„Eins würde mich dann aber doch sehr interessieren, verzeihen Sie meine Neugierde: Halten Sie Putin für so verrückt, als dass er mit nuklearen Gefechtsfeldwaffen auch NATO-Staaten angreifen würde oder ist er rational und berechenbar und hat die Reaktion des Westens mit einkalkuliert?“
Diese Frage schrieb mir im privaten Chat ein Kollege, den ich sehr schätze. Ich versprach ihm, sie zu beantworten. In Form eines Artikels, weil die Antwort sicher viele interessieren wird. Voilà:
Ich halte Putin nicht für durchgeknallt. Aber ich halte ihn für stark losgelöst von der Realität. Zum einen, weil er faktisch seit 22 Jahren als Alleinherrscher an der Macht ist. Und ein zu langes Verbleiben an der Macht immer dazu führt, dass sich der Kontakt mit der Realität verengt. Ein kurzes Beispiel zur Veranschaulichung, das mir ein Kreml-Insider anvertraute. Wenn der Langschläfer Putin morgens nach dem Aufwachen seine ersten Runden in seinem privaten Schwimmbad gedreht hat, setzt er sich mit seinen Vertrauten zusammen und erläutert denen seine Sicht auf die aktuellen Ereignisse in Russland und der Welt. Die wiederum erteilen dann am Nachmittag ihre Anweisungen an die gesteuerten Medien. Und prompt hört Putin dann abends, wenn er das Fernsehen einschaltet, in den Nachrichten genau das, was er in der Früh selbst erzählt hatte. Und sagt sich: „Habe ich doch geahnt!“
Ähnlich verlief es auch mit dem Angriff auf die Ukraine. Putin war nach allem, was bekannt ist, überzeugt, zumindest im östlichen Landesteil leichtes Spiel zu haben. „Der dachte, in drei Tagen werden seine Panzer in Kiew mit Blumen beschmissen“, erzählte mir eine zuverlässige Quelle. Inzwischen gestand selbst Putins enger Vertrauter und Mann fürs Grobe, General Viktor Solotow, ein, dass es nicht so laufe wie geplant.
Was hat Putin bewegt, den Einmarschbefehl zu geben? Die Überzeugung, es werde ein leichter Sieg, der seine fallende Beliebtheit Zuhause wieder aufpoliert. Und die Überzeugung, der Westen werde nicht hart reagieren.
Wie kam er zu dieser Überzeugung? Zum einen, weil er sich wie viele Politiker nur noch mit Jasagern umgeben hat und alle Angst haben, ihn mit unangenehmen Realitäten zu konfrontieren. So wurde etwa ein großer Teil der vielen Milliarden Dollar, die er ins Militär steckte, durch Korruption abgezweigt. Hochmodern und bestens ausgerüstet war die Armee nur auf dem Papier – und in den Augen von Putin und vielen im Westen. Faktisch wird nun sichtbar, dass die Streitkräfte bis auf Eliteeinheiten in einem desolaten Zustand sind.
Der andere wesentliche Faktor: Nachdem ihm der Westen die Annexion der Krim durchgehen ließ ohne Sanktionen, die wirklich gefährlich waren, und auch sein Zündeln in der Ostukraine schluckte, ebenso wie vorher seinen Krieg in Georgien, die Ermordung seines Gegners Litwinenko mit radioaktivem Polonium mitten in London, den Abschuss einer Linienmaschine über der Ostukraine 2014 mit mehr als 300 Toten – nachdem all dies für ihn keine schwerwiegenden Folgen hatte, glaubte er, auch diesmal ohne erhebliche Bestrafung mit Landraub davonzukommen.
Die Ankündigung von US-Präsident Joe Biden, bei einer Invasion werde es Sanktionen geben, konnte nur von sehr naiven westlichen Beobachtern als Warnschuss ankommen. Für Putin war es das Signal, dass Washington grünes Licht gibt. Nur die Androhung eines militärischen Eingreifens der USA hätte ihn stoppen können. Dass Biden das vorab ausschloss, war eine Ermutigung zum Überfall. Selbst wenn er entschlossen war, nicht militärisch einzugreifen, hätte er das nie vorab offen sagen dürfen. Unter einem US-Präsident Ronald Reagan oder sogar Donald Trump hätte sich Putin nicht getraut, den Einmarschbefehl zu geben.
