmen. Der Schritt von 5,2 Prozent zu weniger als 5 Prozent ist nicht weit, mit nur 90.000 Stimmen weniger wäre die CSU an der altbekannten Fünf-Prozent-Hürde gescheitert – und doch auch wieder nicht gescheitert, denn noch 2021 hätte nicht einmal die wortreiche und kenntnisarme Völkerrechtlerin Annalena Baerbock am Gewinn der 43 Direktmandate rütteln können.

Artikel 38

An diesem Punkt setzt das neue von der Ampelkoalition beschlossene Bundestagswahlrecht an. Wer in Zukunft bundesweit nicht wenigstens fünf Prozent der gültigen Wählerstimmen erzielt, hat jedes Recht auf jedes Direktmandat verwirkt. In diesem Fall wäre also die CSU zwar in 43 Wahlkreisen als Sieger hervorgegangen, aber die eigentlich gewählten Direktkandidaten hätten sich eine freundliche Urkunde über ihren vermeintlichen Sieg ausstellen lassen und Berlin allenfalls als Touristen besuchen können, nicht aber als Abgeordnete – ihre erzielten Erststimmen hätten bei der Besetzung des Bundestages keine Rolle gespielt.

Und nicht nur das. Sollte eine Partei mehr Wahlkreise erobert haben, als sich aus ihrer Zweitstimmenzahl ergibt, so werden etliche der eigentlich direkt gewählten Abgeordneten nicht in den Bundestag einziehen. Wenn somit das nächste Parlament aus 630 Abgeordneten besteht und eine Partei wie die CSU bundesweit genau 5 Prozent der Wählerstimmen für sich verbuchen kann, dann stehen ihr auch nur 5 Prozent der Parlamentssitze zu, das sind streng genommen 31,5. Ob man das aber als 31 oder 32 interpretiert, spielt für das Prinzip keine Rolle, denn auch 32 ist kleiner als 43, und beim Gewinn von 43 Wahlkreisen würden mindestens 11 dieser gewonnenen Wahlkreise sofort wieder verloren gehen.

Man darf füglich bezweifeln, dass diese neue Regelung Artikel 38 des Grundgesetzes entspricht, denn dort heißt es: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“ Diese Wahl ist aber nicht mehr gleich, da manche Erststimmen gelten und andere nicht. Es steht da nämlich nicht, dass Parteien oder Listen gewählt werden, sondern Abgeordnete, und die Wahl der Abgeordneten erfolgt unter anderem über die Erststimme – zumal es auch heißt, die Abgeordneten seien „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Listen und Parteien haben kein Gewissen. Wenn nun also in einem Wahlkreis die Stimmen für den Wahlkreissieger tatsächlich zählen, in einem anderen aber nicht, ist das Prinzip der Gleichheit und damit auch Artikel 38 des Grundgesetzes verletzt. Doch diese Kleinigkeit muss niemanden stören. Schließlich erfreuen wir uns seit einiger Zeit eines Bundesverfassungsgerichts, dessen vornehmste Aufgabe darin besteht, die Regierung vor den Zumutungen des Grundgesetzes zu schützen – eine Zielsetzung, die es mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz verbindet. Dass solch ein Gericht das neue Wahlrecht als verfassungswidrig brandmarkt, ist ähnlich wahrscheinlich wie das plötzliche Auftauchen ökonomischer Kompetenz bei Robert Habeck.

Das eigentliche Ziel der neuen Regelung

Doch was ist das Ziel der neuen Regelung? Das tatsächliche Ziel ist die Reduzierung oder gar vollständige Eliminierung des gegnerischen Einflusses, vor allem in Gestalt der Linkspartei und der CSU. Aber das offizielle Ziel ist ein anderes: Es gehe darum, erfahren wir von der Grünen-Abgeordneten Britta Haßelmann, den Bundestag „auf der Grundlage des Verhältniswahlrechts“ zu verkleinern und dafür zu sorgen, „dass die Mehrheit im Parlament von denen dargestellt werden könne, die bei der Wahl auch die Mehrheit der Stimmen erhalten haben.“ Hehre Ziele, ohne Frage. Dass man sie auf diese Weise erreicht, ist eher zweifelhaft.

