Henryk M. Broder ist in meinen Augen einer der klügsten, wenn nicht der klügste Kopf, den wir derzeit in Deutschland haben. Eine geniale Aussage von ihm ging lawinenartig durch die sozialen Netzwerke: „Wenn ihr euch fragt, wie es damals passieren konnte: weil sie damals so waren, wie ihr heute seid.“ Ich bin sehr froh über das Privileg, mit Henryk freundschaftlich verbunden zu sein und seinen überwältigenden Scharfsinn und seine Ironie zuweilen auch über seine öffentlichen Werke hinaus im privaten Gespräch genießen zu dürfen. Er ist für mich ein Lehrmeister, zu dem ich aufblicke. Umso fassungsloser macht mich, was jetzt geschehen ist.
Fabian P., 17-jähriger Lehrling, hat an einer erlaubten (traurig, dass man das heute schon dazuschreiben muss) Demonstration am 8. Dezember in München teilgenommen. Vorher hat er, wie Broder in der Welt berichtet (leider steht der brillante Artikel hinter einer Bezahlschranke), „mit einem dicken Filzstift auf einen etwa 80 auf 60 Zentimeter großen Pappdeckel eben diesen Satz des großen Journalisten geschrieben. Was daraufhin geschah, ist ungeheuerlich. Und wäre zum Lachen, wenn es nicht derart zum Weinen wäre. Der 17-Jährige beschrieb es in einem Brief an Broder so: „Kurz vor dem Odeonsplatz kamen zwei Polizisten auf mich zu, hielten mich fest und fragten, was das Schild zu bedeuten hat. Ich sagte: ‚Sie wissen genau, was damit gemeint ist.‘ Darauf einer der beiden: ‚Du sagst uns jetzt sofort, was mit dem Schild gemeint ist.‘ Ich wiederholte, das sei doch vollkommen klar. Worauf der Polizist sagte: ,Du bist vorläufig festgenommen, wegen Beleidigung.‘ Ein Kollege habe sich beleidigt gefühlt. Das war alles.“
Weiter schreibt Broder in der Welt, dass „Fabian P. zu einem der in der Nähe parkenden Polizeibusse eskortiert“ wurde: „Dort stellten die Polizisten seine Personalien fest, durchsuchten seine Taschen und konfiszierten das Beweisstück, den 80 auf 60 Zentimeter großen Pappdeckel mit dem Satz: ‘Wenn ihr euch fragt, wie es damals passieren konnte: weil sie damals so waren, wie ihr heute seid.‘ Dann fertigten sie von Hand eine Art Protokoll aus und legten es Fabian P. zur Unterschrift vor. Das Ganze zog sich über eine Stunde hin. Fabian P. durfte seinen Vater anrufen, der schon zu Hause auf ihn wartete, seine Bitte, ihn eine Toilette benutzen zu lassen, wurde abgeschlagen. ‘Das kannst du später zu Hause machen.'“
Offen gestanden fehlen mir angesichts dieser Geschichte einfach die Worte. Broder fehlen sie nicht. Er schreibt: „Dass ein 17 Jahre junger Schüler aus einer – übrigens angemeldeten und genehmigten – Demonstration herausgeholt und gefilzt wird, dass ihm ein Pappdeckel mit einem harmlosen Satz darauf weggenommen wird, dass er sich für etwas verantworten soll, was ich gesagt oder geschrieben habe, das fand ich so absurd und so irre, dass ich mich gleich auf den Weg nach München machte, zu Fabian und Walter P.“
Aus einem von Hand ausgefüllten „Sicherstellungsprotokoll“ gehe hervor, so Broder, „dass die ‘Maßnahme‘ von Mitarbeitern der BPA Dachau durchgeführt wurde. BPA steht für Bereitschaftspolizeiabteilung. Als ‘Anlass/Grund‘ der Maßnahme steht da ‘Beleidigung‘, Beginn der Maßnahme sei 20.00 Uhr gewesen, Ende 20.05 Uhr, was schlicht nicht stimmen kann. Sichergestellt bzw. beschlagnahmt habe man ‘1 Kartonschild‘, das ‘in der Hand getragen‘ wurde. Name und Unterschrift des Beamten, der die Maßnahme protokolliert hat, sind unleserlich.“
Broder ließ nicht locker und rief bei der BPA in Dachau an. Die verweist ihn an den Pressesprecher der bayerischen Bereitschaftspolizei. Der wiederum verweist auf die Zuständigkeit der Münchner Polizei. Er werde die Anfrage an die zuständige Stelle weiterleiten. Der genannte „Ansprechpartner“ sagt, er leite die Mail an einen Kollegen weiter. Der antwortet: „Zu Ihrer Anfrage muss ich Ihnen mitteilen, dass wir keine Angaben zu dem Vorfall Ihnen gegenüber machen können. Ihre Anfrage tangiert die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten, als Polizei sind wir verpflichtet, diese zu schützen.“
Dazu Broder: „Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Beteiligten gehört wohl auch, dass vier Wochen nach dem „Vorfall“ weder Fabian P. noch sein Vater über den Stand der Ermittlungen informiert wurden.“
Der große Publizist zieht eine geniale Konsequenz: „Deswegen habe ich beschlossen, den Lauf der Dinge zu beschleunigen. Ich habe mich selbst angezeigt, wegen Beleidigung, Volksverhetzung und was da alles noch sein könnte. Wie schon gesagt, ich werde es nicht hinnehmen, dass ein 17-Jähriger für etwas büßen soll, für das ich verantwortlich bin.“
PS: Nach einer Weile habe ich meine Sprachlosigkeit überwunden und möchte zu dem Text noch einen DDR-Witz ergänzen. Volkspolizisten nehmen einen jungen Mann fest, der auf dem Alexanderplatz immer wieder „Dieser Scheiß-Staat“ schreit. Der Festgenommene entgegnet ihnen, er habe die Bundesrepublik gemeint. Der Ranghöchste unter den Volkspolizisten zieht sich eine Weile zurück. Dann kommt er wieder: „Sie bleiben festgenommen! Ich habe mit meinem Chef gesprochen, der sagte, die Beweislage ist eindeutig, es gibt nur einen Scheißstaat, und das ist die DDR!“
Bild: Lesekreis/Wikicommons/CC0 1.0Text: br