Aus Putins Sicht war der Einmarsch rational. Er will die Sowjetunion wiederherstellen. Daraus machte er nie einen sonderlichen Hehl. Nur im Westen wollte man eben nicht hinhören. So billig wie heute, so Putins Kalkulation, geht das kaum wieder. Solange im Westen die „Impotenten“ an der Macht sind – Kreml-Jargon für unsere Politiker – gibt es ein Fenster der historischen Chance für Russland, so Putins Überzeugung. Zumal er an die eigene Propaganda glaubt, dass in Kiew Faschisten an der Macht seien. Tatsächlich hat die Ukraine ein Problem mit Rechtsextremen (genauso wie Russland selbst). Das zu leugnen wäre ebenso absurd wie es der Propaganda-Vorwurf ist, die Regierung sei faschistisch. Nimmt man die klassische Definition des Faschismus (nicht Nationalsozialismus) aus dem Brockhaus, entdeckt man darin viele Ähnlichkeiten mit dem System Putin und kaum welche mit der Ukraine.
Bestärkt haben ihn dabei Komplizen im Westen. Auch ganz oben. Auch in Deutschland. Sie hätten Putin zu verstehen gegeben, dass er mit der Aktion in der Ukraine durchkomme ohne wirklich dramatische Folgen, so meine Quellen. Diese Komplizen hätten daran auch wirklich geglaubt, nur seien sie sicher gewesen, es würde schnell gehen und Putin die Welt vor vollendete Tatsachen stellen. Der Widerstand der Ukrainer hat diesen Komplizen einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Widerwillig müssen sie nach außen hin nun der Stimmung Tribut zollen und den Einmarsch verurteilen. Hinter den Kulissen versuchen sie, harte Schritte zu verhindern und die Ukraine zum Kapitulieren zu bewegen – auch in den Medien schüren sie entsprechende Stimmungen.
Wie geht es weiter nach dem Einmarsch-GAU?
Wladimir Putin verachtet Schwäche und setzt voll und ganz auf Stärke. Die Schwachen würden geschlagen, und nur die Starken geachtet, das sei seine wesentliche Lektion aus seiner „Straßenuniversität“, wie er seine Kindheit in den Hinterhöfen Leningrads einst bezeichnete. Dort herrschte Faustrecht. Dem hängt Putin immer noch nach. Entscheidend sei nicht, ob man Recht habe, sondern ob man stark genug sei, sich das Recht zu nehmen, sagte er einmal.
Einer wie er kann jetzt nicht zurückweichen. Er muss sein Gesicht wahren. Als „Starker“ aus der Situation herauskommen.
Deshalb wird er seine völlig überforderten Truppen zu immer brutalerem Vorgehen antreiben. Schon heute verstoßen seine Truppen gegen Kriegsrecht. Sie agieren ohne Rücksicht auf zivile Opfer. Plündern Geschäfte. Die angebliche „Befreiung des Brudervolkes“ wurde zum Massaker.
Deshalb ist auch nicht auszuschließen, dass er zu biologischen Waffen greift. Dass Menschenleben für ihn keine Rolle spielen – solange es nicht das eigene ist – hat er regelmäßig unter Beweis gestellt. Weil er unbedingt Stärke zeigen muss und nicht verlieren darf, wird er im Extremfall auch zu extremen Mitteln bereit sein.
Deutlich macht das eine Geschichte, die Putin selbst erzählte. Mit Stecken jagte er einmal in seinem alten Treppenhaus in Leningrad Ratten. Er war einmal einem besonders großen Exemplar auf den Fersen, und trieb es in eine Ecke. Da drehte sich das Tier plötzlich um – und attackierte den Angreifer. „Die Ratte verfolgte mich, sprang über die Stufen, aber ich war schneller, und schlug ihr die Tür vor die Nase zu.“ Damals habe er gelernt, was es bedeute, wenn jemand in die Ecke getrieben wird, erinnerte er sich Jahrzehnte später.