Denn einen Teilsatz des zitierten Artikels 38 über die Abgeordneten hatte ich noch nicht erwähnt: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes“. Das ganze Volk sollen sie vertreten und nicht nur einen Teil, und das hat Konsequenzen. Nehmen wir beispielsweise an, dass nur 80 Prozent der Wahlberechtigten von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen und die restlichen 20 Prozent der politischen Klasse die Aufmerksamkeit widmet, die sie in Wahrheit verdient, nämlich keine. Die Verteilung der Sitze im Parlament erfolgt dann aber so, dass nur die abgegebenen gültigen Stimmen als Gesamtzahl der Stimmen gewertet werden und man daher so tut, als hätten die gleichgültigen oder verärgerten 20 Prozent der Wählerschaft gerade so abgestimmt wie die tatsächlich aktiven Wähler. Das haben sie aber nicht. Indem man 80 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen dazu verwendet, 100 Prozent der Sitze unter den Kandidaten bzw. den Parteien aufzuteilen, ignoriert man schlicht den Willen der wahlverweigernden Bevölkerungsteile. Die Abgeordneten sind „Vertreter des ganzen Volkes,“ aber in diesem Fall werden die verweigernden 20 Prozent eben nicht vertreten, sondern in ihrem Gewicht genau den Kandidaten und Parteien zugeschlagen, denen sie ihre Stimme verweigert haben.

Neues Modell eines klareren Verhältniswahlrechts

Man kann das ändern, indem man ein klareres Verhältniswahlrecht entwickelt, wie ich es jetzt vorschlagen werde. Ich gehe dabei von den Ergebnissen der Bundestagswahl 2021 und von der neu festgelegten Parlamentsgröße von 630 Sitzen aus. Wahlberechtigte waren in stattlicher Zahl vorhanden, es gab genau 61.181.072. Tatsächlich mit ihrer Zweitstimme gewählt haben 46.854.508, wobei 412.485 ungültige Stimmen verzeichnet wurden und wir auf die Zahl von 46.442.023 abgegebenen gültigen Stimmen kommen. Auf die darf man sich aber nicht beschränken, denn das ganze Volk soll vertreten werden, nicht nur der Volksteil, der gültige Stimmen abgegeben hat. Das Mindeste, was man tun kann, besteht also darin, sich an der Zahl der Wahlberechtigten zu orientieren, denn sie alle haben ein Recht auf Vertretung, und manche haben sich dafür entschieden, keine der vorgeschlagenen Parteien mit ihrer Zustimmung zu beehren. Wenn aber ein Parlament mit 630 Mitgliedern eine Wählerschaft von 61.181.072 Wahlberechtigten vertreten soll, dann braucht es für einen Sitz im Parlament genau 61.181.072/630 = 97.112,8127 Wählerstimmen. Nur wer knapp 97.113 Wähler von sich bzw. seiner Partei überzeugen konnte, hat ein Recht auf einen Sitz im Bundestag – und selbstverständlich muss dieser Sitz im Rahmen eines echten Verhältniswahlrechts auch erteilt werden, denn nur so kann die Vertretung der gesamten Wählerschaft erreicht werden.

Sehen wir uns nun an, zu welchen Ergebnissen diese schlichte Methode führt. Um zu wissen, wie viele Sitze einer Partei zustehen, muss man nur die erreichte Stimmenzahl durch die eben errechneten 97.112,8127 teilen, sofern diese Partei das nötige Minimum an Wählerstimmen erreicht hat. In der folgenden Tabelle habe ich die Parteien aufgeführt, die das beschriebene Kriterium der Mindestzahl an Wählerstimmen erfüllen, dazu ihre Anzahl an Zweitstimmen sowie die daraus resultierende Anzahl an Parlamentssitzen.

Zum Beispiel muss ich für die CDU die 8.775.471 durch die bekannte Zahl 97.112, 8127 teilen, um auf 90,3637 Parlamentssitze zu kommen. Man kann sich über das Detail streiten, ob man jede beliebige Sitzzahl auf die nächste ganze Zahl aufrundet, auf die nächstkleinere abrundet oder die mathematische Rundung verwendet, die ich hier eingesetzt habe: Das macht vielleicht einen Unterschied von einer Handvoll Sitzen, eher weniger, und ich will dem Gesetzgeber noch ein wenig Spielraum für Eigeninitiative belassen.

Entscheidend ist nämlich etwas anderes. Addiert man die berechneten Sitzzahlen, so ergibt sich gerade einmal 473. Nicht 630 Sitze werden besetzt, sondern nur 473, weil die nicht abgegebenen Wählerstimmen eben nicht auf die verschmähten Parteien verteilt werden, sondern jede Liste nur die Stimmen zählen und auf Sitze umrechnen darf, die sie wirklich erhalten hat. Auf diese Weise ist das Ziel der Verkleinerung des Bundestages schnell erreicht, nur durch den Einsatz von Grundrechenarten.

Doch das ist nicht alles. Man könnte nun auf die Idee kommen, diese 473 Sitze als die Gesamtheit aller derzeitigen Bundestagssitze zu betrachten, aber das wäre ein fataler Fehler. Wie sieht es beispielsweise mit der Kanzlermehrheit aus? Um zum Bundeskanzler gewählt zu werden, muss man im ersten Wahlgang mehr als die Hälfte der Stimmen aller Abgeordneten auf sich vereinigen – nicht nur der vorhandenen, sondern aller Abgeordneten des Bundestages. Nun soll aber der Bundeskanzler nicht nur die Wähler regieren, die sich für eine Stimmabgabe entschieden haben, sondern alle. Und das sind auch die, von denen keine Stimme an die vorhandenen Parteien gegeben wurde. Um die Prinzipien des Verhältniswahlrechts und der oben angesprochenen Vertretung des ganzen Volkes nicht zu verletzen, muss die Kanzlermehrheit sich auch auf alle 630 potentiell vorhandenen Stimmen im Parlament beziehen, denn sonst würden die Wähler, die ihre Missgunst durch Nichtwählen ausgedrückt haben, wieder allen anderen zugeschlagen werden und man dürfte nicht mehr von konsequenter Verhältniswahl sprechen, schon gar nicht von einer Vertretung des ganzen Volkes. Die 50-Prozent-Hürde für die Kanzlerwahl muss sich auf alle Wahlberechtigten und daher auf alle 630 möglichen Sitze beziehen und liegt daher bei 315 Parlamentariern, und die Kanzlermehrheit entsprechend bei 316. Das dürfte den Ampelkoalitionären nicht unbedingt behagen, weil man der Tabelle entnehmen kann, dass sie bei Anwendung dieser Methode nur auf 249 Stimmen kommen, aber wer ein konsequentes Verhältniswahlrecht, einschließlich Vertretung des ganzen Volkes, haben will, muss die Folgen tragen.

Wir wissen jedoch alle, dass nur in seltenen Fällen alle Parlamentsmitglieder bei Abstimmungen verschiedener Art im Plenum anzutreffen sind. Wie soll man vorgehen, wenn von den möglichen 473 Abgeordneten vielleicht nur 300 an einer Abstimmung teilnehmen? Wieder könnte man annehmen, dass die erforderliche Mehrheit dann bei 151 Stimmen liegt, doch diese einfache Idee hat sich schon bei der Kanzlermehrheit als prinzipienwidrig erwiesen. Die 50-Prozent-Hürde liegt, falls 473 Stimmen abgegeben werden, bei 315 Stimmen. Völlig konsequent wäre es, im Sinne der Vertretung des ganzen Volkes für jede beliebige Abstimmung die daraus resultierende Stimmenzahl von 316 für das Erreichen der Mehrheit zu verlangen – dass man auf diese Weise vermutlich nur selten zu einem Beschluss käme, muss kein Schaden sein, denn es ist besser, nichts zu beschließen, als Unfug zu beschließen.

Ich will aber nicht kleinlich sein und einen abgeschwächten Vorschlag präsentieren. Wenn die 50-Prozent-Hürde bei 473 Beteiligten gerade 315 Stimmen ausmacht, dann kann man sie bei 300 Beteiligten eben nach den Prinzipien der Proportionalität ansetzen, also 300/473 von 315 verlangen. Das wären dann 199,7886. Und da man die 50 Prozent überschreiten muss, nimmt man die nächsthöhere ganze Zahl als nötige Bedingung für die Mehrheit an, bei 300 Teilnehmern sind das dann 200 Stimmen und nicht etwa nur 151. Das macht die Mehrheitsfindung nicht leichter, aber erstens kann auf diese Weise vielleicht allzu grober Unsinn verhindert werden, weil die Mehrheitshürden höher sind, und zweitens hatte ich es schon erwähnt: Wer ein konsequentes Verhältniswahlrecht, einschließlich Vertretung des ganzen Volkes, haben will, muss die Folgen tragen.