Putin ist heute in die Enge getrieben wie damals das Tier. In der eigenen Armee wächst der Unmut, in der Generalität herrscht teilweise blankes Entsetzen, selbst unter seinen Vertrauten herrscht eine Art Schock-Starre, wie es aus guten Quellen heißt. Putin ging so weit, zwei ranghohe Führer im Geheimdienst FSB unter Hausarrest zu stellen. Es brodelt im Kreml.
Wie weit wird Putin in dieser Situation unter diesem enormen Druck gehen? Ist eine Palastrevolte möglich? Und wie muss der Westen damit umgehen?
Seine bisherigen Drohungen mit dem Atomknopf halte ich für einen Bluff. Putin spürt die Schwäche und die Angst des Westens und nützt sie geschickt aus. Das bedeutet aber nicht, dass er im Extremfall nicht doch die Nerven verlieren könnte. Der einst eher nüchterne KGB-Mann hat sich ganz in die Rolle des Retters des vermeintlich erniedrigten und beleidigten Russlands hineingesteigert und sieht sich in historischer Mission. Ein Scheitern ist bei so einem Drehbuch nicht vorgesehen. Sollte es wirklich drohen, wäre auch ein Verlust der Nerven nicht auszuschließen. Laut Geheimdienstberichten hat die russische Armee vor Ort nur nur noch Nachschub und Munition für neun Tage. Sollte das stimmen, stünde Putin mit dem Rücken zur Wand und müsste zu immer noch brutaleren Methoden greifen. Deshalb ist auch nicht auszuschließen, dass er zu biologischen oder chemischen Waffen greift. Aber das wäre dann wohl weniger ein Verlust der Nerven als – aus seiner besonderen Sicht der Dinge heraus – nur die Ultima Ratio, also der einzige verbliebene Ausweg.
Eine Palastrevolte ist möglich, aber auch nicht sehr wahrscheinlich. Es wäre unseriös, hier eine Wahrscheinlichkeit anzugeben. Man weiß es nicht als Außenstehender.
Und die letzte Frage, die entscheidende: Wie muss der Westen mit Putin umgehen?
Leider habe ich kein Patentrezept. Wahrscheinlich wären hier auch eher Psychologen gefragt als Journalisten. Die oben geschilderten Beweggründe für Putins Angriffs-Entscheidung zeigen, was man früher hätte machen können. Doch dafür ist es nun zu spät.
Die Schlüsselfrage ist: Abschreckung oder Appeasement, also Zurückweichen.
Meine Überzeugung: Appeasement, also Zurückweichen, wird zu noch mehr Angriffen führen.
Putin wird nur dann davor zurückschrecken, Ziele in der NATO anzugreifen, wenn er überzeugt sein kann, dass diese sich erfolgreich wehren wird. Umfragen, nach denen etwa in Deutschland nur 18 Prozent der Menschen bereit wären, ihr Land zu verteidigen (in der Ukraine über 60 Prozent), sind für Putin geradezu eine Einladung.
Aktuell müsste man ihn überzeugen, dass man die Ukraine derart stark unterstützt und die Sanktionen derart heftig macht (kein Kauf von Öl und Gas mehr, mit dem er den Krieg finanziert, keine SWIFT-Schlupflöcher), dass er nicht gewinnen kann.
Das birgt natürlich die Gefahr, dass er die Nerven verliert, wie oben beschrieben.
Keine rosige Aussicht.
Nur – die Alternative ist noch schlimmer. Denn ein Zurückweichen jetzt würde ihn zu weiteren Angriffen geradezu ermutigen. Würde Putin die Ukraine erobern, würde er sich damit nicht zufriedengeben. Und der nächste Krieg würde noch gefährlicher.
Bild: Screenshot/Erster Kanal/Russland
Text: br
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