Wie man sieht, kann man also die nötige Stimmenzahl zur Erlangung einer Mehrheit bei einer Abstimmung leicht berechnen. Man teilt die Anzahl der zur Abstimmung vorhandenen durch die Anzahl der tatsächlich gewählten Abgeordneten, multipliziert mit 315 und nimmt dann die nächstgrößere ganze Zahl. Ich gebe zu, dass diese Bestimmung des Mehrheitskriteriums wohl die meisten Mitglieder des Präsidiums des Bundestages überfordern würde, vor allem dann, wenn sie der grünen Partei entstammen.

Es stellt sich also heraus, dass durch die Beachtung einfacher Prinzipien nicht nur der Bundestag verkleinert, sondern auch die Bereitschaft seiner Mitglieder zu Diskurs und Verhandlung eventuell gesteigert würde, weil Mehrheiten sich nicht mehr von alleine ergeben. Allerdings habe ich bisher noch auf eine Fünf-Prozent-Klausel verzichtet, um die Sache nicht unnötig zu verkomplizieren. Das wird sich jetzt ändern, ich betrachte nun die gleiche Methode unter Berücksichtigung der Fünf-Prozent-Klausel, auch wenn damit das Prinzip der konsequenten Verhältniswahl deutlich eingeschränkt würde. Zur Konkurrenz zugelassen sind jetzt also nur noch Parteien, die mindestens fünf Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen erzielt haben – denkbar wäre es auch, die Klausel auf alle Wahlberechtigten zu beziehen, aber das soll man im Bundestag selbst ausrechnen. Sobald man weiß, dass es bei der Bundestagswahl 2021 genau 46.442.023 gültige abgegebene Stimmen gab, kann man leicht sehen, dass neben der Partei die Linke auch alle Parteien aus der Wertung fallen, die in der obigen Tabelle unterhalb der CSU stehen, denn fünf Prozent von 46.442.023 sind 2.322.101,15. Damit kommt man zu der folgenden neuen Tabelle.


Da nun noch weitere Wählerstimmen nicht in die Berechnung der Sitze eingehen, sich aber nichts daran geändert hat, dass man auf der Basis aller wahlberechtigten 97.112, 8127 Stimmen für einen Sitz im Bundestag braucht, hat sich an der Sitzzahl für die verbliebenen Parteien nichts geändert: Ansonsten würden wieder die verloren gegangen Wählerstimmen an die ins Parlament gelangten Parteien verteilt, was unbedingt auszuschließen ist. Daher hat unser Parlament nun mit der Fünf-Prozent-Hürde nur noch 413 Abgeordnete und nicht mehr 473 wie vorher: Ich lasse nur selbst errungene Sitze gelten. Und selbstverständlich hat die Ampelkoalition immer noch 249 Sitze, weil sich die Anzahl ihrer Wählerstimmen nicht geändert hat, während die Kanzlermehrheit aus den oben genannten Gründen nach wie vor bei 316 Stimmen liegt. Lässt man also politische Konkurrenten auf dem Weg des Wahlrechts verschwinden, wird das Leben nicht unbedingt leichter – im Gegenteil: Da zur Erlangung der Kanzlermehrheit 316 Abgeordnete nötig sind, im Parlament aber weniger potentielle Partner zur Mehrheitsbeschaffung angetroffen werden, könnten die Probleme eher größer statt kleiner werden.

Das sieht man noch deutlicher, sobald man wieder davon ausgeht, dass bei den üblichen Abstimmungen nicht alle Abgeordneten Freude an einer Plenarsitzung haben. Die nötige Rechenvorschrift hatte ich schon entwickelt: Man teile die Anzahl der zur Abstimmung vorhandenen durch die Anzahl der tatsächlich gewählten Abgeordneten, multipliziere mit 315 und nehme dann die nächstgrößere ganze Zahl. Im Falle eines Bundestages mit 473 Mitgliedern und 300 anwesenden Parlamentariern musste man, wie berechnet, 200 Gutwillige aufbringen, um eine Mehrheit nach den Prinzipien des Verhältniswahlrechts und der Vertretung des ganzen Volkes nach Artikel 38 GG aufzubringen. Und wenn sich nur noch 413 Abgeordnete im Parlament tummeln dürfen, von denen nur 300 anwesend sind? Dann liegt die 50-Prozent-Hürde bei 300/413*315=228,81, weshalb für eine erfolgreiche Abstimmung 229 Unterstützer gebraucht werden. Ohne Fünf-Prozent-Hürde waren es nur 200, jetzt sind es 229, und das, obwohl unliebsame politische Konkurrenz beseitigt worden ist. Sobald man die Fünf-Prozent-Hürde nicht mehr dazu missbrauchen kann, sich die Stimmen und Sitze der ausgeschiedenen Parteien zuzuschanzen, wirkt sie im Sinne der Mehrheitsbeschaffung eher kontraproduktiv.

'Jede Partei ist für das Volk da und nicht für sich selbst'

Mein System hat eine kleine Tücke. Was geschieht, wenn nur noch die Hälfte aller Wahlberechtigten sich zum Gang in Richtung Wahllokal überwinden kann, weil die Auswahl unter den zur Verfügung stehenden Parteien zu häufig zu mentaler Übelkeit führt? Oder wenn die Summe aus Nichtwählern, ungültigen Stimmen und durch eine Fünf-Prozent-Hürde weggefallenen Stimmen mindestens die Hälfte der Anzahl der Wahlberechtigten ausmacht? Das wäre Pech. Da die Kanzlermehrheit unverändert bei 316 Sitzen im Bundestag liegt, aber leider höchstens 315 Abgeordnete das Parlament bevölkern können, weil man auf der Basis der Hälfte der Wahlberechtigten auch nur die Hälfte der Sitze bestücken kann, ist die Wahl eines Bundeskanzlers unmöglich. Das Gleiche gilt für Abstimmungen jeder Art, wenn man sie so behandelt, wie ich es beschrieben habe. Doch das ist kein Mangel. Wenn höchstens die Hälfte der Wahlberechtigten noch eine gültige Stimme abgibt, dann kann man auch nicht mehr davon ausgehen, dass das Volk durch dieses Parlament tatsächlich repräsentiert wird, und sollte sich vielleicht überlegen, wie man die Leute wiedergewinnen kann, bevor man eine nötige Neuwahl durchführt.

„Jede Partei ist für das Volk da und nicht für sich selbst“, schrieb Konrad Adenauer in seinen Erinnerungen. Das mag einmal so gewesen sein, doch diese Zeiten sind lange vorbei. Man kann kaum übersehen, dass sich die politischen Parteien den Staat einhellig zur Beute gemacht haben und sogar Parlamentssitze, die ihnen nicht gehören, unter sich aufteilen. Das neue Wahlrecht der Ampelkoalition ist nur ein weiterer Schritt auf diesem Weg – einem Weg, der sicher nicht zu mehr Demokratie führt und schon gar nicht zu einer besseren Vertretung des Volkes durch die Mitglieder des Bundestages. In einer funktionierenden Demokratie wäre ein Weg dieser Art kaum denkbar. Im heutigen Deutschland dagegen ist alles möglich.

Nach dem, was ich erlebt habe, und meiner Operation, muss ich meine Arbeit deutlich ruhiger angehen und mich schonen. Dazu haben mich die Ärzte eindringlich aufgefordert. Und ich glaube, das bin ich meinen Nächsten, meinem Team und auch Ihnen schuldig. Wir wollen ja noch eine Weile etwas voneinander haben! Und nach drei Jahren mit Vollgas und an vorderster Front hat der Motor etwas Schonung verdient. Umso mehr bin ich Ihnen dankbar für Ihre Unterstützung! Sie ist auch moralisch sehr, sehr wichtig für mich – sie zeigt mir, ich bin nicht allein und gibt mir die Kraft, weiterzumachen! Und sie gibt mir die Sicherheit, mich auch ein wenig zurücklehnen zu können zur Genesung. Auf dass wir noch ein langes Miteinander vor uns haben! Ganz, ganz herzlichen Dank!

Aktuell sind (wieder) Zuwendungen via Kreditkarte, Apple Pay etc. möglich – trotz der Paypal-Sperre: über diesen Link. Alternativ via Banküberweisung, IBAN: DE30 6805 1207 0000 3701 71. Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut.

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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.

Bild: Juergen Nowak/Shutterstock

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